Oury Jalloh: Verstößt Staatsanwaltschaft gegen Ermittlungspflicht?

Arbeitskreis Kritischer Jurist_innen Halle fordert juristische Neubewertung und unabhängige Ermittlungen

von | veröffentlicht am 06.12 2017

Beitragsbild: Transit

Seit einem Bericht des ARD-Nachrichtenmagazins Monitor beschäftigt der Fall Oury Jalloh die bundesweiten Medien und wirft ein kritisches Licht auf die bisherigen Ermittlungen. Transit Magazin berichtete bereits ausführlich über die Hintergründe. Der hallesche Arbeitskreis Kritischer Jurist_innen bewertet in diesem Beitrag die juristischen Umstände der Einstellung der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Halle und sieht sie in einem Zusammenhang mit ähnlichen Fällen von Versagen von Justizbehörden bei Ermittlungen gegen sich selbst.




diesen Beitrag teilen

Ein Besuch der Website der Staatsanwaltschaft Halle mutet dieser Tage grotesk an. Ruft man die Pressemitteilungen auf, erscheint zunächst am rechten Bildschirmrand ein Logo des Landes Sachsen-Anhalt mit dem Slogan „Weltoffen Willkommen“. Zugleich fallen die zwei aktuellsten Pressemitteilungen ins Auge: „Ermittlungen im Fall Oury Jalloh eingestellt“ (12.10.2017) und „Einstellung der Ermittlungen wegen des Brandanschlags auf die geplante Asylbewerberunterkunft in Tröglitz am 4. April 2015“ (22.07.2017).

Die neuen Erkenntnisse im Fall Oury Jalloh durch das ARD-Nachrichtenmagazin Monitor vom 16 November 2017 [1] geben Anlass zu einer juristischen Neubewertung des Handelns der Staatsanwaltschaft Halle. Nachdem die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau bis Juni 2017 die Ermittlungen zum Fall Oury Jalloh führte, wurden ihr diese von der Generalanwaltschaft Sachsen-Anhalt entzogen und der Staatsanwaltschaft Halle übertragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründete dies mit personeller Überlastung und laufenden Ermittlungen in einem anderen Fall. Außerdem habe man die eigenen Kollegen in Dessau nicht gegeneinander ermitteln lassen wollen. In dieser Lage habe sich die Staatsanwalt Halle angedient, den Fall zu übernehmen. Nach nicht einmal acht Wochen jedoch stellte diese das Ermittlungsverfahren ein[2]

Gutachten lassen starke Zweifel an der Version der Behörden aufkommen

Aus juristischer Sicht stellt sich hierzu die Frage, ob die Staatsanwaltschaft Halle mit Blick auf diese Einstellung dem Legalitätsprinzip der Strafprozessordnung (Paragraph 152 Absatz 2) in hinreichendem Maße nachkommt. Das Legalitätsprinzip konstatiert eine Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft in Strafsachen, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen. Diese sind gegeben, wenn die Möglichkeit einer strafbaren Handlung vorliegt. Neue Ergebnisse dreier von der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau in Auftrag gegebener Gutachten aus den Bereichen Medizin, Brandschutz und Chemie kommen einheitlich zu dem Ergebnis, dass ein Tod Jallohs durch Fremdeinwirkung wahrscheinlich ist.

Es sind nicht die ersten Gutachten, die die offizielle Version der Behörden infrage stellen. Bereits der für den Prozess beauftragte Brandgutachter gab in einer Pressemitteilung an, dass er ausdrücklich den Auftrag erhalten habe, nur einen solchen Tathergang nachzustellen, in welchem sich Jalloh selbst angezündet habe. Das Ausmaß der Verbrennungen, so wie sie bei Jalloh vorlagen, konnte sich der Brandgutachter mit einem solchen Vorgang freilich nicht erklären[3] Ihre Pflicht, nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln (Paragraph 160 Absatz 2 der Strafprozessordnung), hat die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau mit dieser Weisung wohl außerordentlich ernst genommen. Dabei hat sie jedoch scheinbar vergessen, auch die zu einer Belastung führenden Umstände zu ermitteln, bzw. einfach objektiv und ergebnisoffen zu verfahren, wie es die Strafprozessordnung vorsieht.

