Bekommt Halle ein Freiraum-Konzept?

Ein wahlkämpfender Oberbürgermeister, eine gehörige Portion Hausbesetzung und ein angedeutetes Freiraum-Konzept bei „Bernd, Buch & Bürger“

von | veröffentlicht am 14.05 2018

Beitragsbild: Transit

Auf einer Veranstaltung im neuen Literaturhaus in Halle kamen Oberbürgermeister Bernd Wiegand, Buchautorin Barbara Sichtermann und ein Querschnitt des halleschen Bürgertums zusammen um über Geschichte und Funktion von Hausbesetzungen zu diskutieren.




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Die Empörung der CDU-Stadtratsfraktion, pardon, CDU/FDP-Fraktion, war vorprogrammiert. Da lädt ein amtierender Oberbürgermeister zu einem Gespräch über die Geschichte der Hausbesetzungen in der deutschen Nachkriegszeit ein und will dabei Parallelen zur Gegenwart ziehen, in einer Stadt, die gerade zwei Jahre Hausbesetzungs-Diskurs hinter sich hat. Da darf eine rechtsstaatliche offensive Intervention nicht ausbleiben. Weniger erwartbar war, dass im Literaturhaus zum zweiten Teil der Bernd-Wiegand-Wahlkampf-Reihe „Bernd, Buch & Bürger“ mit der Publizistin Barbara Sichtermann durchgehend positiv, ja romantisierend über Hausbesetzungen damals und heute gesprochen wurde.

Die Veranstaltung startete mit einem kleinen Gänsehautmoment: „Die Spur der Verzweiflung wird der Wind verwehen“ – musikalische Einstimmung mit dem Lied „Land in Sicht“ der Band „Ton Steine Scherben“, mit der Frau Sichtermann quasi verwandtschaftlich verbunden ist. Die Autorin des Buches „Das ist unser Haus. Eine Geschichte der Hausbesetzung“ entführt das Publikum sogleich in die 70er Jahre – „als die Revolution nicht stattfand“. Eine neue Generation schickte sich an, „die Städte mit viel Fantasie zu erobern“. Und das war mitunter durchaus wörtlich gemeint.

Denn für viele sei es damals tatsächlich darum gegangen, die Enttäuschung über die Ergebnisse der 68er Jahre hinter sich zu lassen und neue Kraft in die Friedensbewegung, die Frauenbewegung oder die Anti-AKW-Bewegung zu stecken – oder eben in die Hausbesetzungsbewegung, von der Barbara Sichtermann viel zu berichten weiß. Objektiv habe es in der Bundesrepublik zu jenen Zeiten einen enormen Leerstand gegeben bei gleichzeitiger Wohnungsnot. Schriftliche Gesuche und friedliche Proteste hätten daran nichts ändern können. Deshalb hätten sich in den 70er- und 80er-Jahren Gruppen gebildet zur gezielten Besetzung von Häusern, die eigentlich zum Abriss freigegeben gewesen seien.


„Wir brauchten Platz und der war da.“


Subjektiv habe es verschiedenste Motive für die Besetzung leerstehender Häuser gegeben: ein fehlendes festes Dach über’m Kopf, zu hohe Mieten, zu wenig Geld als Studi, von Zuhause weg wollen… Und vor dem Hintergrund der Zeit nach dem großen Aufbruch von ’68 sei es auch gegen die Legalität des Rechts auf Eigentum gegangen. „Heute sind wir alle brav“, so das Zwischenfazit der Autorin nach dieser kleinen Einführung – das Stichwort für einen anwesenden Vertreter der Hasi, dem Hausprojekt in der Hafenstraße 7, darauf hinzuweisen, dass heute zumindest nicht alle brav sind: „Wir brauchten Platz und der war da“, begrüßte er nach kurzer Anmoderation von Bernd Wiegand das mit Applaus zurückgrüßende Publikum. Nette Inszenierung, entspannte Stimmung. So schön kann Wahlkampf sein.

„Aus eigenem Recht“

Der passende Zeitpunkt um zu fragen, wer denn damals so auf die Idee gekommen war, Häuser zu besetzen. Vor allem junge Menschen seien das gewesen, „die noch nicht entschieden waren mit ihrer Kritik an der Gesellschaft“, Wohnungslose, Künstler*innen, Menschen auf der Suche nach Freiräumen. Wobei da zu unterscheiden gewesen sei zwischen jenen, die besetzten um zu wohnen, und denen, die in besetzten Häusern unabhängig vom Staat selbstverwaltete Projekte starten wollten – nach dem Motto „wir schmeißen diesen Laden selbst“. Gemeinschaften gegen die Vereinzelung seien da entstanden, mit gemeinsamen Kassen und regelmäßigen Plenen, auf denen politische Strategien, der Umgang mit den Medien oder die Akquise von Fördergeldern verhandelt worden seien. Der Hasi dürfte das bekannt vorkommen. Bernd Wiegand spricht anerkennend von einem „kleinen Stadtrat im besetzten Haus“.

