„Aryans“ vor dem Landgericht Halle

Eine Prozessbeobachtung des AKJ* Halle (Saale)

von | veröffentlicht am 11.03 2019

Beitragsbild: Transit

Am 01. Mai 2017 mobilisierte die Partei „Die Rechte“ zu einer Nazi-Demonstration nach Halle (Saale), die jedoch erfolgreich blockiert werden konnte. Nun mussten sich anderthalb Jahre später zwei Mitglieder der Neonazigruppierung „Aryans“ vor dem Landgericht Halle verantworten. Der Arbeitskreis Kritischer Jurist*innen (AKJ) mit seiner abschließenden Einschätzung zum Prozess.




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I. Der Gang des Verfahren

Am 01. Mai 2017 haben die beiden Angeklagten in zwei Tatkomplexen nach einer rechtsextremen Demonstration in Halle Menschen angegriffen. Nach der Demo fuhren sie mit anderen „Aryans“ in zwei Autos, in denen mindestens elf Personen saßen, durch Halle und machten zunächst Jagd auf Gegendemonstrant*innen. Im Zuge dessen kam es zu Steinwürfen aus den Autos. Aus dem ersten PKW, den der Angeklagte Carsten M. steuerte, warf u.a. die Angeklagte Martina H. einen Stein, wodurch ein Radfahrer verletzt wurde. Etwa 90 min später schlug der Angeklagte M. am Holzplatz mit einem Starkstromkabel auf Unbeteiligte ein.

Das Gericht hat den Angeklagten Carsten M. unter Berücksichtigung von Vorstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Angeklagte Martina H. ist zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Wochen verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Mit dem Urteil blieb das Gericht (mit jeweils zwei Monaten weniger) knapp unter dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmaß. Martina H. hat sich durch den Steinwurf in Halle Ost gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 25 II StGB strafbar gemacht. Carsten M. ist diese Körperverletzung ebenfalls im Wege der Mittäterschaft anzulasten, weil er das Auto fuhr. Zusätzlich hat er sich wegen des Angriffs mit dem Starkstromkabel am Holzplatz der gefährlichen Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 4, 53 I StGB strafbar gemacht.

Aus den Zeugenaussagen der mit den Ermittlungen betrauten Polizeibeamten ging hervor, dass aufgrund der unmittelbar nach dem Angriff über Twitter verbreiteten Bilder zunächst Ermittlungen wegen des Verdachts auf Landfriedensbruch (§ 125 StGB) eingeleitet wurden. Die auf den Fotos erkennbaren Nummernschilder haben die Beamten veranlasst, eine Halteranfrage bei den hessischen und bayerischen Polizeibehörden vorzunehmen. Carsten M., der Halter des hessischen Fahrzeugs, wurde zudem durch Zeug*innen identifiziert. Dies hatte zur Folge, dass eine gerichtlich angeordnete Hausdurchsuchung bei den zusammen lebenden Angeklagten durchgeführt wurde.

Ermittlungsverfahren

Neben den hessischen waren auch zwei hallesche Beamte vor Ort, die beide als Zeugen vernommen wurden. Der erste Zeuge erzählte minutiös von der Hausdurchsuchung und listete auf, was alles beschlagnahmt wurde: Neben einem riesigen Waffenarsenal wurden fünf Smartphones der beiden Angeklagten sowie eine Vielzahl an NS-Devotionalien gefunden (darunter eine Kopie des letzten „Führer-Funkspruchs“ aus dem NS-Hauptquartier).

