Kein Schlussstrich in Halle
An Tag X wird in München das Urteil gegen die wenigen Angeklagten des sogenannten NSU verkündet
Unter dem Motto „Kein Schlussstrich“ mobilisieren aktuell bundesweit Gruppen zu einer großen antifaschistischen Demo und verschiedenen Aktionen nach München. Die lokale Gruppe „NSU-Komplex Auflösen Halle“ unterstützt den Aufruf und wird zu einer gemeinsamen Anreise mit Gruppen aus Leipzig mobilisieren. Dennoch wird es auch in Halle eine Aktion geben, und zwar nicht nur um Daheimgebliebenen die Möglichkeit zu geben ihre Empörung und Solidarität auf die Straße zu tragen, sondern weil es wichtig ist.
Vor etwa einem Monat, am 7. März, hat man in Dresden einen Vorgeschmack darauf bekommen, was einige Prozessbeobachter*innen auch für den NSU-Prozess in München vorhersagen. Der deutsche Rechtsstaat hat gegen eine rechte Terrorzelle hart durchgegriffen. Es soll ein klares Signal an die gewaltbereite rechte Szene gehen. Das Oberlandesgericht Dresden hat beinah die geforderten Haftstrafen der Staatsanwaltschaft gegen die Neonazis der Terror-„Gruppe Freital“ erlassen. In München halten es viele für wahrscheinlich, dass Beate Zschäpe lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung kassiert und die anderen ungeständigen Angeklagten, Ralf Wohlleben, Carsten Schultze und André Emminger ebenfalls hart verurteilt werden. Das ist auch das einzig richtige.
Nur scheint es in Freital sowohl der Bundesstaatsanwaltschaft, als auch der Presse leicht zu fallen, die Taten der terroristischen Neonazis in ein rassistisches gesellschaftliches Umfeld einzubetten und neben den Hauptangeklagten auch noch gegen 10 weitere Unterstützer*innen zu ermitteln. Wohingegen in München auch im 5. Prozessjahr die Bundesstaatsanwaltschaft immer noch keinen Anlass sieht von ihrer isoliertes-Trio-mit-wenigen-Unterstützer*innen-These abzurücken. Die Schlussplädoyers der Nebenklage-Anwält*innen haben noch einmal insistiert das gesellschaftliche und behördliche Umfeld des Kerntrios nicht außer Acht zu lassen, sondern sie als Nährboden und als Teil des NSU-Komplex zu begreifen. Sie haben dargelegt, welche Rolle staatliche Behörden bei der Entstehung und Unterstützung des NSU gespielt haben, stießen aber auf einen offensichtlichen Unwillen, das Versprechen einer „vollständigen Aufklärung“ nicht zu einer hohlen Phrase verkommen zu lassen. Da die Appelle der Nebenkläger*innen, auch das behördliche Umfeld des NSU in die Anklage miteinzubeziehen kein Gehör fanden, haben Angehörige der Opfer und zahlreiche Unterstützer*innen ihre eigene Anklage formuliert und diese im „Tribunal NSU Komplex auflösen“ zum Ausdruck gebracht.
Das Tribunal, das zum ersten Mal vom 17. – 21. Mai 2017 in Köln stattfand, formulierte neben der Anklageschrift auch einen Katalog an Forderungen, die an die deutsche Gesellschaft und deren staatliche Repräsentant*innen gerichtet sind. Unter anderem wird das Ende des Quellenschutzes sowie die Abschaffung des V-Leute-Systems und des gesamten Verfassungsschutzes gefordert. Außerdem wenden sich die Verfasser*innen u.a. gegen Racial Profiling, die Verharmlosung von Rechtem Terror, deutsche Abschiebepolitik, die Verweigerung selbstbestimmter Gedenkorte und fordern Solidarität mit den Betroffenen rassistischer Gewalt. Mit diesen Forderungen machen die Verfasser*innen deutlich, dass sie den NSU-Komplex als ein gesellschaftliches, politisches und behördliches Gesamtgeflecht verstehen, das sich weit über die 10 Tatorte hinaus erstreckt. Die Verantwortlichen die den Weg für das mordende Trio geebnet haben, sind nicht allein auf der Anklagebank im Gerichtssaal des OLG München zu finden. Sie sitzen nach wie vor in führenden Politikpositionen, sind angestellt bei Polizei und Verfassungsschutzämtern, und sind generell überall in der Gesellschaft zu finden. Es sind nicht nur Neo-Nazis und besorgte Bürger*innen selbst, sondern auch die, die mit ihnen „reden“ wollen und somit Raum und Gehör für ihren Hass bieten. Es sind nicht nur rassistische Polizist*innen und Verfassungsschützer*innen selbst, sondern auch diejenigen, die an ihre Lügen glauben und einer Aufklärung entgegenstehen. Es sind all diejenigen, die schweigen und wegschauen, wenn vermeintlich Nicht-deutsche verdächtigt, kriminalisiert, eingesperrt, beleidigt, angegriffen und ermordet werden. Und von all diesen Verantwortlichen gibt es in der gesamten Republik und auch in Halle jede Menge.
Aus diesem Grund werden wir unsere Anklage und unsere Solidarität am Tag der Urteilsverkündung nicht nur in München kundtun, sondern auch auf den halleschen Straßen, auf denen tagtäglich Migrant*innen rassistisch beschimpft, angegriffen und kontrolliert werden. Ebenso wenig wie der Münchner Gerichtssaal genügend Platz auf seiner Anklagebank für alle Mitschuldigen im NSU-Komplex hat, haben Münchens Straßen genug Platz für unsere Wut und Solidarität. Wir stellen uns überall dort gegen neonazistischen, bürgerlichen und institutionellen Rassismus wo er zu Tage tritt und deshalb werden wir an Tag X in Halle sein. Schließt euch an!