Blinder Fleck: Sozialdarwinismus

Rechte Gewalt gegen Wohnungslose, Arbeitslose, Suchtkranke und Menschen mit Behinderung

von und | veröffentlicht am 08.08 2022

Beitragsbild: Philipp W. L. Günther, ezra

Gewalttaten, wie der Mord an Klaus-Peter Kühn durch rechte Täter, werden von Justiz und Öffentlichkeit häufig entpolitisiert dargestellt. Sozialdarwinistische Tatmotive werden dadurch vernachlässigt, aus dem Fokus gerückt. Franz Zobel legt dar, dass es sich dabei um in rechten Ideologien tief verwurzelte Ansichten handelt und zeigt die Notwendigkeit einer öffentlichen Auseinandersetzung auf.




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Zuerst veröffentlicht in der Radio Corax Programmzeitung von August / September 2022

 

Es ist der 16. Juni 2012. In der im Thüringer Wald gelegenen Berg- und Waffenstadt Suhl dringen am frühen Abend drei Männer in die Wohnung von Klaus-Peter Kühn ein. Kühn ist im Viertel dafür bekannt, Leergut zu sammeln, um finanziell über die Runden zu kommen. Er ist zudem alkoholkrank. Die drei Männer schlagen mehrfach auf ihn ein und fordern Geld, das sie von ihm bekommen. Doch sie lassen nicht ab. Sie kommen wieder. Einmal, um ihn mit Schlägen, Tritten und Gegenständen zu traktieren. Und ein letztes Mal, um ihn mit äußerster Gewalt bis zum Tode zu foltern. Klaus-Peter Kühn verblutet in seiner Wohnung. Seine Leiche wird vier Tage später gefunden.

 

Nicht-Anerkennung als Tatmotivation

Für die Lokalzeitung ist schnell klar, dass es sich „ganz offensichtlich um einen Mord im Kriminellen- oder Drogenmilieu“ handelt. Dieser Entpolitisierung widerspricht als erstes die lokale Antifa-Gruppe. Die spätere Gerichtsverhandlung gibt Einblick in die menschenverachtende Ideologie der Täter: Kühn ist für die Täter nur ein „Penner“ gewesen. Reue zeigen sie nicht. Die sozialdarwinistische Tatmotivation wird im Prozess nicht herausgearbeitet und im Urteil nicht berücksichtigt. Die Richterin spricht zwar in einem Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEI T davon, dass die Täter ihre „sozialdarwinistische Lebenseinstellung“ offenbart hätten, doch bis heute ist Klaus-Peter Kühn von offiziellen Stellen nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Die Thüringer Opferberatungsstelle ezra registrierte den Fall im Jahr 2013 als rechtsmotivierten Mord.

Obwohl die Definition des Bundeskriminalamts zu „Politisch Motivierter Kriminalität – Rechts“ Sozialdarwinismus als Tatmotiv berücksichtigt, liegt die Diskrepanz zwischen polizeilicher und zivilgesellschaftlicher Erfassung in Todesfällen mit sozialdarwinistischer Motivation bei 70 Prozent. Das macht deutlich, dass hier massive Probleme bei der Einordnung durch Polizei, aber auch Justiz, bestehen. Damit bleibt rechte Gewalt zum Beispiel gegen wohnungslose oder behinderte Menschen in behördlichen Statistiken oft unsichtbar. Ähnlich verhält es sich mit der Medienberichterstattung, wie der Mord an Klaus-Peter Kühn zeigt: Artikel, in denen von einem Mord „wegen letztlich 27 Euro“ gesprochen wird, zeigen eine Kontinuität, in der Medien politisch blind sind gegenüber sozialdarwinistischen Tatmotiven. Hinzu kommt, dass die Darstellungen der Täter regelmäßig unkritisch übernommen und sozialdarwinistische Zuschreibungen reproduziert werden. Doch selbst in der Auseinandersetzung mit rechter Gewalt durch zivilgesellschaftliche Akteur:innen spielt Sozialdarwinismus häufig eine untergeordnete Rolle.

 

Sozialdarwinismus als rechte Ideologie

In sozialdarwinistischen Taten zeigt sich die Abwertung und Anfeindung gegenüber marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen aufgrund einer Beurteilung nach ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit und den Kosten und Nutzen, die sie für die Gesellschaft haben. Damit entspringt Sozialdarwinismus dem „Arbeitsethos und Leistungsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft“ und nicht zuletzt dem Kapitalismus, wie es Lucius Teidelbaum in seinem Buch „Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus“ schreibt. Sozialdarwinismus steht als Ideologie in direkter Tradition zum Nationalsozialismus, in der es eine systematische Verfolgung und Ermordung von als „Asozialen“ bezeichneten Menschen gab. Allein dem Euthanasieprogramm „Aktion T4“ fielen mehr als 100.000 Menschen zum Opfer, das sich gegen Kranke und Menschen mit Behinderung richtete. Insbesondere die sogenannte „Asozialenverfolgung“ ist kaum bekannt und spielt in der Erinnerung an die Verfolgten des Nationalsozialismus fast keine Rolle.