Interessant war der Umgang der Polizei mit den beschlagnahmten Handys. Diese seien laut dem hierfür zuständigen Beamten eingezogen worden, um die Kommunikation zwischen den Beteiligten über die Demonstration und den Tathergang zu erfassen. Die nachträgliche polizeiliche und staatsanwaltliche Bewertung der Situation wurde maßgeblich auf den Chatverlauf der Angeklagten Martina H. gestützt. Insofern fragte die Nebenklagevertretung, warum die Auswertung der anderen Handys nicht aktenkundig sei. Hierauf antwortete der Beamte, dass nur die beiden Handys von Martina H. ausgewertet worden seien. Der zuständige Polizeibeamte hatte die Auswertung der weiteren Handys zwar schon begonnen, stellte diese aber ein. Die Begründung: Der Chatverlauf zwischen den beiden Angeklagten sei bereits auf dem Handy von Martina H. ausgewertet worden und da sich auf dem Handy des M. „dasselbe, nur andersherum“ befinde, sei bereits alles Tatrelevante ermittelt. Dass sich auf Carsten M.´s Handy weitere Beweise und Verbindungen zu anderen Beteiligten befinden könnten (und damit möglichen Tatverdächtigen), verkannte die Staatsanwältin im besten Fall. Im schlechtesten Fall verhinderte sie aktiv weitere Ermittlungen.

Auf erneutes Drängen der Nebenklage, wer genau entschieden habe, dass die restlichen Handys nicht ausgewertet werden sollten, bekannte der Beamte, dass dies auf Weisung der leitenden Staatsanwältin im Staatsschutzreferat geschehen sei. Ebenjene Staatsanwältin, die wenig später damit auffiel, die Tat als nicht politisch motiviert zu bezeichnen und darüber hinaus auch nur vor dem Amtsgericht Anklage erhob.

II. Verhalten der Verfahrensbeteiligten

Die Staatsanwaltschaft

Die leitende Staatsanwältin im Ermittlungsverfahren wurde nicht zuletzt deswegen im Prozess durch den zweiten Staatsanwalt für Staatsschutzsachen in Halle ausgetauscht. Dieser verhielt sich während der Beweisaufnahme auffallend passiv und stellte nur ganz vereinzelt Fragen. Umso überraschender war daher sein Plädoyer, das detailreich den Tatablauf darstellte und eine klare rechtliche Bewertung lieferte. Mit der Forderung nach drei Jahren und acht Monaten Haft für M. wich der Staatsanwalt im Strafmaß erheblich von der Einschätzung seiner ermittelnden Kollegin ab, die durch die Anklage vor dem Amtsgericht das Strafmaß von vornherein auf zwei Jahre beschränkt hatte.

Unklar bleibt auch, warum die Ermittlungen gegen die anderen Fahrzeuginsassen eingestellt wurden, obwohl die Namen der Mitfahrer teilweise von der hessischen Polizei bereits ermittelt und der halleschen Polizei auch weitergegeben wurden. Dies ist umso fragwürdiger, da Martina H. wegen mittäterschaftlicher Körperverletzung angeklagt und letztlich verurteilt wurde, obwohl ihr der fragliche Steinwurf nicht mit Sicherheit als eigener nachgewiesen wurde. Ihr wurde also der mögliche Treffer eines weiteren Insassen zugerechnet, der zwar im Prozess durch die Zeugenaussagen der Neonazis ermittelt wurde, aber nicht auf der Anklagebank saß. Die Begründung der Staatsanwaltschaft, dass der zweite Werfer schlicht nicht zu ermitteln gewesen sei, erscheint angesichts der Erkenntnisse im Prozess vorgeschoben.

Die Nebenklage

Durch großes Detailwissen hinsichtlich des Sachverhalts und präzise gestellte Fragen im Rahmen der Vernehmung der Zeug*innen fiel die Nebenklage auf. Ohne dieses Engagement wäre vermutlich ein bedeutender Teil der Aufklärung des Tatgeschehens unterblieben. Die Nebenklage zeigte ein starkes Interesse daran, die Gruppenstruktur der „Aryans“ aufzudecken, und versuchte durch verstärktes Nachfragen während der Beweisaufnahme ebendiese zum Prozessbestandteil zu machen.