Dass dieser Vergleich nicht gänzlich unpassend ist, wird von Frau Sichtermann mit dem Hinweis verdeutlicht, dass sich auch in diesen eigentlich egalitär angedachten Projekten meistens dann doch Hierarchien herausgebildet hätten mit Anführern auf der einen Seite und Menschen, die nie zu Wort gekommen seien, auf der anderen. Deshalb seien dann Strukturen entwickelt worden, die solche Hierarchien wieder abbauen sollten. Die Hasi weiß dazu zu berichten, dass Entscheidungen im Hasi-Plenum immer einen Konsens benötigen. Das brauche Zeit. Die Mitteldeutsche Zeitung könnte davon ein Liedchen singen, hatte sie doch auf dem Höhepunkt der öffentlichen Hasi-Debatte wiederholt aussagekräftige Statements binnen weniger Stunden vom Soziokulturellen Zentrum eingefordert – vergeblich.


Oder das besetzte Haus bleibe als „Sphäre der Anarchie“ über lange Zeit bestehen. Wie die Rote Flora in Hamburg zum Beispiel. Und dann doch: „Die Flora aus eigenem Recht – läuft ja!“ Kein Widerspruch.


Man hätte an dieser Stelle ganz gut anfügen können, dass sich hier im kleinen gesellschaftlichen Kosmos eine Art neues, informelles Recht zu etablieren schien – doch nach einem kurzen Exkurs ins Alkohol- und Drogenleben des ein oder anderen Hausprojektes kommt dann doch die Frage, ob ein besetztes Haus nicht ein rechtsfreier Raum sei. „Ja, zunächst schon“, so die – zunächst – nüchterne Antwort von Frau Sichtermann. Doch es gebe ja die Duldung bis hin zur Legalisierung. Oder das besetzte Haus bleibe als „Sphäre der Anarchie“ über lange Zeit bestehen. Wie die Rote Flora in Hamburg zum Beispiel. Und dann doch: „Die Flora aus eigenem Recht – läuft ja!“ Kein Widerspruch.

Stattdessen ein kurzer Exkurs zur Frage der Gewalt, der mit dem ebenfalls unwidersprochenen Fazit endet, dass die Gewalt, derer sich Menschen in besetzten Häusern bedient hätten, explizite Gegengewalt nach gewalttätigen staatlichen Interventionen gewesen sei – ausgehend von einer tiefen Verbitterung über dessen Erbarmungslosigkeit gegenüber vielen Hausprojekten. Die Kampfformen hätten sich bis heute allerdings gewandelt, so Barbara Sichtermann: Dominieren würden künstlerische Aktionsformen und Feste. In Halle lässt sich das am Beispiel der Hasi auch ganz gut belegen. Doch hier droht derzeit eine Sackgasse ohne Ausweg.

Rettung der Urbanität

Oberbürgermeister: „Was gibt es für die Hasi momentan noch für Lösungsansätze?“

Hasi: „Hasi bleibt!“

Publikum: *Applaus*

Oberbürgermeister: „Sollten wir mehr Freiräume schaffen?“

Hasi: „Ja, wir brauchen mehr!“

Was diese Freiräume denn eigentlich ausmacht, bleibt nach diesem – verkürzt wiedergegebenen – Dialog allerdings vorerst im Dunkeln. Derweil schickt sich Frau Sichtermann an, die Verdienste der Hausbesetzungen zu würdigen: Sie hätten dazu beigetragen, dass es bei Architekten, Stadtplanern und politischen Verantwortlichen mit der Zeit ein Umdenken gegeben habe. Der Umbau der Städte zur autogerechten Stadt mit vielen Abrissen und breiten Verkehrsschneisen sei gestoppt worden. Diese Rettung der Urbanität sei auch der Hausbesetzungsbewegung hoch anzurechnen.

Damit endet das Zwiegespräch. „Und ich wart‘ nicht, dass es Frühling wird, … ich will nachhause“ – „Ton Steine Scherben“-Zeilen leiten die offene Diskussion mit dem Publikum ein. Hier wird dann zumindest angerissen, was es mit „Freiräumen“ auf sich haben könnte. Während eine Person bedauert, dass es kaum noch Orte im Zentrum der Stadt gebe, an denen man laut sein und feiern könne, widerspricht eine andere: Es gehe eben nicht nur um Lautstärke und Konzerte – in Freiraumprojekten wie der Hasi werde eine enorme ehrenamtliche Leistung für die Stadt erbracht, für die die Stadt eigentlich zahlen müsse. Über eben jene Leistung werde viel zu wenig gesprochen. Wie passend, dass Bernd Wiegand in seiner Rolle als Oberbürgermeister kurz vor der abendlichen Diskussion noch auf einer Veranstaltung zum Tag der Befreiung direkt am Haus der Identitären am Steintor-Campus davon gesprochen hatte, dass Halle doch eine leistungsfähige Stadt sei.

