Politische Bildungsarbeit muss die strukturellen Ursachen in den Blick nehmen

Diskussionsimpulse zum Anschlag vom 09. Oktober 2019

von | veröffentlicht am 13.05 2020

Beitragsbild: Friedenskreis

Der Anschlag in Halle zeigte deutlich, dass Handlungsbedarf besteht und dass es Menschen gibt, denen unsere uneingeschränkte Solidarität nun mehr denn je zusteht.




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Nur Dank einer Verkettung glücklicher Umstände und vor allem Dank der vorausschauenden Eigensicherung der jüdischen Gemeinde blieben wir am 09.10. davor bewahrt, ein weitaus schlimmeres Gräuel bezeugen zu müssen. An diesen Umständen zeigt sich, dass das staatliche Krisenmanagement seine Grenzen erreicht hat. Und es zeigt sich einmal mehr, dass Perspektiven von Menschen, die von rechtem Terror bedroht sind, nach wie vor nicht Ernst genommen werden.

Lippenbekenntnisse in Sachsen-Anhalt
Auf die Frage, wie auf solche Bedrohungen reagiert werden soll, antworteten die Verantwortlichen im Land Sachsen-Anhalt und in der Bundespolitik oft mit unspezifischen Lippenbekenntnissen. Sie zeigten an viele Stellen kein echtes Problembewusstsein, betrieben keine kritische Fehleranalyse und zogen keine ernsthaften Schlussfolgerungen. Spätestens nach Hanau wird die Ohnmacht und das Schweigen der Behörden immer deutlicher und es wird immer klarer, dass es hier an ernsthaftem Willen fehlt, sich den zu Grunde liegenden Ursachen widmen zu wollen.

Uns ist es wichtig, klar zu benennen, dass die Beweggründe des Täters antisemitisch, rassistisch und antifeministisch waren, wobei deren struktureller, gesellschaftlicher Nährboden deutlich hervorgehoben werden muss. Genau in diesen Zusammenhang stellen wir auch das verfehlte Krisenmanagement der Behörden in der konkreten Situation. Darüber hinaus ist uns wichtig, dass die Geschehnisse nachhaltig aufgearbeitet werden und dass wir selbst – im Sinne der Selbstreflexion – mit der Aufarbeitung konsequent und gleichzeitig sensibel umgehen. Genauso wichtig ist es uns, solidarisch mit den Opfern und den potentiellen Opfern des Anschlages zu sein. Wir sehen uns hier in Halle in der Verantwortung, für die Communities der Menschen mit Migrationsgeschichte und die Communities der Menschen, die von Rassismus betroffen sind, ansprechbar zu sein. Denn unsere vielfältige, transkulturelle Bildungsarbeit, unser politisches Engagement und unsere Rolle als ausrichtende Organisation internationaler Freiwilligendienste erfordern es, dass wir die sonst fehlenden Möglichkeiten des Austausches und der Information bieten. Obwohl wir alle zutiefst schockiert waren, zeigte sich schnell die Motivation, noch vehementer für unsere Werte und Ziele einer freien, offenen und emanzipatorischen Gesellschaft einzutreten, in der Menschen gleichberechtigt miteinander leben wollen und können. Denn für uns sind die Misslagen, die wir für mitverantwortlich dafür halten, dass ein solcher Anschlag passieren konnte, weder neu noch überraschend.

Verstärkte staatliche Überwachung statt Reflexion des bisherigen Handelns
Seit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle ist noch kein halbes Jahr vergangen und erst vor einem Monat mussten wir in Hanau einen weiteren, zutiefst rechtsradikalen, rassistischen Anschlag auf Menschen in Deutschland beklagen. Seit dem 9. Oktober 2019 ist wenig Nachhaltiges passiert. Offenbar entwickeln sich hier verschiedene fragwürdige Routinen, wie auf solche Taten reagiert wird und wie solche Taten eingeordnet bzw. erklärt werden. Zwar wurden zahlreiche Aktionspläne und Forderungspunkte im staatlichen, im politischen und im medialen Raum veröffentlicht, sie folgen jedoch meist einseitig einer staatlichen Sicherheits- und Abschreckungslogik und zielen zu einem großen Teil darauf ab, entsprechende Instrumente der Überwachung auszubauen. Hingegen waren und sind gründliche, selbstkritische Analysen und Reflexionen des bisherigen staatlichen, politischen und medialen Handelns selten vernehmbar.

Die Mordserie des NSU hat gezeigt, dass staatliche Behörden nicht nur über Jahre den strukturellen Rechtsterrorismus ignorierten, sondern dass sie selbst tief in ihn verstrickt sind. Erst die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch rechte Täter führte im vergangenen Jahr zu einem tatsächlichen Umdenken. Allmählich erkennen auch staatliche Behörden, dass die rassistisch motivierten Morde des Nazi-Trios mit ihren unterstützenden Netzwerke kein Einzelphänomen sind.

Wir sind nicht bereit abzuwarten, dass es dem nächsten Täter gelingt, in eine gefüllte Synagoge oder Moschee einzudringen, bis staatliches Denken auch hier die strukturellen Probleme für Antisemitismus und Rassismus anerkennt. Schon im Fall des NSU hätten Menschenleben gerettet werden können. Dazu wäre es u.a. notwendig gewesen, die Opfer von rechtsterroristischen Taten und ihre Angehörigen einzubeziehen. Denn das Geschehene aus ihrer Perspektive zu betrachten, hätte dazu beitragen können, die rassistischen Morde als Rechtsterrorismus zu erkennen.