Nachdem klar wurde, dass mindestens zehn Personen in den beiden Fahrzeugen saßen, nutzte die Nebenklage die Gelegenheit, um unter Hinweis auf neuere Rechtsprechung des BGH[1]zu § 125 StGB auch eine Verurteilung wegen Landfriedensbruch zu erreichen. Allerdings schien es der Nebenklage nur vordergründig um eine Verurteilung der Angeklagten gem. §§ 125, 125a StGB gegangen zu sein. Wie auch die Vorsitzende Richterin kritisch anmerkte, bleibt der Strafrahmen im Vergleich zu §§ 223, 224 StGB unverändert. Das Besondere am Tatbestand des § 125 StGB ist jedoch, dass eine Strafbarkeit auch dann besteht, wenn die konkrete Verletzungshandlung nicht auf eine Person in der Menschenmenge zurückgeführt werden kann. Insofern liegt es näher, dass die Nebenklage beabsichtigte, eine Brücke zu Verfahren gegen die übrigen PKW-Insassen zu schlagen. Eine Verurteilung der beiden Angeklagten wegen §§ 125, 125a StGB würde somit die Möglichkeit eröffnen, gegen die anderen PKW-Insassen entsprechende Strafanzeigen zu erheben, allein weil sie als Mitglieder der Gruppe anwesend waren.

Die Kammer lehnte den Antrag jedoch ab. Nach ihrer Ansicht war das Tatbestandsmerkmal der Menschenmenge nicht gegeben. Eine Menschenmenge sei charakterisiert durch die Unüberschaubarkeit der Personenmenge. Das in Bezug genommene Urteil (wonach schon ab zehn Personen eine solche Menschenmenge vorliegen kann) stellt darauf ab, dass es Außenstehenden gerade wegen einer auf die räumliche Enge zurückzuführenden Unübersichtlichkeit unmöglich ist, die Größe der Menge und die von ihr ausgehende Gefahr zu erfassen.

Zwar konnten die Angegriffenen aufgrund der Unübersichtlichkeit der Situation und der getönten Scheiben der Autos wohl die Gesamtanzahl der Angreifer nicht überschauen, jedoch dürfte es schwierig gewesen sein, in dieser Situation von mehr als 10-12 möglichen Angreifern auszugehen, allein schon aufgrund der maximalen Sitzanzahl.

Insofern wäre aus unserer Sicht (unter Berücksichtigung der derzeitigen Rechtsprechung) eine Verurteilung der Angeklagten nach § 125a mit einer Ausweitung der Strafnorm einhergegangen. Die generell leichtere Verurteilung durch eine extensive Auslegung ist jedoch nicht erstrebenswert. Dies gilt politisch gesehen insbesondere für diese Norm, da sie häufig dazu dient, „Linke“ zu verurteilen.

Verteidigung

Die Strategie der Verteidigung blieb letztlich völlig unklar. Die von ihr geladenen Entlastungszeugen lieferten letztlich nur belastende Hinweise. Zwar bestätigten sie den von den anderen Neonazi-Zeugen gezeichneten Ablauf des Geschehens, blieben aber dabei so unglaubwürdig, dass das Gericht ihre Aussagen nicht im Urteil aufnahm. Die u.a. mehrfach angedeutete Notwehrsituation lag durch die Fotos vom Tatort so fern, dass eine solche von der Verteidigung in ihren Plädoyers auch nur noch halbherzig ohne expliziten Verweis auf ein Notwehrrecht erwähnt wurde.

Obwohl eine Verurteilung des Angeklagten Carsten M. höchstwahrscheinlich war, plädierte sein Verteidiger auf Freispruch. Dies mochte strategisch gesehen für die Angeklagte Martina H. nach der Beweisaufnahme noch vertretbar gewesen sein, war für M. jedoch aufgrund der Bilder und Zeugenaussagen völlig absurd. Z.B. vertrat er die Ansicht, die Fotos, auf denen der Angeklagte mit wutverzerrtem Gesicht aus dem Auto steigt, würden lediglich eine punktuelle Momentaufnahme zeigen, die keine Rückschlüsse auf eine nachfolgende Tat zuließen. Dies widerspricht in lächerlicher Weise der strafgerichtlichen Praxis, bei der häufig sogar nur aufgrund von Zeugenaussagen ohne jegliches Bildmaterial entschieden wird: „So klar habe man es selten“, meinte auch die Vorsitzende. Dadurch verbaute sich der Verteidiger von Carsten M. jede Möglichkeit, Milderungsgründe für seinen Mandanten hervorzuheben, um eine Strafmilderung zu erwirken.

