Stadt ohne Politik oder: Gegen die Selbstverständlichkeit

Ein Veranstaltungsbericht, der dann doch zum Essay wurde

von | veröffentlicht am 09.11 2017

Beitragsbild: Transit

Andrej Holms Vortrag vom 13.10.2017 an der Martin-Luther-Universität war nicht nur der Gründungsfunken neuer politischen Gruppen in Halle, sondern gibt uns im Transit Magazin einen Anlass zur Diskussion seiner Thesen.




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Vor einem prall gefüllten Hörsaal der MLU hielt Andrej Holm am 13.10.2017 einen Vortrag mit dem Titel »Recht auf Stadt – Repolitisierung der Stadtpolitik durch Rebellion«. Und allein vom Ende her gedacht, war dies schon ein gewisser Erfolg, denn in Reaktion auf den Vortrag trifft sich am 9.11. die Initiative »Recht auf Stadt Halle« zu ihrer offenen Gründungssitzung.

Nun ist der gesellschaftspolitische Effekt aber nicht unbedingt der Maßstab, anhand dessen wir ehrenamtlich organisierte, soziologische Vorträge für gewöhnlich messen (Wobei – könnten wir das nicht eigentlich öfter mal tun?) und daher sollten wir hier ein paar Zeilen darauf verwenden, uns Holms Darlegungen genauer anzuschauen. Dass diese Darlegungen nicht rein empirisch, sondern wahrlich thesenschwer daherkommen, zeigt der fast schon lyrische Untertitel an: »Repolitisierung der Stadtpolitik durch Rebellion«. Stadtpolitik ist demnach anscheinend nicht mehr politisch – denn ansonsten wäre ein Nachdenken über ihre Repolitisierung ja unnötig. Und ein Weg zu dieser Repolitisierung ist Rebellion, also ein Aufbegehren gegen das Establishment, die Autoritäten oder, abstrakter gesagt, konkrete Selbstverständlichkeiten. Beides, die Repolitisierung wie auch den Weg dahin, könne/solle/müsse man nun auch noch im Kontext eines Rechts auf Stadt verstehen.

Über Andrej Holm

Dr. Andrej Holm ist ein deutscher Sozialwissenschaftler mit den Themenschwerpunkten Stadterneuerung, Gentrifizierung und Wohnungspolitik. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität.

Die Idee vom Recht auf Stadt

Was das Recht auf Stadt ist, lasse sich, so meint Holm, besonders gut beantworten, wenn man eine konfliktorientierte Perspektive einnimmt: Mit dem Recht auf Stadt wird nämlich etwas eingefordert, das es jeweils noch nicht gibt. Oder, mit Blick auf die Akteur_innen ausgedrückt: Es wird nur von denjenigen eingefordert, die selbst von Verdrängung aus urbanen Räumen betroffen sind. Diese Verdrängung kann viele Gesichter haben: Teure Mieten verdrängen diejenigen, die sie nicht aufbringen wollen oder können. Die Bebauung von Freiflächen verdrängt diejenigen, die die Flächen andernfalls genutzt haben. Großprojekte, insbesondere industrielle, verdrängen Bewohner_innen als solche, die nicht in deren Umfeld leben wollen (oder auch wieder: nicht können). Der Abbau oder die Privatisierung öffentlicher Leistungen verdrängt diejenigen, die auf die »kollektive Konsumtion« im urbanen Raum angewiesen sind.

Über Henri Lefebvre

Die Ausdrücke »kollektive Konsumtion« wie auch »Recht auf Stadt« wurden durch Henri Lefebvre geprägt. Lefebvre war Soziologe und Philosoph und hat, unter anderem, zu sozialen Räumen und urbanem Leben geforscht. Sein Denken und Wirken gilt als einer der Auslöser für die Pariser Aufstände von 1968.

