NSU-Prozess: Den bitteren Beigeschmack wird man nicht los

Ein Kommentar zum Gedenken in Halle und den Umgang mit der Aufklärung

von | veröffentlicht am 12.07 2018

Beitragsbild: Transit | CC-BY-NC 2.0

Am Tag, an dem der NSU-Prozess sein Ende fand, gingen in Deutschland viele Menschen auf die Straße um der Forderung Ausdruck zu verleihen, nun keinen Schlussstrich unter den NSU-Komplex zu ziehen. Unser Kommentar schaut auf die nächtliche Demonstration in Halle sowie die Hilflosigkeit, die sich angesichts der fehlenden gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen und der eigenen Schwäche in der antifaschistischen Linken breitmacht.




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Man muss sich an den kleinen Erfolgen festhalten. Diese Binsenweisheit gilt wahrscheinlich in einer Zeit multipler gesellschaftlicher Krisen umso mehr. Die gestrige Demonstration in Halle, die unter dem Motto „Kein Schlussstrich“ über 700 Leute mobilisieren konnte, war so ein kleiner Erfolg. Dass zu diesem Anlass weitaus mehr Menschen zusammengekommen waren als „die üblichen Verdächtigen“, ist nicht nur der bundesweiten Aufmerksamkeit für den Richterspruch im NSU-Prozess zu verdanken, sondern vor allem der hervorragenden Arbeit der Gruppe „NSU-Komplex auflösen Halle“. Die Gruppe hat das Thema in Halle zunächst wieder auf den Tisch geholt und seitdem präsent gehalten.

Gestern fand nicht einfach nur eine weitere „Latschdemo“ statt, sondern ein würdiges Gedenken, bei dem die Betroffenen mit ihren Erfahrungen und Bedürfnissen zu Wort kamen. Die Organisator_innen bedienten sich bei der Kritik des Rassismus eines einfachen Mittels: Statt gegenseitigem Schulterklopfen für die eigene, korrekte Haltung wurden Audioaufnahmen und Videos abgespielt, wurden Zitate verlesen, die die Perspektive der Opfer und Angehörigen widerspiegeln. Am Ende wurde ein Untersuchungsausschuss gefordert, der die Verbindungen des NSU nach Sachsen-Anhalt aufdecken soll. Angesichts diverser ungeklärter Fragen – Warum ging Zschäpe in Halle zum Zahnarzt? Welche Rolle spielte die hiesige Sektion des Blood & Honour-Netzwerks? Ist Corelli wirklich keine Landesfrage, nur weil er V-Mann für das Bundesamt war? – eine wichtige Erinnerung daran, dass militante Neonazis nicht einfach an bestimmten Landesgrenzen Halt machen.

Aber den bitteren Beigeschmack wird man nicht los. Zwar demonstrierten über 700 Menschen für würdiges Gedenken und restlose Aufklärung, aber vor welchem Scherbenhaufen stehen wir – als Linke, als Gesellschaft – eigentlich? Wie hilflos wirken die Forderungen im Angesicht der Erkenntnis, dass eine jahrelange rassistische Mordserie unter Aufsicht der Behörden möglich ist und dies kaum nachhaltige gesellschaftliche und institutionelle Veränderungen in Deutschland hervorbringt?

Es gab eine Phase, ungefähr die ersten zwei bis drei Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, als wirkliche Konsequenzen möglich schienen. Als nach und nach etliche Details des behördlichen Agierens bekannt und skandalisiert wurden, entstand eine gesellschaftliche Stimmung, die äußerst kritisch gegenüber dem Verfassungsschutz war. Einige Personen mussten ihr Amt aufgeben – darunter der Chef des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt. Untersuchungsausschüsse thematisierten institutionellen Rassismus. Medien versuchten ihre eigene Berichterstattung zu reflektieren, nicht nur im Falle der Ceska-Mordserie, sondern auch zu den rassistischen Mobilisierungen Anfang der 1990er Jahre.

Denn eine gewisse Ironie hatte es ja, dass die Selbstaufdeckung in den Zeitraum fiel, als die zwanzigsten Jahrestage der pogromartigen Anschläge in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen öffentlich thematisiert wurden. Der NSU hatte seine Wurzeln in der rassistischen Bewegung, die damals entstand.

Antifaschistische Linke arbeiteten nach der Selbstenttarnung Tag und Nacht, recherchierten, trugen Ergebnisse zusammen und brachten etliches über das Netzwerk des NSU zutage. Es war dies nicht nur eine antifaschistische Pflichtaufgabe, sondern der Versuch ein eigenes Versäumnis aufzuholen, denn die Geschichte des NSU ist auch eine Geschichte des Versagens der antifaschistischen Linken. Weder hat die Recherche-Gemeinde alle Puzzleteile, die schon damals bekannt waren, zusammenzählen können, noch hat ein Mensch in der weißen radikalen Linken – jedenfalls nicht öffentlich wahrnehmbar – die Stimmen der Opfer-Angehörigen ernsthaft gehört. Eine selbstkritische Linke fragte sich, warum sie von den Folgen der rassistischen Bewegung Anfang der 90er das Wichtigste nicht mitbekommen hatte.

Und was ist jetzt? Der Verfassungsschutz hat so viele Handlungsspielräume und finanzielle Möglichkeiten wie nie, Racial Profiling ist Alltag, (vermeintliche) Herkunft von Tatverdächtigen ist ein Standarddetail in der Berichterstattung – auch wenn es keine weitere Erkenntnis zur Tat beiträgt. Menschen müssen sich dafür rechtfertigen, wenn sie Geflüchteten helfen. Der Innenminister schickt Menschen in den Tod und macht sich einen Spaß daraus, im Mittelmeer ertrinken jede Woche Hunderte und wenn sie es bis dahin nicht schaffen, dann werden sie auf Sklavenmärkten verkauft. In diesem Land, das sich so gerne damit brüstet aus der Vergangenheit zu lernen, bleibt der große gesellschaftliche Aufschrei dazu aber aus.

Niemand sollte denken, der gestrige Tag hätte sieben Jahre gesellschaftliche Aufarbeitung abschließen können. Darum geht es der Kampagne: Der Gerichtsprozess belichtet weder ausreichend das Unterstützungsnetzwerk des NSU noch klärt er die Rolle der Verfassungsschutzbehörden auf. Das ist so klar, wie erwartbar, wie traurig. Der Ball liegt bei denjenigen, die zu gesellschaftlichem und institutionellem Rassismus nicht schweigen. In Halle waren das gestern überraschend Viele. Ein Zitat, das während der Demo verlesen wurde, könnte dafür handlungsleitend sein:

„Eine antifaschistische Linke sollte sich daran erinnern, dass sie eine Verantwortung für die gesellschaftlichen Zustände hat und auch entsprechend verantwortlich handeln muss. Ich vermisse die Sensibilität, die Antifaschist_innen in den 1980er und 1990ern gezeigt haben, als wir gemeinsam gehandelt und nicht darauf gewartet haben, dass andere die Initiative ergreifen. Wir haben Andockmöglichkeiten für ganz unterschiedliche Menschen geschaffen, weil wir offen auf sie zugegangen sind und mit ihnen diskutiert haben.“ (1)

 

 

(1) „Das Schweigen ist ein Schock.“ in: Antifaschistisches Info-Blatt #94, abrufbar unter: https://www.nsu-watch.info/2012/04/das-schweigen-ist-ein-schock/

Alle Bilder unter CC BY-NC 2.0-Lizenz verwendbar unter Nennung von Transit Magazin als Urheber.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

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