Von vornherein stützte sich eine der Verteidigungslinien darauf, dass Carsten M. im Vorfeld auf der Demo vermeintlich eine Sektflasche gegen den Kopf bekommen habe. Dies wurde auch stets von den Nazi-Zeugen erwähnt und erweckte den Eindruck, es solle eine verminderte Schuldfähigkeit konstruiert werden. Auch wenn dieser Umstand im Plädoyer der Verteidigung keine Berücksichtigung fand, spielte er für den Urteilsspruch des Gerichts eine überraschende und nicht unterzubewertende Rolle.

III. Urteil

Der für uns zentrale Kritikpunkt des Urteils betrifft nämlich die festgestellte Tatmotivation. Dass die Urteilsbegründung überhaupt auf diesen vermeintlichen Flaschentreffer eingeht, war überraschend. Denn abgesehen von einem ärztlichen Attest bezüglich einer Kopfverletzung (die auch auf anderem Wege hätte zustande kommen können, wie die Nebenklage anmerkte), ging diese allein aus der Aussage der Nazizeugen hervor. Wie sehr diese sich zu wahrheitsgemäßen Aussagen verpflichtet fühlten, braucht hier nicht erneut kommentiert werden. Weder hinterfragte das Gericht, ob es überhaupt zu diesem Flaschenwurf gekommen war, noch wurden hierzu glaubwürdige Zeugen befragt. Im Urteil wurde dem Verteidigungsansatz zwar eine Absage erteilt. Die Kammer führte dazu aus, dass eine unmittelbar mildernd zu bewertende Abreaktion schon mangels zeitlich-räumlichen Zusammenhangs zwischen der Demo am Hauptbahnhof und dem Geschehen am Holzplatz ca. anderthalb Stunden später fehle.

Allerdings ging das Gericht noch einen Schritt weiter und verkehrte die Strategie der Verteidigung ins Gegenteil. Der Treffer mit der Sektflasche soll entscheidender Aufhänger gewesen sein, um eine Tatmotivation aus Frust und vor allem Rache anzunehmen. Unverhofft hat die Verteidigung es geschafft, dass das Gericht dem menschenverachtenden, rechtsextremen Antrieb des Angeklagten, politisch Andersdenkende einzuschüchtern und zusammenzuschlagen, keine Beachtung schenkte. Vielmehr reduzierte das Gericht die Motivationslage auf das mitunter häufigste Tatmotiv bei der Begehung von Straftaten: Rache. Damit ist im Endeffekt die Ansicht des Gerichts gar nicht so weit entfernt von derjenigen der ermittelnden Staatsanwältin, die die Tat als Alltagsgeschehen am Rande von Demonstrationen bewertete.


Die Tatmotivation auf einen Flaschenwurf und Frust wegen einer abgesagten Demo zu reduzieren, verkennt die Gefährlichkeit, mit der hier organisiert vorgegangen wurde.


Also doch nur Rivalitäten von Demonstrierenden und Gegendemonstrierenden? Eine Unterscheidung dieser brutalen Tat zu „gewöhnlichen“ Straftaten findet sich damit jedenfalls nicht mehr. Dass aber das Agieren der „Aryans“ auf Demonstrationen als Gruppierung, das Selbstverständnis ihrer Mitglieder und – wie sich aus den Chatverläufen ergibt – auch die konkrete Tat Ausfluss eines von vornherein zielstrebigen Vorgehens war, lässt sich nicht von der Hand weisen. Hierbei handelt es sich um Neonazis, die zu Demos fahren, um bei jeder sich bietende Gelegenheit auf (vermeintliche) Gegner*innen loszugehen. Die Tatmotivation dann aber auf einen Flaschenwurf und Frust wegen einer abgesagten Demo zu reduzieren, verkennt die Gefährlichkeit, mit der hier organisiert vorgegangen wurde.

