Wohnen ist Gemeinwohl, oder nicht?

Die Wohnunion versucht etwas, was kommunaler Standard sein sollte: Den Menschen Wohnraum zu ermöglichen, die ihn brauchen.

von und | veröffentlicht am 07.04 2022

Beitragsbild: Magdalena Gatz

In bester Innenstadtlage hat die Wohnunion eG 2021 einen Erbbaupachtsvertrag über vier Häuser mit der Halleschen Wohnungsgesellschaft (HWG) abgeschlossen. Die denkmalgeschützten Häuser sollen, nach teilweise jahrzehtelangem Leerstand, zu Wohnraum reaktiviert werden.




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Die Wohnunion, das ist wie einen Elefanten zu essen

Als Grit die Tür zum provisorischen Büro der Wohnunion öffnet, baumelt an ihrem Schlüsselbund ein Filzanhänger in Form eines Hauses. Im Büro mit dem runden Tisch und den Holzhockern wartet eine weitere Person der Wohnunion, Matthias.

Die Wohnunion – Was ist das?

Die Wohnunion ist ein Verein und eine Genossenschaft. Mit dem Verein verfolgt das Projekt vier gemeinwohlorieniterte Zwecke. Die Förderung der Nachbar*innenschaft, der Intergenerationalität, Kunst und Kultur, sowie die Untersützung von Menschen mit Fluchterfahrungen. Da Wohnen formal kein gemeinwohlorientierter Zweck ist, gibt es noch eine Genossenschaft. Diese kann als juristisches Konstrukt Häuser besitzen, mieten und vermieten. In bester Innenstadtlage hat die Wohnunion eG 2021 einen Erbbaupachtsvertrag über vier Häuser mit der Halleschen Wohnungsgesellschaft (HWG) abgeschlossen. Die denkmalgeschützten Häuser sollen, nach teilweise jahrzehtelangem Leerstand, zu Wohnraum reaktiviert werden. In den vier Gebäuden wird eine Wohnfläche von 1600qm für 22 Wohneinheiten saniert. Die Gruppe träumt jetzt schon davon das Projekt noch auf anliegende leerstehende Häuser zu erweitern, aber das ist aktuell noch Zukunftsmusik.

Grit ist über 50 Jahre. Sie wollte an einem Projekt beteiligt sein, dass am Ende etwas wird. Auch wenn es keine Garantie gebe, so gibt es doch eine recht hohe Chance, dass es mit der Wohnunion klappen könnte. Schon immer sei sie im Urlaub an Orte gereist, in denen gemeinschaftlich gelebt wird. ‚Schmelzorte für Bewegungen und interessante Leute‘
nennt sie diese Orte. Dort fühlte sie sich wohl und sie dachte sich, in Halle muss doch wenigstens ein Projekt exisiteren, das so einen Raum zur Verfügung stellt. Sie weiß, dass die Idee nicht neu ist aber sie lag seit Jahren unangefasst in der Luft und das auch in Halle. Grit und 15 weitere Personen haben aus dem Luftschloss den Anfang eines großen Hausprojekts gemacht. Insgesamt sind mittlerweile 30 Menschen im Plenum aktiv. Die Gruppe ist in den letzten vier Jahren langsam aber stetig gewachsen, dass sei gut gewesen, damit die Vertrauensbasis immer erhalten bleiben konnte.

Grit erklärt, dass sie unter zukunftfähigem Wohnen auch verstehe, dass ihr eigener Wohnraum langfristig gesichert ist und sie kein*e Vermieter*in einfach so rauskanten könne.

Magdalena

ist Fan von alternativen Wohnformen, in denen das Miteinander vor Profitinteressen von Vermieter*innen steht.

Welche Ideale stecken in dem Projekt?

Es klingelt. Ein Mann, um die 30 Jahre in gepflegter Outdoorkleidung kommt in das Büro, das die Gruppe angemietet hat. Er bringt Bilder für die gemeinsam geplante Adventsaktion, bei der jeden Tag ein anderes Fenster der Häuser gestaltet werden soll. Grit stellt ihn als frischen Vater vor. In der Wohnunion rutschen die Generationen zusammen. Ältere Menschen können junge Eltern mit Kindern unterstützen, deren Familien widerum weit entfernt leben. Der Bedarf an Wohnraum für Familien mit zwei oder mehr Kindern ist in Halle 66,7 % höher als das Wohnungsangebot es hergibt, so lautet es im Wohnungsmarktbericht der Stadt Halle aus dem Jahr 2020. Vorallem ist die Lage bei Wohnungen mit mehr als vier Zimmern im Innenstadtbereich angespannt.

