Vom Kleingartenverein zum Kriegsverbrechen

DOK Leipzig: Der Film "Verwundene Fäden" von Deborah Jeromin legt ein Stück Leipziger Lokalgeschichte frei.

von | veröffentlicht am 31.10 2020

Beitragsbild: Deborah Jeromin

Die diesjährige Ausgabe des DOK Leipzig Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm findet nicht mehr nur ausschließlich im Kinosaal statt. Coronabedingt ist es nun möglich fast alle Filme zwei Wochen lang digital on demand zu sehen. Wir möchten euch auch in diesem Jahr ein paar Filme vorstellen, die wir gesehen haben. Den Anfang macht der Essayfilm "Verwundene Fäden".




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Dass das nationalsozialistische System bis in die kleinsten Poren des Alltags hineinwirkte, dürfte für die meisten Leser:innen des Transit-Magazin eine Binsenweisheit sein. Wer jedoch, denkt bei diesem Thema an die Zucht von Seidenraupen? Die Seidenraupe war den Nationalsozialisten ein besonderes Tier, wurde sie doch benötigt um an den Rohstoff zur Herstellung von Fallschirmen zu gelangen. Also wurde die Produktion ab 1939 im kriegswirtschaftlichen Interesse hochgefahren. Im gesamten Reich entstanden z.T. kleinste Zuchtstätten für Seidenraupen – häufig in Schulgärten. Auch der Leipziger Kleingartenverein „Hoffnung West“ beteiligte sich. Hier wurden 5000 Maulbeerbüsche gepflanzt, die den Raupen als Nahrung dienten. In dem Film geht Jeromin diesem Sachverhalt nach. Im Büro des Vereins fand sie einen Ordner, der die Produktion genauestens dokumentiert.

Ohne die Raupen, ohne die Seide wäre es den Nazis nicht gelungen in den Jahren 1940 und 1941 Fallschirmjäger bei zahlreichen Angriffen auf europäische Länder einzusetzen. Eine besondere Rolle spielten die Fallschirmjäger bei der Besetzung der griechischen Insel Kreta. Jeromins Film führt hin zu den Massakern an der griechischen Zivilbevölkerung und der Vernichtung ihrer Dörfer, für die kein Angehöriger der Wehrmacht von einem deutschen Gericht verurteilt wurde, wie am Ende des Films ausgeführt wird. Zwar gab es Urteile gegen einige Generäle – jedoch im Rahmen der Nachfolgeverfahren der Nürnberger Prozesse – und auch diese wurden schließlich in frühzeitigen Begnadigungen aufgehoben, als strategische Erwägungen im Kalten Krieg wichtiger wurden.

Leider hält der Film den Spannungsbogen, der sich zu Beginn auftut, nicht durch. Die Freilegung des alltagsgeschichtlichen Aspekts der Leipziger Lokalgeschichte ist gut erzählt und man möchte mehr wissen über damalige Akteure und den konkreten Beitrag der Seidenraupenzucht des „Hoffnung West e.V.“. Auch drängt sich die Frage auf, wie in all den Jahrzehnten bis zu Jeromins Entdeckung mit dem Thema umgegangen oder eben nicht umgegangen wurde. Sie schreibt, dass fünf Leipziger Kleingärtenvereine im Nationalsozialismus Seidenraupenzucht betrieben hätten. Etliche Leute müssen also involviert gewesen sein, zumal die Zucht nichts war, was der Geheimhaltung unterlag.

Das offensichtliche Schweigen über solche vermeintlich nebensächlichen Aspekte des nationalsozialistischen Alltags ist nicht neu und überrascht nicht. Insofern ist es verständlich, dass Jeromin einen anderen Weg der Erzählung wählt. Sie beschäftigt sich zum einen mit dem Handwerk der Seidenraupenzucht selbst, als auch mit den Geschichten der Überlebenden der Massaker auf Kreta. Lange Kamerafahrten über die Landschaften der Insel sind unterlegt mit ineinander verwobenen Erzählungen von Gräueltaten, die die Deutschen begangen haben. Hier liegt aber auch eine Crux. Indem Jeromin den Opfern viel Raum gibt, ihre Geschichten zu erzählen, entspinnt sich ein Teppich aus Angst und Gewalt. Doch je länger dieser gewebt wird, umso mehr verflacht die Dramaturgie und man hat den Eindruck, dass die einzelnen Schicksale hinter einem kollektiven Leiden verschwinden. Zudem erfahren und sehen wir wenig von den meisten Personen die hinter diesen Geschichten stehen und die Aussagen sind so arrangiert, dass wir nur ahnen können wo ein Erzählstrang endet und der nächste beginnt. Die Metapher des „verwundenen Fadens“ liegt auf der Hand, hat aber den Nachteil, dass der Film in dieser Phase zäh wird. Statt den endlosen Landschaftsaufnahmen, würden mehr Bilder der Protagonistinnen an dieser Stelle gut passen. Die Aufnahmen und das Interview mit einer älteren, in Schwarz gekleideten Dame sind höchst eindrucksvoll.

Die dritte Ebene des Films, die Darstellung des Handwerks der Seidenherstellung trägt nicht besonders viel zu diesem Thema bei und streift für sich genommen doch einen interessanten Diskurs. So ist Seidenweberei ein eher weiblich konnotiertes Handwerk und sicherlich nicht zufällig sind alle im Film gezeigten handelnden Personen ebenfalls weiblich. In der Kunst gibt es durchaus einen feministischen Diskurs der sich mit der (Wieder-)aneignung verschiedener Handarbeiten als Strategie der Selbstbehauptung beschäftigt. Dieser Teil des Films könnte als Verweis hierauf gesehen werden. Leider passt sich diese dritte Ebene meines Erachtens nicht besonders gut in die Dramaturgie des Films ein. Wenn beispielsweise immer wieder Bilder von Webstühlen eingeschoben werden, wirkt das eher aufdringlich und neben der Geschichte der NS-Kriegsverbrechen fehl am Platze. Vielleicht ist es auch Geschmackssache, aber die politischen und historischen Aspekte hätten mich mehr interessiert.

Es muss nicht unbedingt etwas schlechtes sein, dass ein Film erstmal mehr Fragen aufwirft, als sie zu beantworten. Die Idee, darzustellen, wie sich eine vermeintliche Nebensächlichkeit, wie die Seidenraupenzucht in einem Kleingarten mit den Verbrechen des Nationalsozialismus verknüpft, ist großartig und hat Potential. Auch wenn dieses Potential nicht ausgeschöpft wird – da hätte es noch mehr Möglichkeiten gegeben, tiefer in gesellschaftliche Aspekte einzutauchen – ist der Film sehenswert und macht Lust, sich ebenfalls mehr mit Lokalgeschichte zu beschäftigen.

Verwundene Fäden läuft am 01.11.20 im Cinestar 2 um 12 Uhr und ist online verfügbar bis zum 13.11.20

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.