In diesem Zusammenhang ist es ist ebenfalls verwunderlich, dass sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Kammer die Tat als so brutal werteten, dass sie „auch tödlich enden kann“. Damit kommt man eigentlich nicht umhin, eine das Leben gefährdende Behandlung i.S.d. § 224 I Nr. 5 StGB anzunehmen. Das Gericht zog eine solche aber inkonsequenter Weise nicht einmal in Betracht.

Positiv ist zu erwähnen, dass die erhebliche Gewaltbereitschaft und Brutalität der Begehungsweise durchaus Eingang in das Urteil gefunden hat. Außerdem hat das Gericht den von der Verteidigung geladenen „Entlastungszeugen“ wenig Glauben geschenkt. Die von ihnen geschilderte Notwehrlage wurde explizit als „abenteuerlich“ und nach den Aussagen zahlreicher Zeug*innen als „widerlegt“ bezeichnet. Weder konnte das Gericht sich eine Jagd von Fahrradfahrern auf zwei Autos vorstellen, noch sei von der angegriffenen Wandergruppe oder anderen „Vermummten“ am Holzplatz Gewalt ausgegangen.

Es ist der Kammer weiterhin anzurechnen, dass sie gerade zu Beginn des Prozesses viel Raum für Fragen gelassen hat. Damit hat sie dazu beigetragen, dass Licht auf rechtsextreme Strukturen fällt, die anscheinend den Strafverfolgungsbehörden bisher unbekannt waren. Umso bedauerlicher ist, dass die zum Gegenstand der Verhandlung gemachte rechtsextreme Einstellung der Angeklagten letztlich nicht einmal in den Beweggründen zur Tat Berücksichtigung findet.

Vorliegen eines Landfriedensbruchs, § 125 StGB?

Je länger der Prozess ging, desto deutlicher wurde aber auch das Interesse des Gerichts an einem planmäßigen Abschluss des Verfahrens innerhalb der angesetzten Verhandlungstage. Deshalb erschien es sogar, als fühlte sich die Kammer durch den Vorstoß der Nebenklage angegriffen, eine Klageerweiterung wegen Landfriedensbruch zu erzielen. Die Kammer sah sich zu deutlichen Worten in Richtung der Nebenklage genötigt. Das Gericht kritisierte zunächst, es würde unterstellt, dass das Tatbestandsmerkmal der Menschenmenge abhängig von der politischen Gesinnung differenziert ausgelegt würde. Laut der Vorsitzenden verwehrt sich die Kammer „energisch dagegen, die Rechtsprechung der politischen Gesinnung anzupassen und die hier betroffenen Opfer für weniger schutzwürdig zu halten.“ Zudem wurde darauf verwiesen, dass die Nebenklage mit solchen Manövern den Bestand des Urteils massiv gefährden würde. Eine Verurteilung gem. § 125 StGB hätte aus Sicht des Gerichts einen Revisionsgrund dargestellt, was an sich dem Interesse der Nebenklage zuwiderlaufe. Dem kann man zustimmen oder nicht. Bizarr mutete jedenfalls das häufige Insistieren der Richterin auf den Bestand des Urteils an. Dies sollte eigentlich kein ausschlaggebendes Argument für eine Richterin sein, die schließlich nach ihrer Auslegung des Rechts urteilt.

IV. Gesellschaftspolitischer Kontext

Rechtsextremismus als Strafverschärfung?

Wie bereits erwähnt, hat im Urteilsspruch der Rechtsextremismus der „Aryans“ keinerlei Rolle gespielt. Dies mag zwar im Vergleich zu anderer Rechtsprechung nicht überraschen, verwundert aber dennoch angesichts der hier verhandelten Strafsache. Schließlich hatte sich die Vorsitzende ab dem ersten Prozesstag auf die Fragen der Nebenklage, die sich die Ergründung der Gruppenstruktur explizit zur Aufgabe machte, eingelassen und diese zum Teil übernommen.