Eine dritte Person wusste aus Erfurt zu berichten, dass dort eine Hausbesetzung zum Ziel hatte, auf einen Missstand hinzuweisen, nämlich auf eine in Vergessenheit geratene Firma, die dem Holocaust die Krematorien konstruiert hatte. Und eine weitere Funktion von Hausbesetzungen zur Schaffung von Freiräumen sei, so ein Einwurf, der Versuch, Stadt von unten zu gestalten. Was damit noch verbunden ist, wurde im Vorschlag deutlich, doch die kommunalen Wohnungsunternehmen zu demokratisieren, also direkte Mitbestimmung bei der Gestaltung dieser großen Player am halleschen Wohnungsmarkt zu schaffen. Ein weiteres Statement beinhaltete den Vorschlag, einen gewissen Prozentsatz an Flächen in der Stadt einfach ganz aus der kapitalistischen Verwertung herauszunehmen.

Bernd Wiegand wusste solche Vorschläge entweder gut zu ignorieren oder sie so umzudeuten, dass er nicht direkt darauf antworten musste. Hatte er ja selbst erst ein Filetstück am Stadtgottesacker mit dem ehemaligen La Bim im Zentrum am Stadtrat vorbei geschickt der Verwertung zugeführt. Stattdessen weitere Flirts mit der Hasi. Er, der Oberbürgermeister, bedaure es, die Entscheidung des Stadtrates zur Hafenstraße 7 umsetzen zu müssen. Soziokulturelles Leben und Vielfalt seien dringend erforderlich in der Stadt. Ein Freiraum-Konzept sei hierfür eine Überlegung wert – auch wenn bei der Bereitstellung von Freiräumen vielleicht auch der Reiz der Eroberung fehle, um diese erfolgreich werden zu lassen. Und überdies arbeite die Stadt Verdrängungsprozessen vorbeugend entgegen. Im Stadtzentrum stünde immer noch günstiger Wohnraum leer. Und in Freiimfelde werde mithilfe einer Stiftung der Erhalt von Freiräumen aktiv erprobt.


„Man kann Sachen auch vergesellschaften, ohne sie gleich zu verstaatlichen.“


Barbara Sichtermann plädiert folgerichtig zum Schluss dafür, dass die Politik an der Seite der Stadtbevölkerung stehen sollte. Das Privateigentum an Grund und Boden sei die Krux, Politik stünde viel zu oft aufseiten der Hauseigentümer – hierfür brauche es gesellschaftliche Lösungen wie das Modell der Genossenschaften: „Man kann Sachen auch vergesellschaften, ohne sie gleich zu verstaatlichen“. Die Rolle von Hausbesetzungen sei damals wie heute: Auf das Fehlen von erschwinglichem Wohnraum für breite Bevölkerungsschichten im Zentrum des urbanen Raumes hinzuweisen: „Freiräume zu erhalten und Kulturzentren zu schaffen ist die Aufgabe jeder neuen Generation.“

Es wäre ein gutes Schlusswort gewesen, wenn sich nicht noch einmal „Ton Steine Scherben“ ins Bewusstsein gedrängt hätten: „Es gab keine Angst und nichts zu verlieren, das war dann das Paradies.“ Erstaunlich, dass eine Veranstaltung zum Thema Hausbesetzung in einem früheren Bankhaus unter Teilnahme des amtierenden Oberbürgermeisters einer deutschen Großstadt tatsächlich mit einer solch positiven Bezugnahme enden konnte – ohne einen einzigen ordnungspolitischen Zwischenruf. Und der wäre durchaus möglich gewesen, wenn sich jemand von den rechtsstaatlichen Hardlinern auf die Veranstaltung getraut hätte. Gefehlt hat diese Perspektive allerdings nicht wirklich.


„Freiräume zu erhalten und Kulturzentren zu schaffen ist die Aufgabe jeder neuen Generation.“


Kritik war hingegen an anderen Stelle zu missen: Statt Hausbesetzungen zu romantisieren und die Schaffung von Freiräumen zum Ziel staatlicher Verwaltung zu verklären, hätte es der Diskussion gutgetan, sich kritischer damit auseinanderzusetzen, warum Hausbesetzungen und die Inbesitznahme von ungenutztem Raum zur Initiierung von gesellschaftlichen Projekten überhaupt erforderlich sind. Ja, warum von „Besetzung“ statt von „Erschaffung“ gesprochen wird. Warum so etwas eben nicht selbstverständlich ist, in einer in der Selbstbezeichnung aufgeklärten Gesellschaft. Oder etwas konkreter: Warum die Stadtverwaltung zentrale Flächen an finanzkräftige Investoren verkauft oder sich zu einem solchen Verkauf gezwungen sieht, statt sie der Allgemeinheit zugänglich zu erhalten. Wenn Halle tatsächlich ein Freiraum-Konzept bekommen sollte, dann würde diesem eine solche selbstkritische Reflexion ganz guttun.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

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