Halle: Was jetzt zählt

Es ist nachvollziehbar sich über die Rechten aufzuregen, aber es gibt jetzt wichtigeres.

von | veröffentlicht am 11.10 2019

Beitragsbild: Transit




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Als mir am 9. Oktober kurz vor ein Uhr eine Kollegin mitteilte, dass jemand durch das Paulusviertel läuft und auf Menschen schießt, habe ich nicht über das Motiv dieser Person nachgedacht. Ich habe gedacht, ich muss meine Freunde warnen.

Nachdem ich das getan hatte, habe ich über unseren Twitter-Account die Nachricht der Städtischen Zeitung verbreitet, die dazu aufrief, sich Schutz zu suchen – und hinterher geschoben, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Sinn macht, sich an Spekulationen zu beteiligen oder Gerüchte ungeprüft weiter zu verbreiten.

Die Lage war unübersichtlich und furchteinflößend. Niemand, weder die Polizei noch die Augenzeugen, deren Sprachnachrichten sich schnell über Chatgruppen verteilten, konnten einschätzen, was gegenwärtig passierte. Das liegt nicht nur daran, dass lediglich eine begrenzte Anzahl an Menschen die Taten aus eigenen Augen gesehen hatte. Es ist auch so, dass das menschliche Hirn Erinnerungen zum Teil falsch oder gar nicht abspeichert – insbesondere in Stresssituationen. Das – und natürlich auch bewusstes Lügen – führt dazu, dass im Nachgang solcher Ereignisse in der Regel Aussagen von Zeugen auftauchen, die sich widersprechen.

Hinzu kommt im Zeitalter der ungeprüften Informationsweitergabe, dass Aussagen beim Weiterverbreiten auch verändert werden. Aus „Im Paulusviertel fallen Schüsse“ kann schnell „Im Paulusviertel ballert irgendwer um sich“ werden. Daraus kann dann werden „Irgendwelche Leuten rennen durchs Paulusviertel und knallen Leute ab.“ Und schon wird über mehrere Täter gesprochen – was nicht mal böse Absicht sein muss.

Warum schreibe ich das auf? Ich denke, dass am Mittwochnachmittag – die Ereignisse in Halle liefen noch – genau drei Botschaften legitim waren:
1. Bringt euch in Sicherheit!
2. Trauer und Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen.
3. Aus Respekt vor den Opfern und der Arbeit der Sicherheitsbehörden: Haltet euch zurück!

Was passierte, war jedoch ein Spekulationsgewitter im Social Media. Leute, die hunderte Kilometer weiter weg wohnen, wollten plötzlich darüber urteilen können, was gegenwärtig in Halle passiert. Ein Account antwortete auf unseren Tweet, wir würden wohl den Leuten das „selbst denken“ verbieten wollen. Ein anderer schrieb, wir würden wohl etwas verschleiern wollen, „die Antifa“ wüsste wohl mehr und wolle jetzt nicht, dass herauskommt wer „wirklich“ hinter den Schüssen stecke.

Es erübrigt sich eigentlich zu sagen, aus welcher Filterblase diese Accounts stammen, die da plötzlich auftauchten. Twitter war voll von solchen Botschaften und ich war erstaunt darüber, dass mich das so erstaunen ließ, schließlich ist das die übliche Begleitmusik zu solchen Großereignislagen. Je schneller das Medium, umso ungebremster der Geltungsdrang.

Allein, es ist etwas anderes, wenn man mittendrin sitzt. Die Absurdität dieses Kommentierens aus dem Off lässt sich vielleicht erahnen, wenn man sich die Gleichzeitigkeit vergegenwärtigt: Im Paulusviertel werden Menschen erschossen, vielleicht rennen andere gerade um ihr Leben, vielleicht sind Freunde von mir unter den Betroffenen oder sitzen in ihren Wohnungen und haben Angst.

Aber du fühlst es nur, wenn es deine Stadt ist.

Und irgendein Dulli tippt am anderen Ende der Republik ins Handy, dass Merkel zu viele „Goldstücke“ ins Land gelassen habe. Hashtag Halle.

Ich sage es in einfachen Worten: Rechte haben nicht nur ein Menschenbild, dass gruppenbezogene Abwertungen vornimmt. Die meisten von Ihnen besitzen auch nicht den Funken Anstand, in Extremsituationen ihren Rand zu halten.

Dieses Problem setzt sich darin fort, dass mittlerweile einige der Wortgewandteren unter ihnen damit begonnen haben, im Nachgang ihre eigenen Deutungen, verpackt als „Analysen“, in die Welt zu setzen. Ich will nicht sagen, dass sie das nicht tun sollten – es ist ja ihre Entscheidung, dem nicht abgestumpften Teil der Bevölkerung ihre Absurdität vorzuführen.

Doch wir – als Linke, als Antifaschist*innen, als Demokrat*innen – sollten uns vergegenwärtigen: Nazis tun Nazidinge. Das heißt, egal ob sie nun ganz klassisch mit Seitenscheitel daherkommen, ob sie auf Kasernenhof und Lederstiefel stehen, Deutschland-Anglerhütchen bevorzugen oder ob sie faschistische Dandys des vergangenen Jahrhunderts auf ihren heutigen Gehalt abklopfen, sie verfolgen das Ziel den rechten Terror zu entpolitisieren, zu verharmlosen und zu externalisieren. Ob sie die Schuld an den Taten dann dem Liberalismus, den Abgründen des Gamertums, der psychischen Labilität des Angreifers oder im Zweifelsfall auch „Mutti“ und den „Multikultis“ in die Schuhe schieben, ist irrelevant.

Was im Moment zählt, ist nicht die Empörung über den politischen Gegner – dafür wird immer wieder Zeit und Anlass sein – was im Moment zählt, ist die Solidarität mit denjenigen, die potenziell und tatsächlich vom rechten Terror betroffen sind, sowie der Zusammenhalt aller Menschen, die gemeinsam solidarisch leben wollen. Hierauf sollten wir unsere Energie verwenden.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

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