Der 13. Oktober 2019

Verpasste Chancen eines ungewöhnlichen Bündnisses

von | veröffentlicht am 05.05 2020

Vor einigen Wochen stellten wir mit unserem Call for Papers die Fragen danach, wie es in Halle nach dem rechtsterroristischen Anschlag vom Oktober letzten Jahres weitergehen kann. Bisher veröffentlichten wir dazu einen Artikel vom Kollekiv "IfS dichtmachen", der die Rolle der Neuen Rechten beleuchtete sowie von Adrian Lauchengrund, der die Ideologie des Rechtsterrorismus analysierte und einen konsequenten Antifaschismus forderte.

Im vorliegenden Artikel plädiert Tamer Le Gruyere dafür, dass antifaschistische Kämpfe zum Ziel haben müssten, soziale Ungleichheit zu beseitigen. Dies würde zum einen den Kern rechtsextremer Ideologie treffen und zum anderen bei den Alltagsproblemen lohnabhängiger Klassen ansetzen.




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Der 13. Oktober 2019 war ein Novum in der jüngeren Geschichte des Antifaschismus in Halle/ Saale. An diesem Tag fand die bis dahin größte öffentliche Zusammenkunft zum Gedenken an die Opfer des kurz zuvor verübten rechtsterroristischen Anschlags statt. Die Tat hatte viele Menschen in Halle und darüber hinaus schwer erschüttert und so waren die Tage ohnehin geprägt von ungewöhnlichen Abläufen abseits des business-as-usual, das sich bald darauf wieder einstellen sollte.

Im vorliegenden Text soll es um das ungewöhnlich breite ad-hoc-Bündnis gehen, das damals gemeinsam auf die Straße ging um zu trauern und um ein deutliches Zeichen gegen die Bedrohung von rechts zu setzen.

Ein ungewöhnlich breites Bündnis
Im Mittelpunkt der Demonstration, die gemeinsam von den Betreibern des Kiez-Döner und dem Bündnis Halle gegen Rechts organisiert wurde, standen die Opfer des Anschlags. Die Demo zog „aus Respekt vor dem Bedürfnis nach Ruhe und Gebet“ nicht an der Synagoge vorbei. An ihrer Spitze liefen die Freunde von Kevin S. mit einem selbstgefertigten Schrein aus Holz, erkennbar als Fans des Halleschen Fußballclubs, daneben Ismet Tekin, der Betreiber des Kiez-Döner und einige Freund*innen, die ein schwarzen Transparent mit der Aufschrift „Solidarität – gegen Rassismus und Antisemitismus“ trugen. Für Kevin S., Jana L. und die jüdische Gemeinde wurden Lieder gespielt während die Teilnehmer*innen still gedachten. Zum Abschluss sprach Ismet Tekin. Er sagte, dass Halle seine Heimat sei und bedankte sich bei allen die an diesem und an weiteren Tagen dabei waren und ihre Unterstützung anboten.

Alles an dieser Veranstaltung war würdevoll und angemessen, soweit ich das von meiner Position aus beurteilen kann.

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„Seit Generationen predigen Antifaschist*innen, dass die Extreme Rechte in letzter Konsequenz eine Gefahr für fast alle Menschen darstellen.“

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Dieses ungewöhnliche Bündnis verschiedener Klassen und Milieus – Antifa, HFC-Fans, kurdische Community und bürgerliche Mitte – war eine Zweckgemeinschaft, was in diesem Fall zunächst etwas positives ist, auch wenn der Begriff negativ konnotiert ist. Seit Generationen predigen Antifaschist*innen, dass die Angriffe der Extremen Rechten sich nicht auf ihre klassischen Feinbilder beschränken und dass sie – einmal zur Macht gekommen – in letzter Konsequenz eine Gefahr für fast alle Menschen darstellen. Am 9. Oktober 2019 war die jüdische Gemeinde gemeint, aber ermordet wurden Jana L. und Kevin S. – zwei „ganz normale Menschen“ aus der „Mitte der Gesellschaft“. Das ist keine Anomalie sondern entspricht dem zugrunde liegenden Weltbild. Auch wenn Nazis immer wieder vorgeben für „das Volk“ zu sprechen, so scheren sie sich einen Dreck um jenes Volk, wenn seine Angehörigen ihnen widersprechen, zu schwach sind oder einfach nur im Weg stehen – ganz zu schweigen von solchen Menschen, die ohnehin aus dem Raster deutschtümelnder Normierungen fallen. Gegenwärtig reicht es aus, zu alt oder zu krank zu sein um vor dem Altar der Volksgemeinschaft geopfert zu werden. Sei es weil Rechte der Wirtschaft einen höheren Stellenwert als dem menschlichen Leben zusprechen oder weil verschwörungsideologisches Denken die Gefahren von Covid-19 schlichtweg nicht anerkennt und kleinredet.

Auch im Transit-Magazin wurde das ungewöhnliche Bündnis damals bemerkt und bejubelt. So schrieben Stefan Kontovitsis und Julian May-Johann, dass „die Reaktion auf den Terror in Halle als Beispiel für solidarisches Gedenken und die tatsächliche Unteilbarkeit von Menschen dienen“ kann.

