Erinnern stören – weil es anders nicht geht

Ein Sammelband entwirft anhand jüdischer und migrantischer Perspektiven ein mosaikgleiches Gegenbild des Erinnerns.

von | veröffentlicht am 07.02 2021

Beitragsbild: Transit

Das Erinnern, insbesondere das Gedenken in Deutschland, ist eng verknüpft mit einer deutsch, weiß, christlich, mitunter patriarchalisch und von großem Pathos geprägten Narration. Aber es gab und gibt immer wieder marginalisierte Erzählungen und widerständige Positionen des Erinnerns, die dagegen halten. Sie stören das deutsche „Gedenk- und Gedächtnistheater“(1), das ewige Lied vom „Wende-Einheitsmärchen“ oder die formalen „Wiedergutmachensperformances“. Sie stören das alles, weil sie stören müssen, weil es nicht anders geht, um einem tatsächlichen Erinnern näher zu kommen.




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Auf den ersten Blick behandelt das Buch „Erinnern stören“ altbekannte Themen, wie den Mauerfall, die „Wiedervereinigung“, die 1990er Jahre sowie Rassismus & Antisemitismus. Das Entscheidende in den diversen Beiträgen sind nicht die Themen selbst, sondern das jeweilige spezifische Wissen zu diesen und die Perspektiven. Sie stellen gesammelt genau diese Informationen, historischen Zusammenhänge und das Erfahrungswissen dar, welche in der dominanten Narration fehlen, klein gehalten oder unsichtbar gemacht wurden und werden.

Deswegen bin ich als politisch agierende „Ossi of Color“, die lange auf so ein Buch gewartet hat – was sind schon 30 Jahre – sehr glücklich über dessen Erscheinung. Diese Buchrezension sollte demnach eher als ein Fanbrief verstanden werden.

Die Autor*innen aus zahlreichen Kontexten, Communities und Gemeinden liefern ein umfassendes Zeitzeugnis über die Zeit der DDR, der BRD, der Wende und zu Kontinuitäten, die bis heute bestehen, ab. Es widerspricht den uns bekannten Erzählungen mit zeitgeschichtlichem Wissen, welches oft kombiniert ist mit diversen Erinnerungen. So wird deutsche Geschichte neu gedeutet und kritisch beleuchtet. Auch leuchtet das Buch dahin, wo noch keine*r hingesehen hat.

„Wilde Streiks“ in der BRD: Migrantische Arbeitskämpfe

Was mich selbst, als Kind eines früheren DDR-Arbeitsmigranten, sehr stark anspricht, ist der
Beitrag von Evrim Efsun Kızılay, ihres Zeichens Enkelin eines Gastarbeiters. Kızılay leuchtet pointiert in einige Lücken im heutigen Erinnern – beispielsweise der Migrationsforschung sowie in der Narration über Migration – und füllt sie gleichzeitig mit ebenso scharfen Bildern. So schreibt sie über die Kämpfe und Streiks der migrantischen Arbeiter*innen, sie seien in der Migrationsforschung „unzureichend thematisiert und nicht explizit antirassistisch klassifiziert“.(2) Ihr „Hoch die internationale Solidarität?“ genannter Text zeigt auf, daß die Arbeitsmigrant*innen, welche seit den 1950er Jahren über bilaterale Anwerbeabkommen in die BRD kamen, sich aus Repression, Segregation und Diskriminierung heraus, selbst organisierten, gegen Ungleichstellungen aller Art kämpften und Risiken, von Arbeitslosigkeit bis Abschiebung, in Kauf nahmen. Sie zeigt deutlich welche ambivalenten Haltungen die Gewerkschaften einnahmen, die sich zwischen solidarisch, eigennützig bis hinzu rassistisch ausschließend verhielten und welche Rolle dies für die Selbstbewusstheitsbildung der migrantischen Arbeitskämpfe spielte. Meiner Ansicht nach, sind die hier benannten „wilden Streiks“, die zwischen 1968 und 1973 selbst organisiert, spontan und unabhängig von Gewerkschaften geführt wurden, bemerkenswert. Insbesondere ein Vergleich der Frauenstreiks in Neuss und Köln zeigt den Gewinn von Solidarisierung. So konnten die Arbeiter*innen in Neuss, die sich untereinander solidarisierten, einen Erfolg verzeichnen, während der Streik in Köln weder von der IG Metall noch von nicht-migrantischen Arbeiter*innen unterstützt wurde und somit brutal und erfolglos endete.(3)

