Sorge um das Heil im Diesseits

Über die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus

von | veröffentlicht am 11.11 2017

Beitragsbild: per.spectre

Einblicke in die Hintergründe der Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus versprach der erste Vortrag der Reihe „aufgetaucht. psychologie und gesellschaftskritik in halle“ zum Start des Wintersemesters. Die Wiener Psychotherapeutin Angelika Grubner referierte über das Kooperationsverhältnis zwischen Psychotherapie als „hegemoniale Behandlungsmethode“ und dem hegemonialen kapitalistischen System.




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In den letzten zehn Jahren hat sich die psychotherapeutische Klientel spürbar verändert. Das meint zumindest Angelika Grubner, systemische Psychotherapeutin. Vormals sei sie entweder von schwer psychiatrisch kranken Menschen oder solchen mit dem Willen zu einer individuellen Veränderung aufgesucht worden. Nun behandelten sie und ihre Zunft zunehmend von öffentlichen Stellen geschickte Personen, deren Lage zumeist einer prekären sozialen bzw. finanziellen Situation geschuldet seien. Das verordnete Ziel: „fit to work“ werden.

Ein Hintergrund dieser Entwicklung in Österreich, wo die frühere Sozialarbeiterin praktiziert, sei eine Gesetzesänderung in der Alpenrepublik: „Wer einen Antrag auf eine Invaliditätspension stellt, ist per Gesetz verpflichtet, an zumutbaren Rehabilitationsmaßnahmen mitzuwirken. Das gilt auch für Therapien für psychische Erkrankungen.“ Eigentlich berufsunfähige Menschen sind bei psychischen Ursachen bzw. Symptomen somit zu psychotherapeutischen Reha-Maßnahmen quasi zwangsverpflichtet. Andernfalls droht der Verlust des Lebensunterhaltes. Zum Nachweis müssten Klient*innen sich laut Grubner nicht nur das Aufsuchen einer Therapie bescheinigen lassen, sondern auch ihre Mitwirkungsbereitschaft. Kopfschütteln, denn schließlich ist die Freiwilligkeit der Behandlung ein zentraler Aspekt der Psychotherapie. Ohne eine solche Freiwilligkeit ist der tatsächliche Erfolg einer solchen Behandlung fraglich. Doch dies interessiere niemanden, so die Therapeutin, die sich mit ihrer Kritik an diesem Zustand weitgehend alleine sieht.

Psychotherapie als Anlaufstelle zur Lösung aller Probleme

Die Buchautorin formuliert zu dieser Entwicklung vier Thesen: Erstens würden Menschen im neoliberalen System selbst für ihre (mehr oder weniger prekäre) Situation verantwortlich gemacht werden. Zweitens werde jegliche menschliche Problematik mittlerweile als psychisch interpretiert. Und die Psychotherapie habe sich, drittens, als Anlaufstelle für die Lösung all dieser Probleme etabliert. Dass der zunehmende Bedarf nach Therapie in einem direkten Zusammenhang mit dem neoliberalen Gesellschaftssystem steht, werde schließlich, viertens, tabuisiert. Der Kontext, in dem Menschen aufwachsen, sich entwickeln und leben wird bei dieser individualisierten Sicht auf Probleme ignoriert. Die Möglichkeit, dass sich ja auch der Kontext ändern lässt – reduzierte Arbeitszeit, ein anderer Arbeitsplatz, ein individualisierter Unterricht in der Schule etc. – wird ausgeblendet.


Der Neoliberalismus produziert Reiche, die reicher werden, Arme, die ärmer werden, und „psychisch Kranke“ in einem historischen Ausmaß.


Grubner bezieht sich in ihrer Auseinandersetzung mit dieser Rolle der Psychotherapie auf den französischen Philosophen Michel Foucault, der in seinen Arbeiten unter anderem nach den gesellschaftlich relevanten Machtmechanismen der Psychiatrie gefragt hat. Nach Foucault hat die Psychotherapie die Macht darüber zu bestimmen, was normal ist und was nicht. „Ein Vernunftsubjekt muss arbeiten können“, lautet eine dieser Normen, so Grubner. Und was heutzutage als psychisch nicht normal gilt, ist bspw. im einflussreichen Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-V) verzeichnet, das von der ebenso einflussreichen Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA) herausgegeben wird.