Darüber diskutieren, wie man mehr Menschen erreicht
Dem stimme ich zu, aber ich werfe auch die Frage in den Raum, was seit dem Herbst 2019 geschehen ist. Im Gedenken lag die Chance den antifaschistischen Resonanzraum in Halle zu erweitern, neue dauerhafte Verbindungen zu knüpfen, neue Milieus einzubinden. Das ist nicht als Mahnung gemeint, sondern eine ehrliche Frage. Ich finde, dass es sich lohnt, darüber zu diskutieren, wie man mehr Menschen erreicht. Zu oft tritt der Antifaschismus als ein Bündel moralisch korrekter Einstellungen einiger Mittelschichtler*innen aus der Innenstadt auf. Das hat durchaus was mit Rezipient*innen zu tun, aber auch mit der Praxis des Antifaschismus selbst.

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„Antifaschismus muss etwas sein, was die Menschen als ihr eigenes Interesse entdecken und zu ihrem Anliegen machen.“

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Ich stelle die These zur Diskussion, dass Antifaschismus etwas sein muss, was die Menschen als ihr eigenes Interesse entdecken und zu ihrem Anliegen machen. Das taten die 2000 Menschen aus unterschiedlichen Milieus am 13. Oktober, aber das tut auch die Anwohner*inneninitiative Adam Kuckhoff Straße oder einige Menschen aus Schnellroda, die ein Problem mit Kubitschek haben. Indes, es tun noch zu wenige und diejenigen die es tun, rekrutieren sich in Halle zumeist aus denselben Milieus: Studierende, linksliberale Mittelschicht, linke Jugendliche und Junggebliebene aus verschiedenen Subkulturen.

Soziale Ungleichheit betrifft (fast) alle
Im Fortgang der Diskussion ließe sich darüber sprechen, wo die Interessen anderer Milieus liegen und ich schlage vor, das Problem der sozialen Ungleichheit als Kompass zu verwenden. Im Grunde genommen ist es einfach und deshalb gebe ich es vereinfacht wieder: Soziale Ungleichheit wird im Kapitalismus notwendig produziert – nicht nur auf ökonomischer, sondern auch auf geschlechtlicher und rassifizierter Basis. Der Begriff der Klasse bringt es auf den Punkt: Die meisten Menschen haben kein (nennenswertes) Eigentum an den Produktionsmitteln und müssen daher ihre Arbeitskraft verkaufen. Als Gegenleistung erhalten sie nicht den Wert des Produzierten, sondern lediglich den Wert der ihnen – also ihrer Arbeitskraft – eine Regeneration ermöglicht. Je nachdem wieviel Macht die arbeitenden Menschen in ihren jeweiligen Sektoren haben, ist das mal mehr oder mal weniger. Prekäre Arbeit in Sektoren in denen es keine Organisierung seitens der Arbeiter*innen gibt – sogenannte „Drecksjobs“ – wird häufig von rassifizierten Menschen ausgeübt – rassistische Zuschreibungen erzeugen soziale Ungleichheit. Die Reproduktion im Privaten wird zumeist von Frauen in unbezahlter Heimarbeit organisiert.

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„Antifaschistische Kämpfe müssen zum Ziel haben, die soziale Ungleichheit zu beseitigen und daher an verschiedenen Fronten ansetzen. Das können Proteste gegen Nazihäuser, Arbeitskämpfe, Klimademos, die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung und andere Momente sein.“

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Diese ohnehin tagtäglich reproduzierte Ungleichheit wirkt sich auf unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Ressourcen zwar unterschiedlich aus, ist aber ein Problem aller Lohnabhängigen. Die Extreme Rechte ist davon überzeugt, dass die Ungleichheiten natürlich sind, also ist sie daran interessiert sie stabil zu halten oder gar zu vergrößern. Dabei ist es zunächst unerheblich ob Rechtsextreme auch Neoliberale bekämpfen oder mehr Sozialleistungen für Deutsche fordern – ihr Ziel ist nicht die Beseitigung der sozialen Ungleichheit. Antifaschistische Kämpfe müssen zum Ziel haben, die soziale Ungleichheit zu beseitigen und daher an verschiedenen Fronten ansetzen. Das können Proteste gegen Nazihäuser, Arbeitskämpfe, Klimademos, die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung und andere Momente sein. Eine Auswahl sozialer Kämpfe in Halle findet sich hier.

In Sozialen Kämpfen wird gemeinsames Bewusstsein hergestellt
Es ist mir nicht wichtig, dass dabei der Begriff des Antifaschismus verwendet wird. Mir geht es nicht darum zu diskutieren, ab welcher theoretischen Grundlage oder mit welcher Praxis welches Label vergeben werden kann. Mir geht es darum, dass antifaschistisches Handeln zu oft von einem idealistischen, im Endeffekt exklusiven Standpunkt aus gedacht wird: Du gehörst nur dazu, wenn du die Ansprüche derjenigen erfüllst, die schon dabei sind. Ich fordere hingegen dazu auf, materialistisch zu denken, d.h. bei dem Alltag und den Interessen derjenigen anzusetzen, die von extrem rechter Ideologie bedroht sind. Kern dieser Ideologie ist die Radikalisierung von Ungleichheit auf allen gesellschaftlichen Ebenen: Ökonomie, Gesundheitswesen, Geschlechterverhältnis, Herkunft und viele weitere. Hieraus ergeben sich konkrete Ansatzpunkte für praktische Politik von unten.

In sozialen Kämpfen lassen sich Netzwerke, Bündnisse und Freundschaften schließen, die gepflegt werden müssen. Das Bewusstsein für das Gemeinsame muss also auch immer wieder hergestellt werden und es braucht Begriffe dafür. Der 13. Oktober war ein gutes Beispiel, ein Kristallisationspunkt hierfür, als sich unter dem Begriff der Trauer alle versammelten, die sich „zwischen Antifa und Andrea Berg“ wiederfinden konnten. Leider ist das singulär geblieben.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.