In einigen Punkten kann die Gruppe ihre selbstgesteckten Ideale noch nicht erfüllen. Zum Beispiel in Bezug auf geflüchtete Personen und Menschen, die durch die Gentrifizierung aus der Innenstadt gedrängt werden. ‚Das haben wir uns ja auch auf die Fahnen geschrieben und merken jetzt, dass wir doch durch unsere Homogenität abschrecken.‘ stellt Matthias fest. ‚Wir versuchen immer noch unsere Ideale hochzuhalten, doch es ist nicht so einfach, wie wir uns das vorgestellt haben.‘ Das liege zum einen an sprachlichen Hürden aber auch an einem Hohen Maß an Engagement, was die Gruppe von Interessierten erwartet. ‚Da sind ja schon einige raus, die sagen, erstmal setzte ich mich nicht in irgendwelche Kreise für AGs oder Plena. Andere haben Angst, dass sie sich die Miete in der Innenstadtlage schlicht nicht leisten können.‘ erklärt Grit.

Es klingelt ein zweites Mal. Eine Frau geschätzte 60+ kommt mit Briefen für die Gruppe und holt etwas aus der Küche ab. Die Prognosen der städtischen Wohnungsplanung sehen einen zukünftigen Mehrbedarf an Wohnraum für Singles über 60 Jahren voraus.

Wieviel Solidarität ist möglich?

Die Gruppe stellt sich die Frage, wieviel Solidarität sie gegenüber Menschen aufbringen wollen, die weniger Miete zahlen können, als für die Finanzierung des Projekts notwendig ist. Der Markt mache auch vor ideellen Wohnprojekten nicht halt und die gestiegenen Baupreise machen sich in der Finanzplanung bemerkbar. Die geplante Miete setzt sich aus der Zahlung der Erbbaupacht, sowie der Tilgung von Bank- und Direktkrediten zusammen. Das Projekt wird außerdem über Förderprojekte und Genossenschaftsanteile der potenziellen Mieter*innen finanziert.

Das Projekt ist gemeinwohlökonomisch organisiert. Das bedeutet, dass keine*r damit Profit macht und vielmehr ein sozialer und kultureller Gewinn angestrebt wird.

Vieles an der Sanierung soll und muss in Eigenleistung gemacht werden. Das Ziel ist, dass die Wohnungen ‚bewohnbar‘ werden und damit einem Grundstandard entsprechen, welchen die Gruppe gemeinsam verhandelt hat. Es handelt sich nicht um eine ‚Luxussanierung‘. Dennoch wird die Miete nicht sozial verträgich oder Hartz IV gerecht sein. Im Gegenteil, jede Person, die Hartz IV bezieht müsste durch andere Mietende noch subventionieret werden. Das sei tatsächlich für viele mit mittelmäßigem Einkommen grenzwertig. Die aktuellen Berechnungen der Miete liegen bei acht Euro/qm kalt. Doch die Erfahrung zeigt, dass solche Prognosen im Laufe des Prozesses noch viele Veränderungen durchlaufen, sodass momentan noch keine abschließende Aussage dazu getroffen werden kann. Allerdings ist selbst bei der unklaren Prognose die Beteiligung an einem Solidaranteil für ein*e Krankenpfleger*in, Hortner*in, ein*e Alleinerziehende*n oder Selbsttändige*n schwierig, da ihr Einkommen nur kanpp für die alltäglichen Kosten reicht. Die Wohnunion reagiert auf einen vorhandenen Bedarf in der Stadt, indem sie versucht geringer verdienenden Personen eine Miete in dem Projekt zu ermöglichen. Der Bedarf an Wohnraum für Menschen mit niedrigem Einkommen ist laut dem halleschen Wohnungmarktbericht um 58,3% höher als die Kapazitäten, die durch die Stadt bereit gestellt werden. Es wäre wünschenswert, wenn weitere Projekte wie die Wohnunion durch lokale Wohnungsunternehmen gefördert würden.

Die geplanten Wohnungen sind sehr begehrt und es gibt bereits viele Interessierte. Doch in Anbetracht der Dauer des Bauvorhaben ist noch viel Fluktuation in der Wohnungsbelegung zu erwarten. Die Wohnungen wurden nach den Bedürfnissen der Interessierten konzipiert. Gleichzeitig wurde darauf geachtet, dass brauchbarer Wohnraum entsteht, der auch nach dem Erstbezug vermietet werden kann. Laut Vertrag gehen die Häuser nach 50 Jahren wieder in das städtische Eigentum zurück, wenn in den Nachverhandlungen keine anderen Vereinbarungen getroffen werden.