Startete das erste DSM noch mit wenig mehr als 100 Klassifikationen, so finden sich in der aktuellen Ausgabe über 370 verschiedene Erkrankungen und Störungen. Gerade mit der letzten Neuerung wurden verschiedene leichte Beeinträchtigungen zu Krankheiten erhoben. „Die Kollegen scheuen sich nicht, einen großen Anteil von Gesunden zu Kranken zu machen“, sagte der damalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) mit Blick auf das Wirken der weltweit wichtigsten Lobbygruppe seines Berufsstandes. Es geht also bei der Erweiterung der Klassifikation nicht nur um eine bessere Differenzierung der bereits vorhandenen Kategorien, sondern um eine Ausweitung. Grubner, die sich selbst politisch „links“ verortet, sieht es so: Der Neoliberalismus produziere Reiche, die reicher werden, Arme, die ärmer werden, und „psychisch Kranke“ in einem historischen Ausmaß.

So ist es nicht verwunderlich, wenn Studien mithilfe von Screenings mittlerweile zu dem Ergebnis kommen, dass „der Anteil jener, die zumindest kurzzeitig unter einer psychischen Störung leiden, auf mehr als 80 Prozent“ beziffert werden könne. Zumindest über die gesamte Lebensspanne betrachtet. Bis zu einem Viertel der Bevölkerung leide zu einem bestimmten Zeitpunkt „akut unter einer psychischen Erkrankung“. Vor diesem Hintergrund ließe sich fragen: Ist es nicht normal, dass ein Mensch im Laufe seines Lebens wenigstens einmal seelisch schwer belastet ist? Warum wird dies dann immer noch als normabweichend stigmatisiert? Braucht es in jedem Fall gleich eine psychotherapeutische Behandlung? Und: Kommen die hohen Zahlen eher dadurch, dass die Kriterien für einen psychiatrischen Krankheitsfaktor immer leichter zu erfüllen sind, oder dass tatsächlich immer mehr Menschen unter psychischen Erkrankungen leiden. Forschungsergebnisse, die letzteres beantworten können, gibt es nicht. Es gibt ja nicht einmal belastbare “medizinischen Langzeitdaten zum Behandlungserfolg und Krankheitsverlauf bei psychotherapeutisch behandelten” Patient*innen.


Im Neoliberalismus wird weniger auf den Leidensdruck als auf die Funktionalität geblickt. Ob eine Person bspw. unter ihrer Arbeit oder auf der Schulbank leidet, ist zunächst zweitrangig.


In diesem Zusammenhang stellt sich auch eine andere wichtige Frage zur Rolle der Psychotherapie im Neoliberalismus: Geht es bei der Behandlung primär um die Wiederherstellung der Funktionalität, als bspw. der Arbeitsfähigkeit oder, im Falle von Heranwachsenden, der “Schulfähigkeit”, oder geht es in erster Linie um die Senkung des Leidensdruckes? Ethisch korrekt wäre die Priorisierung der Herstellung von subjektivem Wohlbefinden. Doch im Neoliberalismus wird weniger auf den Leidensdruck als auf die Funktionalität geblickt. Ob eine Person bspw. unter ihrer Arbeit oder auf der Schulbank leidet, ist zunächst zweitrangig. Wichtig ist, dass sie funktioniert, d. h. anwesend ist und ihr Soll erfüllt.

Psychotherapie als Reparaturwerkstatt des Neoliberalismus

Unter Neoliberalismus versteht Grubner eine Weltanschauung, die nach einem Kapitalismus ohne wohlfahrtsstaatlichen Anspruch strebt, mit den Grundsätzen eines minimalen Staates und einer hohen Selbstverantwortung der Bürger*innen. Der Staat werde auf die Schaffung optimaler Rahmenbedingungen für die Wirtschaft sowie auf die Leistung einer minimalistischen sozialen Unterstützung reduziert. Dabei werde nicht mehr nur die Arbeitskraft vermarktet, sondern das komplette Selbst. Subjektivität müsse sich vor allem an ihrer Marktförmigkeit messen lassen. Für ein Scheitern sei jede*r schließlich immer selbst verantwortlich. Menschen seien so zu einer permanenten Selbstoptimierung angehalten, in der das Selbst ausschlaggebend für ein gelingendes Leben ist. Grubner bezeichnet dies als „lebenslangen Arbeitseinsatz mit und an sich selbst“.


