Stadtrat: Nicht gekippt, aber kippelig

Mehrheit gegen Rechts bleibt erhalten - Rot-Rot-Grün mit Verlusten

von | veröffentlicht am 28.05 2019

Beitragsbild: Transit

Der Rechtsruck bleibt in der Saalestadt weitgehend aus. Dennoch gibt es nach dem Wahlsonntag insgesamt keinen Grund zur Freude.




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Wie wenig die Zeitzeugnisse eines nie dagewesenen Vernichtungskrieges und des Holocaust heutzutage noch berühren, zeigten gestern europaweit die Wahlergebnisse, aus denen in einigen Gebieten rechte, extrem rechte, ja teils neofaschistische Kräfte als Gewinner hervorgegangen sind. Auch im Osten von Deutschland – da sollte man sich vom gesamtdeutschen Ergebnis nicht allzu sehr beruhigen lassen – konnten Nationalisten, Rassisten, ja Neonazis zuvorderst in Gestalt der AfD bedeutsame Wahlsiege einfahren. Den Affären der letzten Wochen und Monate zum Trotz.

In Sachsen und Brandenburg wurde die sogenannte “Alternative” für Deutschland, die in einigen Gebieten das Prädikat “NPD-Nachfolgeorganisation” verdient hätte (interessant dazu auch dieser Beitrag), stärkste Kraft. In Sachsen-Anhalt fehlte dazu bei der Europawahl nicht viel. Hier landete die AfD mit 20 Prozent knapp hinter der CDU (23 Prozent). Im Süden des Landes war es wie schon zur Landtagswahl anders herum. Hier wurde die AfD ebenso wie im Südosten von Thüringen stärkste Kraft in mehreren Kreisen.

Dass gleichzeitig Kommunalwahlen waren, bei denen die AfD ebenso stark abschnitt (in Sachsen-Anhalt insgesamt 16 Prozent – in Sachsen 28 Prozent), macht das Wahlergebnis in den ostdeutschen Bundesländern zu einem politischen Umbruch. Denn während die Rechten im Europaparlament insgesamt von einer gestalterischen Stärke noch entfernt bleiben, werden sie in vielen Kommunalparlamenten des deutschen Ostens künftig nicht mehr zu umgehen sein. Eine angesichts der bisherigen Politik dieser Partei und ihrer rechten bis neonazistischen Akteure düstere Aussicht, die nicht unterschätzt werden darf. Denn Kommunalpolitik findet direkt vor der Haustür statt.

Die Gesellschaft ist tief gespalten und die Wahlergebnisse zeigen dies von Wahl zu Wahl immer deutlicher. Gerade im Osten, der sich auf den statistischen Karten zur Wahl wieder deutlich vom Westen abhebt, herrscht eine große Kluft zwischen ländlichem Raum und urbanen Zentren. Wobei mittlerweile auch einige größere Städte in den deutschen Randlagen – Chemnitz, Gera, Görlitz, zum Teil auch Dresden – nach Rechts verloren zu gehen drohen. Denn auch die urbanen Räume selbst sind tief zerrissen.

Herbe Verluste für die ehemals “Großen”

Halle ist da ein gutes Beispiel. Das traditionelle Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und der Partei DIE LINKE bei der Stadtratswahl hat diesmal zur Abwechslung zwar knapp die Linke gewonnen. Doch beide Parteien verloren stark an Zuspruch und müssen für die nächsten fünf Jahre jeweils mit vier Mandaten weniger auskommen (beide nun jeweils zehn Sitze). Noch stärker hat es die SPD erwischt, die mit Minus fünf Sitzen fast halbiert wurde und noch hinter den stark zulegenden Grünen (plus drei Mandate auf neun Sitze) sowie der noch deutlicher gewachsenen AfD-Fraktion (plus fünf Mandate auf acht Sitze) von Rang 3 auf Rang 5 abgerutscht ist. Ein herber Bedeutungsverlust, der sich auch bei der Verteilung von Ausschussvorsitzen und Aufsichtsratsposten bemerkbar machen wird.

Insgesamt verlieren die ehemals “Großen” damit deutlich, während sich die ehemals “Kleinen” künftig auf ein höheres Stimmgewicht in einem nun sehr fraktionierten Stadtrat stützen können. Während die parteiunabhängige Liste der Mitbürger mit drei Mandaten ihre Fraktionsstärke halten konnte, kommen als weitere Fraktionen nun noch die FDP (plus ein Mandat auf drei Sitze) und Hauptsache Halle (von null auf vier Mandate) hinzu. Wo sich die übrigen drei Neulinge (zweimal Die Partei, einmal Freie Wähler) einsortieren werden, bleibt noch abzuwarten. Das sogenannte „Team Schrader“, das zuletzt aufgrund seiner Nähe zum rechten Rand in der Kritik stand, blieb bei der Wahl chancenlos.