Matthias schwärmt: ‚Ich wünsche mir noch mehr Gemeinschaft und dass wir auch hier noch mehr aus der Individualität rauskommen. Vielleicht ist das auch einfach nur ein Prozess der das ganze noch mit sich bringt – gemeinschaftlicher zu denken. Zum Beispiel: Mehrere Waschmaschinenanschlüsse auf einer Etage – was soll das?‘ Viele Menschen haben in den letzten Jahren alleine gewohnt und ihre Individualität in ihrer eigenen Wohnung zelebriert. Hin zu mehr Kollektivität brauche es das Vertrauen untereinander. Jede*r wird auch einen Rückzugsort behalten. Aber vieles sei doch gemeinsam einfach schöner.

An den Eingängen zu den denkmalgeschützten Häusern hängen Schilder mit der Aufschrift ‚Achtung Einsturzgefahr‘. Vor den Fassaden sind grüne Netze gespannt, die verhindern, dass loses Mauerwerk auf vorbeilaufende Menschen fällt. Leichtbetonsteine sind vor die Fenster der unteren Etage gemauert, um das unbefugte Einsteigen zu verhindern. Beim Betreten der Hausflure fällt die Blumentapete im Retrostil auf und an den Decken sind Malerein zu sehen. Die großen Holztüren und Treppengeländer sind mit Ornamenten verziert. Hohe Decken lassen die Räume hoheitlich erscheinen. Die Räume laden ein, zu erträumen wie hier bald Menschen gemeinsam leben und ihren Alltag teilen.

Vom Pop-Up-Café zum soziokulturellen Zentrum

Bereits im Frühjahr 2022 soll vor der Fassade der Georg-Kantor-Str. 7 ein Nachbarschaftsraum entstehen, in dem öffentliche Veranstaltungen stattfinden sollen. Die Räume – sogenannte „dritte Orte“ – ermöglichen es Menschen sich dort ohne Konsum oder Kommerz aufzuhalten. Im Vorgarten wird es ein Pop-Up Café, eine Fahrradselbsthilfewerkstatt und weitere handwerkliche Workshops geben. Durch diese Angebote möchte die Gruppe einen Treffpunkt in der Nachbarschaft anbieten, der zu Begegnungen einlädt und für die Anwohnenden selbst ein Forum bietet, sich gestaltend einzubringen. Ein großer Traum der Gruppe ist ein benachbartes Haus, ‚die Boxhalle‘. Dieses könnte die Idee des Nachbarschaftstreffs ausweiten und Raum für ein soziokulturelles Zentrum bieten. ‚Das ist ein riesen Ding‘ feiert Matthias, ‚das ist wirklich schön. Es hat fast 1000qm Grundfläche auf drei Etagen.‘

Wie geht es weiter?

Momentan liege sehr viel Arbeit bei den Architekt*innen, damit dann der Bauantrag gestellt werden könne. Für 2022 muss ein Wirtschaftsplan erstellt werden, um zu schauen, welche finanziellen Mittel zu welchem Zeitpunk liquide sein müssen. Es passieren ständig Dinge, die für die Gruppe neu sind. Doch sie haben sich mittlerweile sehr gut strukturiert und sind gut vorbereitet auf alles anstehende. Alle Menschen, die in der Wohnunion beteiligt sind engagieren sich in unterschiedlichen AGs (Finanzen, Bau, Politik&Kommunikation, Soziales, Arbeitseinsätze, Zwischennutzung o.a.). Die jeweiligen AGs spezialisieren sich inhaltlich und holen sich unter Umständen fachliche Expertise dazu, um Entscheidungen zu treffen. Größere Entscheidungen, die Auswirkungen auf die ganze Gruppe, bzw. das ganze Projekt haben, werden regelmäßig im Plenum getroffen. Die Gruppe ist basisdemokratisch organisiert, das heißt alle die fest in der Gruppe mitmachen sind stimmberechtigt. Außerdem entscheidet die Gruppe nach dem Konsensprinzip. Das bedeutet jede Entscheidung muss von allen Mitstimmenden mitgetragen werden. Diese Form der Entscheidungsfindung benötigt ein besonderes Maß an Kommunikations- und Diskussionsbereitschaft. Es sei wichtig, dass ein Projekt wie dieses, von einer genügend großen Gruppe getragen werde. ‚Mit den anfänglich 15 Personen war es schon unterste Grenze.‘ erinnert sich Grit. Von den Gründungsmitgliedern sind auch nur noch acht Personen dabei. Wenn Menschen kommen und Grit fragen, ob sie ihnen raten könne, auch so ein Projekt zu starten? Da würde es ihr wirklich schwer fallen zu sagen, ‚macht das‘, denn es ist wirklich eine Menge Arbeit. Gleichzeitig ist es das Ziel der Gruppe, ein Vorbild für ähnliche Projekte zu sein.

‚Da war so ne Nachbarin neulich‘, erzählt Grit, ‚die meinte, das ist doch hier, wie wenn man einen Elefanten aufessen will, naja immer Stückchen bei Stückchen.‘

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.