Erklären ließe sich dies noch damit, dass ihre diesbezüglichen Zeugenbefragungen nicht zu den gewünschten Erkenntnissen führten. Allerdings wurde vorliegend, wie sonst selten, kein Hehl aus politischer Gesinnung und Motivation gemacht. Dies dürfe, so die Richterin, allerdings nicht in den Urteilsspruch einfließen. Denn das führe dazu, die Rechtsprechung „der politischen Gesinnung anzupassen“. Richtig daran ist, dass das Strafrecht keine Gesinnung abstraft bzw. abstrafen darf.[2]

Richtig ist aber auch, dass Umstände der Tat, wie Intention, Brutalität etc. relevant für die Strafbemessung sind. Von daher ist strafrechtlich zu differenzieren zwischen einer Körperverletzung, die aus einem Streit resultiert und einer solchen, bei der eine organisierte Nazitruppe auf Menschen Jagd macht, weil sie nicht ihre Rassenideologie unterstützen. Dies ergibt sich auch durch eine schlichte Gesetzes-Lektüre: Nach § 46 II StGB sind bei der Strafzumessung insbesondere „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Beweggründe und Ziele des Täters zu berücksichtigen.

Wenn nach den Tatsachenfeststellungen dieses Prozesses schon nicht die rechtsextreme Gesinnung als Antrieb zur Tat gewertet wird, unter welchen Umständen soll dies dann von Bedeutung sein? Ohne die Angemessenheit des Strafmaßes in Frage zu stellen, kritisieren wir, dass der rechtsextreme Antrieb zur Tat keinen Eingang in das Urteil gefunden hat. Deshalb erachten wir es als wichtig, diesen Punkt gesondert hervorzuheben:

Gruppenstruktur

Während anfangs noch versucht wurde, eine organisierte Gruppenstruktur zu leugnen (einheitliche Kleidung war zufällig, lose Demogruppe), kristallisierte sich mit jedem weiteren Zeugen ein immer deutlicheres Bild einer „Schutzgruppe“ heraus.

Dieser Begriff ist kein Zufall, sondern wird in rechtsextremen Kreisen häufig in Anlehnung an die „Schutzstaffel“ (SS) verwendet. Letztere war eine nationalsozialistische Organisation zur Zeit der Weimarer Republik und des NS, die sich als „blutmäßig definierte Elite“ verstand und die „Reinhaltung der nordischen Rasse“ zum Ziel hatte. Kein anderes Verständnis kommt beim Zeugen Dario C. zum Ausdruck, der das Tragen des Aryans-Pullis damit begründete, es sei seine Aufgabe die Rasse zu stärken und zu unterstützen.

Der Vertrieb der Pullover, so die Erkenntnisse im Prozess, geht auf den Angeklagten Carsten M. zurück. Sie wurden während der Hausdurchsuchung neben anderen Szene-Kennzeichen wie Hakenkreuzfahnen, Doppel-Sig-Runen und „Division Braune Wölfe“- Sticker gefunden, die die rechtsextreme Gesinnung unverkennbar bezeugen. Der Angeklagte wurde im Übrigen als Autorität innerhalb der „Schutzgruppe“ und als Rädelsführer bezeichnet, dem man nicht zu widersprechen habe.

Wie auf die Aryans zugeschnitten liest sich somit das am 21.09.1925 von SS-Führer Schreck verschickte „Rundschreiben Nr. 1“, in dem dazu aufgerufen wird, Schutzstaffeln zu gründen: „kleine, schlagkräftige Elitegruppen“ mit jeweils einem „Führer und zehn Mann stark“. Der „Schutz von Demonstranten“ kann dann schnell mal umschlagen in eine Jagd auf politische Gegner*innen.

Die spezifischen Ausprägungen solcher Gruppen können sehr verschieden sein: In der Sportszene finden sich Hooligans genauso als Volksschutztruppen, wie sich freie Kameradschaften vor allem Kundgebungen als Aktionsraum setzen. Ob Untergrundorganisationen wie der NSU oder paramilitärische Verbände wie „Hannibals Schattenarmee“ – allen gemein ist das Beschwören einer aggressiven und rassistischen Volksgemeinschaft, die dem Soldatentum huldigt und zu deren Verteidigung sie keine Gewalt scheuen.