Auch ein von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh veranlasstes Brandgutachten kam im Jahr 2013 zu dem Ergebnis, dass die Dimension der Verbrennungen unter Berücksichtigung der brandhemmenden Materialien nur unter der Hinzugabe von Brandbeschleunigern hätte herbeigeführt werden können. [4]

Dies alles entkräftet die staatlicherseits vertretene Theorie, Jalloh habe sich selbst angezündet. Selbst der bis Sommer 2017 mit den Ermittlungen betraute Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann, ein langjähriger Verfechter der „Selbstanzündungstheorie“, geht nach den neuesten chemisch-technischen Untersuchungen von einem begründeten Mordverdacht aus und benennt in einem Aktenvermerk im April 2017 sogar konkrete Tatverdächtige aus den Reihen der Polizei. Die erforderlichen tatsächlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer strafbaren Handlung sind spätestens damit gegeben. Folglich wäre die seit Juni 2017 zuständige Staatsanwaltschaft Halle dazu angehalten, ein Ermittlungsverfahren zu betreiben. Stattdessen stellt sie das Ermittlungsverfahren im Oktober 2017 ein. Ihre Begründung, eine Selbstentzündung könne nicht ausgeschlossen werden [5] und es gebe darüber hinaus „keine neuen Erkenntnisse“ [6], erscheinen vor dem Hintergrund der Gutachten absurd. Die Konsequenz aus dieser Begründung wäre, dass bei jedem unnatürlichen Tod, bei dem ein Suizid nicht ausgeschlossen werden kann, die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln würde – noch nicht einmal dann, wenn ein Mord naheliegt.

Verdunkelungsgefahr in Sachsen-Anhalt

Die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens trotz vorliegender tatsächlicher Anhaltspunkte ist zwar nach dem Opportunitätsprinzip durchaus möglich. Dieses bildet jedoch eine enge Ausnahme des Legalitätsprinzips und wird in den Paragraphen 170 Absatz 2 und 153 ff. der Strafprozessordnung konkretisiert. Anwendung finden diese Ausnahmen jedoch lediglich bei Vergehen, bei denen von einer geringen Schuld auszugehen ist oder kein öffentliches Interesse an der Verfolgung der Straftat besteht. Diese Ausnahmetatbestände liegen hier offensichtlich nicht vor. Vielmehr könnte es sich vorliegend um einen Mord handeln, d. h. um ein Verbrechen (nach §§ 211, 12 StGB). Wenn jemand unter zweifelhaften Umständen in Polizeigewahrsam auf furchtbare Weise zu Tode kommt, dies sogar zum wiederholten Male unter der Aufsicht desselben Dienstgruppenleiters, [7] und darüber hinaus eine rassistische Motivation nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, liegt ein öffentliches Interesse an der Aufklärung dieses Verbrechens auf der Hand. Von einem Anwendungsfall des Opportunitätsprinzips kann hier also keine Rede sein, sodass es bei den Legalitätsgrundsätzen bleibt. Die Staatsanwaltschaft Halle verstößt somit gegen ihre Ermittlungspflicht.


Die Staatsanwaltschaft Halle verstößt gegen ihre Ermittlungspflicht.


Es ist für uns unverständlich, warum die Staatsanwaltschaft Halle vor diesem Hintergrund die Ermittlungen eingestellt hat. Die Einstellung hinterlässt in jedem Fall viele offene Fragen. Henriette Quade (DIE LINKE), Landtagsabgeordnete in Sachsen-Anhalt und Innenexpertin, hegt daher den Verdacht, dass Hinterbliebene, Parlament und Öffentlichkeit durch die Staatsanwaltschaft Halle belogen worden seien. Die Anwältin Beate Böhler, die den Vater Jallohs vertritt, vermutet, dass die Einstellung aus „Opportunitätserwägungen“ erfolgte, anstatt aufgrund eigener Ermittlungserkenntnisse[8]

Im Angesicht der Ermittlungspraxis des Landes Sachsen-Anhalt wäre es geboten, die Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft zu übertragen. Die Verdunkelungsgefahr im Land Sachsen-Anhalt erfordert die Zuständigkeit einer unabhängigen und überregionalen Stelle. Gerade die besondere Bedeutung des Falles, der von zahlreichen ermittlungstechnischen Ungereimtheiten umgeben ist und seit über einem Jahrzehnt die kritische Öffentlichkeit beschäftigt, sowie der begründete Verdacht, dass hier ein Mord vorliegt, gebieten dies (vgl. § 120 Abs. 2 GVG).