Sozialdarwinistische Gewalt in der Gegenwart betrifft vor allem Wohnungslose, (Langzeit-)Arbeitslose, Suchtkranke oder Menschen mit Behinderung als (vermeintliche) Transferleistungs-Empfänger:innen. Die dahinterstehende Ideologie ermöglicht den Täter:innen eine Entmenschlichung, die sich vielfach in einer enormen Brutalität zeigt. Im Fall von Klaus-Peter Kühn wird das auf erschreckende Art und Weise deutlich. Bevor die Täter ihr Opfer reglos zurückließen, stachen sie mit spitzen Holzstücken zu, sprangen auf seinen Körper, machten sich über ihn lustig und demütigten ihn, urinierten auf seinen Kopf und steckten einen glühenden Zigarettenstummel in seine Nase. Dass die Täter selbst einer sozial marginalisierten Gruppe angehören, ist motivgebend für eine Tat, in der sie sich selbst durch die Abwertung anderer aufwerteten.

Die aktuelle Folge der Webdokumentation gegenuns.de, die unter anderem in der Zusammenarbeit mit LOBBI, der Opferberatung für Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern, entstanden ist, thematisiert die tödliche Dimension rechter Gewalt gegen Wohnungslose in Greifswald. Es wird an die sozialdarwinistischen Morde an Klaus-Dieter Gerecke (24. Juni 2000), Rainer Gerecke (1. April 2000) und Eckhard Rütz (25. November 2000) erinnert. Die Webdokumentation gibt nicht nur einen Einblick in die 1990er/2000er Jahre, welche durch ein Klima der Angst durch Neonazis geprägt sind und in denen Wohnungslose für diese als ideologisch gerechtfertigte Ziele, zudem als wehrlose und „leichte Opfer“ gelten. Sie beleuchtet auch die Kontinuitäten bis in die DDR-Zeit zurück, in der unter anderem mit dem Paragraph 249 Strafgesetzbuch an die nationalsozialistische Verfolgung von vermeintlich arbeitsscheuen Menschen angeknüpft wurde, um den öffentlichen Raum von „kriminellen und ›asozialen‹ Personen zu säubern“.

 

Was tun?

Die Aktualität von Sozialdarwinismus als Tatmotiv wird auch an den Recherchen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe deutlich: In den vergangenen dreißig Jahren sind mehr als 580 wohnungslose Menschen durch Gewalttaten gestorben. Von einer hohen Dunkelziffer muss ausgegangen werden. Es ist zu befürchten, dass in einer Vielzahl der Fälle ein mögliches sozialdarwinistisches Tatmotiv auch von unabhängigen Stellen nicht registriert wurde. Zumindest legt das die Zählung von 218 Todesopfern rechter Gewalt seit 1990 durch die Amadeu-Antonio-Stiftung nahe. Daraus lässt sich auch ein selbstkritischer Auftrag an zivilgesellschaftliche Akteur:innen und Journalist:innen formulieren, diese Fälle wie auch Gewalt gegen (Langzeit-)Arbeitslose, Suchtkranke oder Menschen mit Behinderung, insbesondere im lokalen Kontext, mehr in den Blick zu nehmen. Das Versagen der Sicherheitsbehörden und der Justiz ist offensichtlich und muss mit der Forderung verbunden sein, die Nicht-Anerkennung von sozialdarwinistischen Tatmotiven durch entsprechende Maßnahmen, wie sie von den fachspezifischen Opferberatungen seit Jahren eingebracht werden, zu beenden.

Doch auch Sozialdarwinismus als Ideologie, die in der Gesellschaft weit verbreitet ist, muss viel mehr Thema in der Auseinandersetzung mit rechter Gewalt sein. Dazu kann es gehören, Kontinuitäten und die Aktualität von Sozialdarwinismus sichtbar zu machen, die eine intersektionelle Perspektive – insbesondere im Zusammenhang mit Rassismus – berücksichtigt. Auch die strukturelle und institutionelle Dimension muss thematisiert und mit entsprechenden Forderungen verbunden werden. Ein Beispiel ist die stattfindende Verdrängung von Wohnungslosen aus den Innenstädten. Aber auch die Reproduktion von sozialdarwinistischer Ideologie in Sprüchen wie „Assi“ oder „Du bist doch behindert“ muss reflektiert werden.

Es braucht zudem dringend die Solidarität mit den Betroffenen. Zu viele Menschen gucken weg, intervenieren nicht oder verweigern ihre Hilfe, wenn Menschen aus sozialdarwinistischen Motiven angegriffen werden. Eine Möglichkeit ist die Initiierung und Unterstützung von lokalem Gedenken. Die Mobile Opferberatung zur Unterstützung von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt erinnert zum Beispiel auf einer eigenen Webseite an die Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt, auf der sich neben den Todes- und Gedenktagen auch weitere Informationen finden.

Dem Gedenken an den brutalen rechten Mord vor zehn Jahren an Klaus-Peter Kühn widmete sich in diesem Jahr das „Suhler Bündnis für Demokratie und Toleranz, gegen Rechtsextremismus“. Es wurde auch ein Vortrag in der Stadtbibliothek organisiert. In einem nächsten Schritt will man eine Bürger:innenanfrage an die Stadt stellen, in der ein Gedenken und eine Aufarbeitung gefordert werden.

Franz Zobel

ist Projektkoordinator von ezra – Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen und hat Politikwissenschaften, Rechtswissenschaften und Neuere Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena studiert.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.