Im Vergleich zum Umland oder zum in wirtschaftlichen Fragen gerne als Vergleichsmaßstab herangezogenen Chemnitz ist Halle mit dieser Konstellation immer noch ganz gut bedient. Denn ein Rechtsruck ist damit weitgehend ausgeblieben. Die AfD blieb unter ihren Erwartungen (angestrebt waren 12 Mandate; zur Landtagswahl 2016 holte die Partei stadtweit noch 19.5 Prozent) und der auf den ersten Blick hohe Zuwachs von fünf Mandaten täuscht. Denn dass die AfD bislang lediglich drei Mandate im Stadtrat hatte (die  zwischenzeitlich teilweise auch verloren gegangen waren), ist allein dem für die vergangenen fünf Jahre glücklichen Umstand zu verdanken, dass die letzte Kommunalwahl kurz vor dem Auftrieb der Rechten stattgefunden hatte. Nun hat sich das ohnehin schon länger vorhandene Wählerpotential “lediglich” in Mandaten manifestiert.

Schaut man sich die Ergebnisse in Halle im Detail an, dann lassen sich die Grenzen zwischen den Wahlneigungen ziemlich genau entlang der Bausubstanz ziehen. Während in den weitgehend gentrifizierten Gründerzeitgebieten die Grünen mit bis zu 30 Prozent der Stimmen regelrecht auftrumpfen konnten – ganz im Bundestrend der deutschen Großstädte – und die CDU in den Einfamilienhauslagen ihre letzten Hochburgen verteidigte (der Bedeutungsverlust für die Union in Halle ist insgesamt geradezu unglaublich), gewann die AfD vor allem in den Großwohnsiedlungen deutlich hinzu, insbesondere im nun auch kommunalpolitisch blauen Süden der Stadt, aber ebenso in Halle-Neustadt, wo sie nur knapp hinter den Linken auf dem zweiten Platz landete. Diese Verteilung der Gewinne passt auch zum Ergebnis einer Europawahl-Umfrage von infratest dimap im Auftrag der ARD. Diese zeigt, dass die AfD im Vergleich zu 2014 insbesondere bei Arbeitslosen, aber auch Arbeitern deutlich zulegen konnte. Auch wenn es kaum Thema war: Die Wahl entschied sich eben auch an der sozialen Frage.

Rechts-konservative Mehrheit abgewendet

Die AfD scheint ihr Potenzial als Protestpartei nun erst richtig entfaltet zu haben. Und in ihrem hybriden Dasein zwischen Denkzettelwahl von Menschen, die sich politisch nicht mehr wahrgenommen fühlen, und Sammelpool für überzeugte Nationalisten und Rassisten wird sie erst richtig gefährlich. Sie saugt geradezu die mit dem Leben aus vielerlei Gründen Unzufriedenen aus den bisherigen Klientel der anderen Parteien und aus den Reihen früherer Nichtwähler*innen heraus.

Angesichts dessen gibt es auch für die Grünen, den großen Gewinner der Europa- und Kommunalwahlen, nicht viel zu feiern. Denn ihnen gerät angesichts der Schwäche von SPD und DIE LINKE die (linke, soziale) Gestaltungsmehrheit verloren. Auch hier der Blick nach Halle: Gab es in den letzten fünf Jahren eine rechnerische, wenngleich vergleichsweise wenig genutzte, rot-rot-grüne Mehrheit im Stadtrat, ist diese nun verloren gegangen. Zur absoluten Mehrheit fehlen jetzt vier Mandate.

Künftig werden für gemeinsame Projekte, vor allem in der Sozial- und Kulturpolitik, weitergehende Kooperationen notwendig sein. Prädestiniert wären dafür die Mitbürger, auch mit Blick auf deren Arbeit in der vergangenen Legislatur. Und wenn die beiden Mandate der Partei Die Partei (bis zu zehn Prozent der Stimmen in der Innenstadt) einen ähnlichen Weg nehmen wie der frühere Die-Partei-Stadtrat Thomas Schied, der diesmal ganz seriös über die Liste der Linken in das Kommunalparlament einziehen konnte, dann kämen insgesamt schon 30 von 56 Stimmen zusammen. Und auch bei Hauptsache Halle gebe es beispielsweise mit Beate Gellert, Geschäftsführerin des Kinder- und Jugendhauses in der Südstadt, sozialpolitisches Potenzial. Rechts-konservative Projekte dürften es damit auch in den nächsten fünf Jahren in Halle schwer haben, sich auf dem demokratischen Weg durchzusetzen.