In diesem Klima der neoliberalen Subjektivierung werden Menschen, die diese Zustände nicht leben können oder nicht leben wollen, mit staatlichen Sanktionen überzogen.


In diesem Klima der neoliberalen Subjektivierung werden Menschen, die diese Zustände nicht leben können oder nicht leben wollen, mit staatlichen Sanktionen überzogen. Sie werden gezwungen, „im neoliberalen Karussell“ mitzufahren, wie das Rehabilitations-Beispiel aus Österreich oder die Hartz-IV-Gesetze und die Sanktionierungskultur deutscher „Jobcenter“ zeigen. Zur Verbildlichung reicht hier ein simples Gedankenexperiment: Mal angenommen, Du würdest morgen aus dem Karussell aussteigen: Woran würdest Du das merken? Und was würden Deine Bekannten darüber denken? Und auch in unsere Alltagssprache habe dieses Verständnis vom „Unternehmerischen Selbst“ schon längst Einzug gehalten, so Grubner: Wir investieren nicht mehr nur in materielle Werte, sondern bspw. in Beziehungen oder Freundschaften, wir fragen in allen möglichen Situationen nach dem Gewinn für uns und was der Preis für dies oder jenes Handeln sei.

Ein Schlüsselbegriff ist bei Grubner die Psyche: Diese sei nicht einfach schon immer da gewesen, sondern ein Produkt veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit der Auflösung des Feudalismus und dem Aufkommen der Industrialisierung habe sich, und hier ist die Psychotherapeutin wieder bei Foucault, die christliche Sorge um das Seelenheil im Jenseits zur Sorge um das Heil der Psyche im Diesseits gewandelt. Psyche, als innerer und optimierbarer Zustand, und Kapitalismus hätten sich somit parallel entwickelt, wobei die Psyche als Teil und Ausdrucksform der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und kapitalistischen Logik zu verstehen sei. Ihre Rolle: Sie solle die Einzelnen in der Selbstführung bzw. Selbstregierung unterstützen.


Die Psychotherapie arbeitet dem System eher zu, anstatt es im Sinne ihrer Klient*innen zu hinterfragen.


Und hier kommen die Psychotherapie und ihr immenser Zulauf ins Spiel: als Technologie des Selbst, die der Selbstkontrolle der Individuen diene. Grubner fordert ein Ende der Expansion: Die Vielfalt therapeutischer Angebote würde einen Sog entwickeln, sich als verbesserungsbedürftig und -fähig zu sehen und somit Optimierungen per Psychotherapie anzugehen. Die Psychotherapie arbeite dabei dem System eher zu, anstatt es im Sinne ihrer Klient*innen zu hinterfragen. Abweichungen würden als behandlungsfähig eingestuft. Eine Krise, ein Problem, eine psychische Erkrankung würden als persönliches Versagen angesehen – und nicht als Produkt eines unpassenden Kontextes.

Der Psychotherapie sei vor diesem Hintergrund ein Kooperationsverhältnis mit dem Kapitalismus zu unterstellen. Schließlich begleite sie die Menschen auf ihrem Weg der Unterwerfung unter das neoliberale Regime. Oder anders gesagt: Die Psychotherapie befördert die freiwillige Unterwerfung und stützt damit als tragende Säule die Totalität des Neoliberalismus. Dabei werde der Erfolg der Psychotherapie bei der Wahrnehmung ihrer Rolle als „Reparaturwerkstatt des Neoliberalismus“ völlig überschätzt, so Grubner.