Die Funktion von Stadt

Wie die Konflikte, aus denen die Forderung nach einem Recht auf Stadt hervorgehen kann, also vielfältig sind, so ist auch das Recht auf Stadt kein uniformes Verlangen. Wiederkehrende Muster gibt es aber trotzdem: Selbst- und Mitbestimmung, Teilhabe und Anerkennung – emanzipatorische Themen und Bestrebungen also, die man auch andernorts findet. Um das Spezifische am Recht auf Stadt zu verstehen, braucht es ein Verständnis davon, was die Funktion von Stadt ist. Hierzu ist aus soziologischen, architektonischen und anderen, ich nenne sie mal: drittpersonalen, Perspektiven vieles geschrieben worden. Mindestens genauso wichtig wie diese sind meines Erachtens aber auch die erstpersonalen Bestimmungen derjenigen, die die Stadt für ihr Leben und ihre Belange schaffen und prägen. Was Stadt ist und welche Funktion sie erfüllt, kann also nicht losgelöst von den Menschen betrachtet werden, die Städter_innen sind und sein möchten. Dieser Gedanke führt einerseits wieder zurück zu den konkreten sozialen Kämpfen, die unter den Labels von Städten »für alle« u.ä. firmieren – macht dort aber nicht halt. Denn neben den fraglos legitimen, aber eben auch reaktiven Kämpfen gegen Verdrängung etc. brauchen wir eine aktive Artikulation dessen, was wir unter Stadt verstehen und des Lebens, das wir darin leben wollen. Und, der Zusatz sei mir erlaubt, diese Artikulation muss bestrebt sein, den fast schon paradoxen Spagat hinzubekommen, eine allgemeine Stimme zu bilden, die aber dennoch der Vielfalt und den vielfältigen Bedürfnissen der Städter_innen gerecht wird.

Entpolitisierte Politik

Mit solch einer Artikulation ist auch das Stichwort für den zweiten Komplex von Holms titelgebenden Thesen gelegt. Eine Repolitisierung von Stadtpolitik ist nicht bloß ein Desideratum, sondern, sofern man Politik für etwas Gutes hält, eine Notwendigkeit. Dass es überhaupt zu der entpolitisierten Stadtpolitik kommen kann, deren Heilung nun durch Rebellion herbeigeführt werden soll, macht Holm am Paradigma der »unternehmerischen Stadt« fest. Dieses ist unter anderem durch die folgenden Aspekte gekennzeichnet: Einwohner_innen werden als Ressource gesehen, um die geworben werden muss, Städte konkurrieren um Zuzügler_innen, genauso wie es in der Stadt eine Konkurrenz um Raum gibt, der Wohnungsmarkt ist einer stetigen Privatisierung und Finanzialisierung unterworfen. Es wird fleißig die unsichtbare Hand des Adam Smith beschworen und damit sie vernünftig walten kann, wird dereguliert was das Zeug hält. In Fragen der öffentlich Versorgung wird, wenn nicht sofort privatisiert, so doch auf Public-Private-Partnerships gesetzt und politischer Gestaltungswille ist ersetzt durch die Hoffnung auf eine ungebändigte unternehmerische Kreativität.

Diese Situation schafft zwei Typen der Entpolitisierung. Der erste ist schon im Paradigma benannt: Ganz unmittelbar ist »Politik« in der unternehmerischen Stadt nämlich geradezu verpönt – und es mischen sich nicht selten auch populistische Töne gegen das Establishment unter neoliberale Lobhudeleien auf die Freiheit und Schöpfungskraft des unternehmerischen Geistes. (Dass das Unsinn ist, lässt sich nun wirklich in einer Randnotiz abhandeln: Denn, frei nach Marx, sind die Interessen einer Unternehmerin ja nicht Schöpfung oder urbanes Wohlergehen als solche, sondern bestenfalls als Mittel zum Zweck der Profitmaximierung.) Politik gilt da nicht selten als graue, langweilige Verwaltung, die, mal als notwendiges Übel zur Bewältigung unrentabler Aufgaben auftritt und ein anderes mal als sinistre Nepotisten-Clique ihre Fäden zieht. Interessanterweise zeigt diese Ablehnung eine vielleicht auch unbewusste Einsicht in die regulative Kraft, die Politik haben kann. Die sie aber in der unternehmerischen Stadt eben nur noch immer weniger hat und die auch fleißig an ihrer eigenen Abschaffung arbeitet.

Der zweite Typ Entpolitisierung ist perfider. Er liegt in der Selbstverständlichkeit, mit der solche Prozesse geschehen. Ob als alternativlos »gerechtfertigt« (wenn man von Rechtfertigung noch sprechen kann) oder stillschweigend zu Normalität und Naturgesetz erklärt – allzu oft werden sie aus dem Raum der Freiheit und der Entscheidung (und der Diskussion, der Aushandlung, des Streits etc.) einfach entzogen. In diesem Moment ist aber alles Politische ebenfalls über Bord gegangen, denn ohne Modalitäten und Alternativen gibt es auch keine Politik. Etwas konkreter gesprochen: Wenn ein Stadtteil fortwährend »aufgewertet« wird und in Folge dieser Gentrifizierung die entsprechenden Verdrängungseffekte auftreten, dann ist diesem sozialen Übel schon längst das antipolitische Übel vorausgegangen, das nämlich darin bestand, dass man die Inwertsetzung von Wohnraum für selbstverständlich gehalten und sich nicht für Alternativen dazu eingesetzt hat.