Ein Sprung in den Osten, zur Arbeitsmigration in der DDR

Der Blick auf die DDR zeigt, daß den sogenannten Vertragsarbeitenden – sehr ähnlich den Gastarbeitenden der damaligen BRD – die unbeliebten und körperlich häufig schweren Tätigkeiten zugeteilt wurden. Die Beiträge von Paulino Miguel und Patrice G. Poutrus machen deutlich, daß die Ausbeutung von Arbeitskraft und struktureller Rassismus keine rein kapitalistischen Probleme sind, sondern auch in der sogenannten sozialistischen DDR bestanden. So wird in dem Text „Fremd im Bruderland“ von migrantischen Streikaktionen berichtet, die trotz der Untersagung organisierter Interessensvertretungen außerhalb der staatlichen Strukturen und der Abschiebungsgefahr für die migrantischen Arbeiter*innen, selbst organisiert stattfanden.(4)

Vollziehen wir einen weiteren Sprung, jetzt zur Arbeitsmigration der Gegenwart. Die Corona-Pandemie schreit es uns geradezu ins Gesicht: Die Leute, die heute in den prekärsten, unbeliebtesten Arbeitsverhältnissen tätig sind, sind seltener deutsche Passträger*innen. Viele Arbeitsmigrant*innen werden saisonal angeworben, meist aus osteuropäischen Ländern. Oder es sind vor allem junge Leute, die über das deutsche Asylsystem keinen Aufenthalt erreicht haben, die dann in die Ausbildungen und Tätigkeiten sogenannter Mangelberufe zu gehen, gezwungen sind, um hier zu bleiben. Dass wir derzeitig in der Pandemie en masse im Internet einkaufen, Päckchen bestellen und Essen geliefert bekommen, verdanken wir oftmals den Leuten, die keinen sicheren Aufenthalt in Deutschland haben. Ob alte BRD, DDR oder „wiedervereinigtes“ Deutschland: Arbeitsmigration hat hierzulande eine lange und bisher nicht endende höchst diskriminierende und ausbeutende Tradition.

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Dass wir derzeitig in der Pandemie en masse im Internet einkaufen, Päckchen bestellen und Essen geliefert bekommen, verdanken wir oftmals den Leuten, die keinen sicheren Aufenthalt in Deutschland haben.

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Viel wichtiger am Buch ist aber, meiner Ansicht nach, das Positive, das Stärkende, beispielsweise aus den Beiträgen von Kızılay, Miguel, Poutrus, der Initiative 12. August und dem Interview mit Emmanuel Adu Aguyeman mitzunehmen. Sie erzählen uns von unterschiedlichsten und bemerkenswerten Widerstandsformen der Arbeitsmigrant*innen im Westen, der algerischen Arbeitsmigrant*innen in Erfurt, der kubanischen in Merseburg sowie der Asylsuchenden im Jahr 1991 in Hoyerswerda. Sie kämpften nicht ausschließlich gegen schlechte Arbeitsbedingungen, sondern auch gegen schlechtes, isoliertes Wohnen sowie gegen rassistische Hetze und für das Recht zu Bleiben – in Betrieben, auf der Straße, in Behörden wie in privaten Beziehungen. Hier wird uns die Geschichte der politischen Selbstermächtigung von migrantischen Menschen offenbart und wie sie gegen strukturellen und gesellschaftlichen Ausschluss und Rassismus teils erfolgreich gekämpft haben. Allerdings, das möchte ich nicht unerwähnt lassen, haben zu viele Menschen, die Rassismus erlebt oder sich dagegen aufgelehnt haben, ihr Leben verloren. So räumen die Beiträge mit den überstrapazierten Bildern von Migrant*innen als ausschließlich „Betroffene“, als „Opfer“ oder „Objekte“ der jeweiligen Migrationspolitik auf. Die folgenden Generationen haben nicht dieselben Erfahrungen. Aber die Beiträge lassen erkennen: Besonders (post-)migrantischer Widerstand war noch nie einfach und die politische Selbstermächtigung muss nicht neu erfunden werden. Wir können diese Protesterfahrungen anschauen, uns von ihrer gefundenen widerständigen Sprache inspirieren lassen, sie in guter Erinnerung behalten. Das empfinde ich in Punkto Erinnern für heutige Auseinandersetzungen sehr bestärkend.