Bevor sich das Gesundheitswesen stärker auf Menschen mit starken psychischen Erkrankungen konzentrieren kann, dürfte noch viel Zeit ins Land gehen, da die politischen Entscheidungsträger*innen weder etwas an der prekären Versorgungslage ändern, noch an den konkreten Lebensbedingungen.


Angesichts dessen fordert sie, dass die Psychotherapie, deren derzeitiger Blick ein zutiefst bürgerlicher sei, künftig mehr die gesellschaftlichen Mechanismen hinterfragen müsse, statt diese zu bedienen. Sie selbst schlägt ein radikales Umdenken vor: weg von der Norm der Autonomie hin zu einer Ethik des aufeinander Angewiesenseins. Es ließe sich auch Solidarität dazu sagen. Schließlich sei es eine Pflicht der Gesellschaft, Menschen mit zu tragen, die in dieser Gesellschaft nicht via Arbeit teilhaben können. Dies müsse Betroffenen klar gesagt werden – auch in der Psychotherapie. Das „Heer der Burnoutkranken“ lasse sich denn auch als Widerstand gegen das kapitalistische System lesen. Das Problem dabei: Noch richte sich die damit verbundene „Gewalt“ vor allem nach innen.

Was dies heißt, erleben ist bei immer mehr Menschen zu erleben, die über psychosomatische Beschwerden oder Erschöpfungssymptome klagen und deshalb ggf. der Arbeit fern bleiben. Schon in der Schule gibt es Schüler*innen, die morgens den Weg in die Schule vermeiden, mit Übelkeit, Erbrechen oder Bauchkrämpfen reagieren, ohne dass dafür bei der Tour von Diagnosetermin zu Diagnosetermin ein medizinischer Krankheitsfaktor gefunden wird. Oder sie reagieren nach außen mit sogenannten Verhaltensschwierigkeiten, die sich mit herkömmlicher Pädagogik und Erziehung kaum mehr in den Griff bekommen lassen. Der Hintergrund: Leistungsdruck im Klassenzimmer bzw. am Arbeitsplatz bei fehlender Wertschätzung, geringes Wohlbefinden und pessimistische Lebensaussichten, ein Mangel an pädagogisch versiertem Personal in der Schule, oder prekäre familiäre Verhältnisse zuhause bzw. Eltern, die selbst unter Dauerdruck stehen und ihren Kindern in der Folge keinen sicheren Rückhalt geben können.

Die vermeintliche Lösung: Psychotherapie – einzeln, paarweise, in der gesamten Kernfamilie oder in der Gruppe. Dabei würden sich am Arbeitsplatz, bei der Gestaltung von Arbeit, bzw. in der Schule und bei der Gestaltung von Unterricht viele Ansatzpunkte finden, die für die Verbesserung individueller Lebenslagen und Befindlichkeiten erfolgversprechender sind und gleichzeitig vielen Menschen zugutekommen würden. Hier mangelt es nicht an wissenschaftlichen und lebenspraktischen Erkenntnissen, sondern an der Umsetzung.

Das heißt alles nicht, dass es gar keine Psychotherapie braucht. Im Gegenteil! Es gibt viele Menschen, für die eine solche Therapie eine ebenso wichtige Unterstützung wäre wie der Gips für einen gebrochene Arm. Doch die Wartelisten sind lang und ein Therapieplatz allein garantiert keinen Erfolg, schon weil es zwischen Therapeut*in und Klient*in auch passen muss. Doch bevor sich das Gesundheitswesen stärker auf Menschen mit starken psychischen Erkrankungen konzentrieren kann, dürfte noch viel Zeit ins Land gehen, da die politischen Entscheidungsträger*innen weder etwas an der prekären Versorgungslage ändern, noch an den konkreten Lebensbedingungen, die Menschen psychische Probleme bereiten. Stattdessen wird weiter flexibilisiert und individualisiert. Sicherheit bleibt eine Frage des Innen- statt des Sozialministeriums. Und die Wartelisten der psychotherapeutischen Praxen werden länger.

aufgetaucht.

„aufgetaucht. psychologie und gesellschaftskritik in halle“ ist eine Gruppe, die Veranstaltungen zu Psychologie und Gesellschaftskritik durchführt.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.