Doch die nun acht Mandate der AfD werden sicherlich ausreichen, den Tonfall in der Stadtpolitik auf absehbare Zeit zu verschärfen und die politische Verrohung weiter voranzutreiben. Daran haben die bisherigen AfD-Stadträte Alexander Raue und Gernot Nette in letzter Zeit schon keinen Zweifel gelassen. Und das wird nicht zuletzt mit dem Einzug von Donatus Schmidt, Stammredner bei den sogenannten Montagsdemos in Halle, absolute Gewissheit.

Wo bleibt die Sozialpolitik?

Dagegen gilt es mehr denn je politisch und zivilgesellschaftlich anzukämpfen. Gerade jene, die es sich leisten können ihr Heil in der Flucht zu den Grünen zu suchen, sind da in der (solidarischen) Pflicht. Denn die grüne Partei ist kein Garant gegen eine weitere Rechtsverschiebung in Deutschland. Das hat die Bundespartei beispielsweise in der Asylpolitik bewiesen. Und für eine soziale Lösung der tiefen gesellschaftlichen Spaltung fehlen ihr sowohl die Expertise, als auch derzeit offenbar noch die Motivation.

Und ob die einstige Sozialexpertin SPD sich wieder fängt, steht mehr denn je in den Sternen. Um 00:04 Uhr flatterte über den Presseverteiler bereits das erste Statement des SPD-Stadtverbandes zum Wahlergebnis ein. Eine bittere Niederlage wird darin zwar eingeräumt, diese sei allerdings “zu einem großen Teil dem Erscheinungsbild der Bundespartei geschuldet”. Der Bundestrend allein erklärt allerdings nicht, dass es in den Ländern und Kommunen immer wieder zu sehr unterschiedlichen Wahlergebnissen kommt. Nur ein Beispiel: In Magdeburg steht die SPD trotz starker Verluste mit Platz 2 immer noch deutlich besser da – die AfD dort mit demselben Ergebnis wie in Halle nur auf Platz 5. Und wenn alle verbliebenen Einzelteile der SPD auf die Bundesspitze zeigen, woraus besteht diese Partei dann eigentlich noch? Die Jusos Halle scheinen das ähnlich zu sehen.

Und DIE LINKE? Sie vermag auch diesmal so gar nicht von der sozialpolitischen Leerstelle zu profitieren. Im Gegenteil, sie hat ihr Potenzial als linke Protestpartei weitgehend verloren und ist mittlerweile auf ihre Stammwähler*innen zurückgeworfen. Ein Veränderungspotenzial wird ihr (ebenso wenig wie den in der Groko trotz sozialpolitischer Akzente weitgehend marginalisierten Resten der SPD) nicht mehr zugetraut, was angesichts ihrer eher bescheidenen Erfolge in diversen ostdeutschen Landesregierungen nicht  verwundert.

Und so bleibt die soziale Frage auch nach dieser Wahl weiter liegen und wird von der nicht minder wichtigen Frage einer Wende in der Klimapolitik auch noch überschattet. Doch der Siegeszug des Klimawandels als dringendstes politisches Thema kann über eines nicht hinwegtäuschen: Das Soziale, und nicht etwa eine von der Sozialpolitik entkoppelte Klimapolitik, hat allein das Potenzial, die gesellschaftlichen Verwerfungen wieder etwas zu glätten.

Detailanalyse

Halle hat gewählt – und die Ergebnisse zur Stadtratswahl sind in vielerlei Hinsicht überraschend: Die Grünen haben deutlich zugelegt und sind nunmehr drittstärkste Kraft in Halle, DIE LINKE kam (landesweit einzigartig) trotz Verlusten auf Platz eins über die Ziellinie, die CDU wird immer stärker an den Stadtrand gedrängt und die AfD blieb hinter ihren Erwartungen zurück. In der Detailanalyse von Transit wird anhand zahlreicher ausgewählter Grafiken dargestellt, welche Partei wo gewonnen hat, wo die jeweiligen Hochburgen zu finden sind und wo es am wenigsten Zuspruch gab.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

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