Zu gefährlich ist die Aussicht auf eine Normalisierung solcher Zustände und eine Verschiebung des gesellschaftlich Akzeptablen, als dass nicht mit aller Konsequenz dagegen vorgegangen werden muss. Politisch, gesellschaftlich, aber eben auch juristisch.


Dass also bereits die Formierung einer solchen Gruppe das Ziel hat, politisch Andersdenkende einzuschüchtern und zu verfolgen, ist eine wichtige Feststellung. Dies als Gefahr für eine demokratische Gesellschaft anzusehen und nicht zu leugnen wäre ein erster Schritt, der leider viel zu oft ausbleibt, wie nicht zuletzt die skandalöse Ruhe um die taz-Recherche zu einem rechten Netzwerk in der Bundeswehr zeigt. Aber gerade auch Strafverfolgungsbehörden, die sich diesen Tendenzen verschließen und als „typisches Alltagsgeschehen“ abstempeln, sorgen für ein Klima, welches Rechtsextremen nicht gerade den Wind aus den Segeln nimmt. Zu gefährlich ist die Aussicht auf eine Normalisierung solcher Zustände und eine Verschiebung des gesellschaftlich Akzeptablen, als dass nicht mit aller Konsequenz dagegen vorgegangen werden muss. Politisch, gesellschaftlich, aber eben auch juristisch.

V. Ausblick

Falschaussagen

Gegen die Neonazi-Zeugen sollen Anzeigen wegen uneidlicher Falschaussage nach § 153 StGB eingeleitet werden, so der Nebenklagevertreter Scharmer. Dies ist folgerichtig, da die Annahme von (abgesprochenen) Falschaussagen sehr nahe liegt. Bei der Ermittlung von „falschen“ Aussagen werden die tatrichterlichen Feststellungen zum Sachverhalt als Wahrheit angenommen.[3] Hier wurden sowohl die Verfolgung der Radfahrer als auch die Steinwürfe der Beklagten als bewiesen festgestellt. Außerdem sei widerlegt, dass es Angriffe aus der Wandergruppe in Richtung der Autos der Angeklagten gegeben hat. Dagegen beteuerten alle Neonazi-Zeugen auch auf Nachfrage, dass aus ihren Autos nichts geworfen worden sei und stellten die Verfolgungsjagd genau andersherum dar, also dass die Autos von den Radfahrern verfolgt wurden. Zwei der Zeugen hielten sogar nach sehr kritischen Nachfragen der Richterinnen an diesen Aussagen fest. Hier, wie auch bezüglich der vermeintlichen Angriffe aus der Wandergruppe heraus, war schon während der Aussagen selbst recht eindeutig, dass diese Aussagen falsch i.S.d. § 153 StGB sind. Darauf wies bei einem Zeugen auch der Nebenklagevertreter hin, verzichtete aber auf einen Antrag zur Vereidigung, da auch unter Eid keine wahrheitsgemäße Aussage zu erwarten sei.

Diesen Eindruck können wir bestätigen. Trotz teilweise mehrfacher Belehrung blieben die Zeugen bei ihren (wohl abgesprochenen) Aussagen. Die Strafdrohung des § 153 StGB (immerhin mindestens drei Monate Freiheitsstrafe) reichte hier nicht aus, um den Gruppengehorsam zu brechen. Umso wichtiger wäre es daher, dass diese Delikte verfolgt und letztlich bestraft werden.

Weitere Strafverfolgungen?