Rebellion als Motor der Politisierung

Der Ausbruch aus dem postpolitischen Mechanismus ist dennoch möglich. Die alternativlose Stadtpolitik ist ja, wenn auch schon weitgehend entpolitisiert, Ausdruck einer politischen Entscheidung, die aber verhärtet, doktriniert und hegemonialisiert wurde. Nicht selten ist sie sogar Ausdruck einer Parteinahme für Interessengruppen, im Falle der unternehmerischen Stadt eben der Stadt als Unternehmen. Diese Verhärtung gilt es aufzuweichen und zu verflüssigen. Protest ist da sicherlich ein Teil des Weges, aber mit bloßer Lautstärke lässt sich keine Hegemonie machen. Dafür braucht es Rebellion – also die Verweigerung der Selbstverständlichkeiten – als Haltung und Störung als Aktion. Und der Vorteil liegt bei den geneigten Störer_innen, wenn sie es schaffen, die Mechanismen in den lokalen Gegebenheiten zu identifizieren. Denn: Der beste Mechanismus und die filigranste Maschine sind am stärksten störanfällig. Natürlich kann die beste Störung nur die Denkmöglichkeit abseits des Gegebenen anzeigen, also erst mal nur das negative »So nicht« transportieren, weswegen es zudem alternative Denk-, Handlungs-, Gestaltungs- und, ja, Politikangebote braucht. Und damit sind wir wieder bei der Artikulation kollektiver Interessen angelangt.

Hallische Selbstverständlichkeiten, Hallische Interventionen

Am Beispiel der urbanen Realitäten Halles wird sich vielleicht nicht alles wiederfinden, was man über die unternehmerische Stadt in Reinform sagen könnte. Aber vielleicht auch mehr als man einer ostdeutschen Großstadt, die noch nicht vom Hype überrollt wurde, zutrauen würde. Diese Analyse der lokalen Gegebenheit ist so mühselig wie sie wohl auch spannend sein kann. Und wer tatsächliche Hegemonien brechen will, kann diese Analyse nicht den Gegner_innen überlassen.

Gleichermaßen ist auch hier in Halle die Artikulation der kollektiven Interessen ein Prozess, der den Bedarfen unterschiedlichster Gruppen gerecht werden sollte. Und das heißt auch, dass Rede- und Artikulationsräume geschaffen werden müssen, die nicht nur den selbstverständlichen Sprecher_innen eine Stimme gibt, sondern auch jenen, die aufgrund von Vernetzung, Sprache und anderen Zugängen tendenziell ausgeschlossen sind.

Und so muss dieser Chimärentext, nachdem er eigentlich über eine Veranstaltung berichten wollte, dann aber zum Essay wurde, nun noch mit einem dritten Schritt enden: Dem Aufruf. Denn während hier bestenfalls ein wenig holprige Theoriearbeit geleistet wurde, übersteigt es die Fähigkeiten der_s Autor_in bei Weitem, besagte Lokalanalysen, Mechanismenidentifizierung, Artikulationsraumschaffung oder Störerplanung zu betreiben. Die Initiative Recht auf Stadt Halle ist sicherlich ein Puzzleteil. Und mit dem Transit Magazin möchten wir ebenfalls einen Freiraum anbieten, um diese Fragen zu diskutieren, Impulse zu setzen oder produktive Streits vom Zaun zu brechen. Also her mit euren Beiträgen und auf in die Debatte, Meine_r!

PS: Veranstaltung war super.

Recht auf Stadt Bewegungen / Recht auf Stadt Halle

Recht auf Stadt ist kein Dachverband aller Mietkampforganisationen. Vielmehr finden sich unter diesem Titel die Querschnitte der jeweils lokalen Initiativen und Akteure, die sich für ein besseres, vielfältiges und inklusives Leben im urbanen Raum einsetzen.

Auch die (noch zu konstituierende) Gruppe Recht auf Stadt Halle möchte sich als Netzwerk und Plattform verstehen. Ihre Gründungssitzung findet am 9.11.2017 um 18 Uhr in den Räumen von Radio Corax statt.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.