Reihe von Verfehlungen staatlicher Ermittlungsbehörden

Insgesamt reihen sich die Widersprüche um den angeblichen Suizid Oury Jallohs und die damit einhergehenden Ermittlungen in eine Reihe von Verfehlungen staatlicher Ermittlungsbehörden ein. Seit Jahren wird eine unabhängige Instanz bei Ermittlungen gegen Polizeibeamt*innen gefordert. Erneuert wurde dies jüngst mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (09.11.17, Az.47274/15). Schon zuvor mehrten sich Stimmen [9], welche die Bundesrepublik dazu aufforderten, eine solche Stelle einzurichten, da ein rechtsstaatliches Verfahren unter den derzeit gegebenen Umständen nicht gewährleistet werden könne. Interessant ist dies auch vor dem Hintergrund, dass die Staatsanwaltschaft Halle die Ermittlungen in diesem Fall übertragen bekommen hat, da „Dessauer Beamte nicht gegen andere Beamte aus Dessau ermitteln sollten“. Insofern wäre die Einrichtung einer unabhängigen Stelle oder eines Sonderermittlers auch im Sinne der Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg.

Natürlich darf sich dies nicht lediglich auf den Fall Oury Jalloh beschränken. Ziel muss es sein, eine solche Instanz langfristig zu schaffen. Als Vorbild könnte dabei das österreichische System dienen. Daneben gibt es ebenfalls viele verschiedene nicht-staatliche Akteure (Humanistische Union, Amnesty International, Grundrechtekommittee), die Konzepte erarbeitet haben, die in eine ähnliche Richtung weisen. Nun liegt es am politischen Willen der Verantwortlichen, die Urteile und Empfehlungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der Vereinten Nationen und anderweitiger Akteure umzusetzen und ein solches System in Deutschland zu etablieren.


[1] https://www.mdr.de/nachrichten/politik/regional/oury-jalloh-leitende-ermittler-zweifeln-an-selbstanzuendung-100.html (Aufgerufen am 29.11.2017).

[2] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/oury-jalloh-warum-die-ermittler-zu-unterschiedlichen-ergebnissen-kommen-a-1178351.html (Aufgerufen am 29.11.2017).

[3] http://www.taz.de/!5103572/ (Aufgerufen am 29.11.2017).

[4] https://initiativeouryjalloh.files.wordpress.com/2013/11/report-full-matt-test-petrol.pdf (Aufgerufen am 29.11.2017).

[5] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/oury-jalloh-warum-die-ermittler-zu-unterschiedlichen-ergebnissen-kommen-a-1178351.html (Aufgerufen am 29.11.2017).

[6] http://www.presse.sachsen-anhalt.de/index.php?cmd=get&id=887297&identifier=692c4dc3227558b23e7c4d64fd7a69de (Aufgerufen am 29.11.2017).

[7] wenige Jahre vor Jallohs Tod starb ein Obdachloser unter der Aufsicht desselben Dienstgruppenleiters an einer Schädelfraktur in Polizeigewahrsam (BGH NJW 2015, 96, 97).

[8] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/oury-jalloh-warum-die-ermittler-zu-unterschiedlichen-ergebnissen-kommen-a-1178351.html (Aufgerufen am 29.11.2017).

[9] Bericht von AI – “Täter unbekannt – Mangelnde Aufklärung von Misshandlung durch die Polizei in Deutschland”, S.113ff; so auch der ehemalige Menschenrechtskommissar des Europarates Thomas Hammarberg an den Bundesminister des Innern, CommHR/LH/sf201-2010