Wie oben schon erwähnt, hätte eine Verurteilung der Angeklagten wegen Landfriedensbruch dazu geführt, dass auch die anderen PKW-Insassen ohne Weiteres nach dieser Strafnorm hätten verurteilt werden können. Aber abgesehen davon liegt es ebenso nahe, ihnen die Körperverletzungen zuzurechnen, selbst wenn ihnen keine eigenständige Verletzungshandlung nachgewiesen werden kann. Dies ist aufgrund § 25 II StGB möglich, der eine Bestrafung wegen der Handlungen anderer Personen zulässt, wenn die Beteiligten mittäterschaftlich gehandelt haben. Erforderlich dafür sind ein gemeinsamer Tatplan und eine gemeinsame Tatausführung. Hier kommt die Gruppenstruktur wieder ins Spiel, die eben nicht nur politisch, sondern auch strafrechtlich relevant ist. Wenn sich eine „Schutztruppe“ zusammenschließt, um in Autos gemeinsam politisch anders Gesinnte zu verfolgen, dann liegt es zumindest nahe, jedem Anwesenden die Begehung einer Körperverletzung gleichermaßen zur Last zu legen.[4]

Deshalb wäre es auch wichtig gewesen, alle Handys auszuwerten. Wenn im Ermittlungsverfahren einzelne Insassen nicht bekannt gewesen sein sollten (was schon aufgrund der Auskünfte der hessischen Polizei zweifelhaft ist), so kann dies nach den Erkenntnissen während des Prozesses nicht mehr behauptet werden. Wer willens ist, die Straftaten der „Aryans“ konsequent zu ahnden, würde deshalb nicht bei diesem Urteil halt machen, sondern jetzt erst recht alle Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.

Bildung einer terroristischen Vereinigung

Wie in der Hauptverhandlung zum Vorschein kam und parallel durch die Süddeutsche Zeitung aufgegriffen wurde, läuft aktuell bei der Generalbundesanwaltschaft ein Verfahren gegen die „Aryans“ wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB). Dies wird sicherlich interessant sein weiter zu verfolgen. Auch wenn wir diesbezüglich keine näheren Kenntnisse haben, wollen wir wenigstens darauf hinweisen. Nebenklagevertreter Scharmer hatte diesbezüglich in seinem Plädoyer darauf Aufmerksam gemacht, dass auch die Vorsitzende als Zeugin geladen werden könne, falls es zu einem Prozess vor dem Oberlandesgericht kommen sollte. Dies zeigt auch, dass es gut und wichtig war, möglichst umfassende Informationen über die „Aryans“ während des Prozesses einfließen zu lassen.

Solidarische Prozessbegleitung

Schließlich möchten wir noch darauf hinweisen, dass während der Verhandlungstage stets viele Menschen im Saal saßen, die den Prozess und die Betroffenen solidarisch begleitet haben. Auch wenn es teils schwierig war den oft verwirrenden Einzelheiten zu folgen (nicht zuletzt durch die der Öffentlichkeit verborgen gebliebenen Augenscheinbeweise), ist allein die Präsenz von sich solidarisierenden Menschen nicht zu unterschätzen. Zum einen, um anwesenden Nazis nicht den Raum zu überlassen (es waren stets zwei bis drei Begleitpersonen der Angeklagten anwesend). Zum anderen, um den ebenfalls als Zeugen geladenen Betroffenen möglichst viel Rückhalt zu gewährleisten.

Für uns war dies die erste Prozessbeobachtung, die wir als sehr lehrreich empfanden. Unser Ziel ist, juristische Verfahren, die einen Bezug zu Halle und Umgebung aufweisen und unserer Meinung nach eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz aufzeigen, stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Wir wollen damit die oft in kleinen Gerichtssälen abgehandelte juristische Bewertung von außergerichtlichen Geschehnissen in den Fokus rücken und der Diskussion zuführen. Der Anspruch soll sein, sowohl juristisch fundierte Bewertungen und Analysen zu bieten, als auch Unverständliches verständlich zu machen. Dass dies ein Balanceakt ist, der nicht immer gelingt, ist uns bewusst. Gerade deshalb würden wir uns freuen, Rückmeldungen zu erhalten, was als interessant und aufschlussreich empfunden wird und was wir in Zukunft verändern können.


[1]BGH NStZ 1994, 483.

[2]Beiseite lassen wir hier die Diskussion über die Sinnhaftigkeit des Strafrechts per se.

[3]BGH, Urteil vom 12.02.2003 – 5 StR 425/02.

[4]Alternativ kommt auch Beihilfe zur Körperverletzung in Betracht (§ 27 I StGB).

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

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