Strukturellen Antisemitismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen bekämpfen
Der Anschlag von Halle verdeutlicht erneut, dass der jüdische Glaube und ihm zugehörige Menschen vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte besonders geschützt werden müssen. Wer das ernst meint, muss frühzeitig, langfristig und nachhaltig daran arbeiten, strukturellen Antisemitismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu bekämpfen. Das Gleiche gilt auch für alle anderen Formen der Diskriminierung. Kurzfristig symbolische Politikangebote zu machen, hat für uns nichts damit zu tun, die Opfer solcher Gewalt Ernst zu nehmen.

Den meisten Aktionsplänen und Forderungen liegt jedoch das Bild eines im Internet radikalisierten Einzeltäters zu Grunde. Dieses eingeengte Narrativ vom Einzeltäter zeigt sich in den meisten Reaktionen auf die Anschläge von Halle und Hanau. Dabei bleiben längerfristige gesellschaftliche Tendenzen und Stimmungen als Folge politischen Handels unberücksichtigt. Das Bild des Einzeltäters begründet sich auf dem unzutreffenden, gesellschaftspolitischen Modell der „demokratischen Mitte“ und den „extremistischen Rändern“. Dieses sogenannte „Hufeisenmodell“ folgt weder einer wissenschaftlich haltbaren Analyse gesellschaftlicher Zustände, noch bietet es Handlungsmöglichkeiten, um nachhaltig und angemessen auf die Ereignisse am 09.10.2019 in Halle oder am 09.02.2020 in Hanau zu reagieren.

Antifaschistische zivilgesellschaftliche Initiativen werden diffamiert
Schon länger doch verstärkt seit einigen Monaten erleben wir, dass zivilgesellschaftlichen Initiativen und Vereinen Diffamierungen und Hindernisse entgegengebracht werden. Den einen wird vorgeworfen, ihr politisches Engagement sei antifaschistisch und damit extremistisch. Dieser Vorwurf gründet sich auf dem hartnäckigen Vorbehalt, dass antifaschistisches Engagement als linksextremistisch zu bewerten und folglich als verfassungsfeindlich einzustufen sei. Den anderen wird vorgeworfen, ihr politisches Engagement sei zu groß und damit nicht gemeinnützig. Es schwächt die Zivilgesellschaft, wenn antifaschistisches Engagement politisch negativ bewertet oder politisches Engagement als nicht gemeinnützig abgewertet wird. Denn beide Vorbehalte erschweren und verhindern den politischen Willen der Zivilgesellschaft, ernsthaft an den zu Grunde liegenden Mechanismen von Rassismus und Rechtsextremismus anzusetzen.

Wir werden Diffamierungen und Herabwürdigungen zivilgesellschaftlichen Engagements für Demokratie deutlich widersprechen. Vorbehalten, die unsere Arbeit für Demokratie oder unsere Gemeinnützigkeit in Frage stellen, werden wir unser eigenes Handeln transparent und beispielhaft entgegenstellen. Wie bei vielen anderen Organisationen sind auch für den Freidenkreis Halle e.V. politische Positionierungen und konkrete politische Arbeit untrennbar mit den anderen Bereichen des eigenen Engagements verbunden. Ohne politische Aspekte bleiben Friedensbildung und Friedensdienste auf individuell-persönliche Wirkungen begrenzt und strukturelle Veränderungen bleiben ausgeklammert. Das mag manchen genügen und staatspolitisch gewünscht sein. Wir aber wollen strukturelle Veränderungen, die über individuell-persönliche Aspekte hinaus gehen. Deswegen werden wir uns im Verbund mit anderen für ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht stark machen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass politisches Engagement als gemeinnütziges Engagement anerkannt wird. Wir treten dafür ein, dass politische Willensbildung als eigenständiges, gesellschaftlich wichtiges Engagement den anderen gemeinnützigen Zwecken gleichgestellt wird.

Forderung nach Aufarbeitung im Präventionsrat der Stadt
Als Friedenskreis Halle e.V. werden wir gezielt daran mitwirken, eine aktive Konfliktkultur zu entwickeln und zu etablieren. Wir werden politisch und in unserer Bildungsarbeit klar Position beziehen und diese als Streitangebot zur Diskussion stellen. Wir wollen für andere Positionen, für Gefühle und Ängste von Menschen offen sein. Wenn aber die Menschenwürde missachtet wird, legen wir Widerspruch ein. Menschenverachtenden Positionen, Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung geben wir bei unseren Veranstaltungen kein Podium. Dabei setzen wir uns mit diesen Positionen durchaus auch inhaltlich auseinander und stellen uns dem Gespräch, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Es muss ausgeschlossen sein, dass unsere Gesprächsbereitschaft instrumentalisiert wird. Unser Gegenüber muss bereit dazu sein, gewaltfrei zu streiten und anerkennen, dass unterschiedliche Positionen zur Meinungspluralität einer Demokratie gehören. Auf Wunsch muss Vertraulichkeit zugesagt und gewahrt werden.

Wir als Friedenskreis Halle e.V. setzen uns dafür ein, dass die Anschläge von Halle und Hanau u.a. auch im Präventionsrat der Stadt Halle aufgearbeitet werden und dafür, dass aus der Aufarbeitung konkrete und konsequente Schlussfolgerungen folgen. Kriseninformationen müssen beispielsweise zukünftig mehrsprachig erfolgen. Schulen dürfen mit der Bewältigung solcher Situationen nicht alleine gelassen werden. Hier wird eine ernsthafte Chance vertan, künftigen Generationen einen sensiblen Umgang mit Antisemitismus und Rassismus zu vermitteln und das Erlebte nicht als schlichten Einzelfall abzutun.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

Der Beitrag ist eine gekürzte Version des Textes „Diskussionsimpulse und Schlussfolgerungen des Friedenskreis Halle e.V. zum Anschlag vom 09. Oktober 2019 in Halle und zu den weiteren Entwicklungen der letzten Monate“, der zuerst am 30.03.20 hier erschien.