Überschreibung des 9.November
Die Kraft des Buches ist also das Erinnern zu stören, nicht ausschließlich des Störens wegen, sondern um problematische Zusammenhänge und ihre Kontinuitäten darzulegen und damit die Notwendigkeit mit ihnen zu brechen, aufzuzeigen. An eine überaus problematische Kontinuität in der deutschen Erinnerungskultur erinnert Sharon Adler. Sie ermöglicht in den sechs Gesprächen, die sie mit jüdischen Menschen aus Ost- und Westberlin führte, detaillierte Einblicke in die deutsch-jüdische Zeitgeschichte. Sie leitet diese Gespräche mit eigenen Gedanken zum 9. November ein. „Dass mit dem 9. November 1989 damals wie heute allein an die friedliche ‚Wiedervereinigung‘ erinnert wird, und damit die Erinnerung an einen nicht weniger wichtigen 9. November in der deutschen Geschichte überschrieben wird“ nennt sie einen „Affront“.(5)
Diese erinnerungskulturelle Überschreibung des 9. November 1938 als Beginn der Vernichtung von jüdischem Leben in Deutschland und Europa wird bis heute praktiziert – in einer Gesellschaft, die von sich behauptet einen Prozess der „Entnazifizierung“ abgeschlossen zu haben. Es ist klar, dass es keinen Abschluss gibt und dass zweifelhaft ist, ob dies irgendwann tatsächlich der Fall sein könnte oder sollte.

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Die Kraft des Buches ist das Erinnern zu stören um problematische Zusammenhänge und ihre Kontinuitäten darzulegen und damit die Notwendigkeit mit ihnen zu brechen, aufzuzeigen.

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Diese Beschreibungen der erschreckenden Wiederholungen im institutionellen, gesellschaftlichen und medialen Umgang mit rassistischem oder antisemitischem Hass, an die hier erinnert wird, zeigen wie hoch die Bedeutung & Notwendigkeit des Störens ausfällt. Es zeigt auch, daß die Perspektive aus der erinnert wird, eine erhebliche Rolle spielt, wenn es darum geht einem tatsächlichen Erinnern nah zu kommen.

Am Ende ist zu sagen, es ist ein unstrukturiertes Buch ohne Einbettung in Themenbereiche. Jeder Beitrag steht somit für sich. Das kann möglicherweise sympathisch, aber auch einfach chaotisch bei den Lesenden rüber kommen. Es beinhaltet gefühlt tausend verschiedene Formen & Weisen des Erzählens und des Erinnerns: Gespräche, Interviews, Berichte, historische Einordnungen, wissenschaftliche Einbettungen, politische Statements und Tagebuchtexte. Fakt ist, das Buch stellt einen Raum, einen Ort zur Verfügung, der „die aufgeräumte Vorgartenordnung dominanter Konzepte von Geschichte, Erinnerung und Sprache überrollt.“ 6 Das soll erinnerungs- sowie realpolitisch anklagen, tut aber auch gut. Danke dafür. Es wurde höchste Zeit für beides.

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(1) Czollek, „Desintegriert Euch!, S. 23 ff
(2) Kızılay, „Hoch die internationale Solidarität?“ in: Erinnern stören. S. 69
(3) Kızılay, „Hoch die internationale Solidarität?“ in: Erinnern stören. S. 77f.
(4) Poutrus, „Fremd im Bruderland“, in: Erinnern stören. S. 287f.
(5) Adler, „Kontinuitäten der Erinnerungskultur“ in: Erinnern stören. S. 361
(6) Ha, al-Samarai, Mysorekar, „re/visionen“. S. 9

Zur Autorin

Cynthia Zimmermann ist Mitautorin der Beiträge „Ossis of Color“ und „40 Jahre Schweigen in Merseburg“ im Sammelband „Erinnern stören – Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive“.

Das Buch

Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive
Lydia Lierke und Massimo Perinelli (Hg.)
Verbrecher Verlag, Oktober 2020

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.