Flucht und Exil

Filmrezensionen vom DOK Festival 2019

von und | veröffentlicht am 02.11 2019

Morgen steht der letzte Tag der diesjährigen Ausgabe des Leipziger DOK-Festivals an. Wir haben uns ein paar Filme angesehen und stellen sie euch vor.




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Gegen den Strom – Abgetaucht in Venezuela (von Sobo Swobodnik, Deutschland, 84min)

Worum geht’s?
Thomas Walter wird als Mitglied einer linksterroristischen Vereinigung vom BKA gesucht, seitdem er mit zwei weiteren Männern versucht haben soll, in der Nacht vom 10. zum 11. April 1995 ein unbewohntes, sich im Umbau befindliches Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau in die Luft zu sprengen. Vor zwei Jahren ist er wieder aufgetaucht und zwar in Venezuela, wo er auch prompt einen Asylantrag gestellt hat. Im Film spricht er offen darüber, wie seine Flucht verlaufen ist und dass er das Gewaltmonopol des Staates nach wie vor nicht anerkennt. Außerdem bekommt er Besuch von Mal Élevé, Ex-Frontmann von Irie Révoltés mit dem er Songs aufnimmt und wandern geht. Das Album soll im nächsten Jahr erscheinen und Geld einsammeln, um juristisch gegen die Ermittlungen vorzugehen.

Was kann man lernen?
Abtauchen und Flucht ins Exil sind eigentlich ganz einfach. Das wichtigste ist, dass die Leute dich und deine Geschichte mögen. Dann wirst du weitergereicht und irgendwie ist alles auch ganz schön cool.

Wer sollte sich das anschauen?
Fans von Bauwagenplätzen, Straßenkampfromantik, Militanzdebatten und Irie Révoltés, wobei es ein Problem ist, wenn man nur die ersten drei Sachen gut findet. Der Film ist vollgekleistert mit im besten Falle mäßiger Musik. Zusätzlich zum Joint Venture mit Mal Élevé, hat Thomas Walter auch Solo Songs geschrieben und der Film geizt nicht damit, diese in voller Länge abzuspielen. Die Solo Songs sollten seit der Premiere angeblich erhältlich sein, aber ich habe sie online nicht gefunden. Ich hätte gerne dafür eine Empfehlung ausgesprochen, denn – selbstmitleidige Gitarrenmusik hin oder her – niemand mag Abschiebeknäste und das Geld wird dringend gebraucht. Leider hab ich es online nicht gefunden, aber redaktion@transit-magazin.de freut sich über Hinweise.

Girls of Paadhai (von Natalie Preston, Deutschland 2019, 90min)

Worum geht‘s?
Paadhai ist ein Frauenhaus für Mädchen, die sich einer Zwangsheirat widersetzen sowie Kinder aus solchen Arrangements. Der Film verfolgt vor allem die Arbeit der Beraterin Sunitha und mehrerer ihrer Schützlinge. Darunter ist die zwanzigjährige Amulpriya, die aus einer Kaste kommt, in der die Mädchen schon im Alter von 13 bis 15 Jahren zwangsverheiratet werden. Amulpriya aber wehrt sich seit einigen Jahren erfolgreich dagegen und will lieber ein Jura-Studium beginnen.

Was kann man lernen?
Amulpriyas Mutter will nicht, dass ihre Tochter studiert. Sie unterliegt der Vorstellung, dass sie nur dann gut versorgt ist, wenn die Familie ihr einen Ehemann aussucht – und das obwohl mit arrangierten Ehen selber schlechte Erfahrungen gemacht hat. Sie wirft ihrer Tochter vor, dass sie ihr Leben lang hart arbeiten musste um die Familie zu ernähren weil es der Mann nicht tat. Es wird deutlich, dass die Mutter sich in ihrer Leistung nicht anerkannt fühlt und eifersüchtig auf die Tochter ist. Aber bei den arrangierten Ehen geht es um mehr. Amulpriyas Wunsch, Jura zu studieren bringt das gesamte Familiengefüge durcheinander. Denn laut Tradition dürfen ihre Brüder ebenfalls nicht heiraten, bevor sie es nicht getan hat. Die sind mittlerweile mit ihrer Geduld am Ende, denn ohne verheiratete Schwester, keine Freundin. Ein Ausbruch aus dem System arrangierter Ehen ist keine individuelle Entscheidung, sondern ein Kampf gegen die eigene Familie.

Wer sollte sich das anschauen?
Der Film meint es wirklich gut. Wir sehen individuelle schwere Schicksale und haben Mitleid mit knuddeligen Kleinkindern. Leider gibt es trotzdem kaum einen Spannungsbogen. Dass Amulpriya wirklich, wirklich, wirklich nicht heiraten, sondern lieber studieren will, finden wir als Zuschauer*innen absolut richtig. Als Film jedoch bleibt diese Story flach weil es kaum eine Entwicklung gibt. Erst gegen Ende wird die Konfliktlinie mit den Brüdern deutlich. Als ihre Betreuerin Sunitha von einem Selbstmordversuch Amulpriyas berichtet, geht der Film nicht weiter darauf ein. Manchmal hat man das Gefühl, die Leute sind ein bisschen eingeschüchtert von der Kamera. Trotzdem fängt der Film interessante Aufnahmen aus dem Alltag einiger Menschen im südlichen Indien ein.

In the Name of Scheherazade oder der erste Biergarten in Teheran (von Narges Kalhor, Deutschland 2019, 67min)

Worum geht‘s?
Scheherazade erzählt in 1001 Nacht Geschichten um zu überleben. In „In the Name of Scheherazade“ erzählt die Regisseurin Narges Kalhor eine Geschichte um den Ansprüchen eines Produzenten zu genügen. Unter anderem: die Geschichte einer Künstlerin, gebürtige Berlinerin, die während ihrer Performance mit Gummipuppen und Burka von einer Moderatorin immer wieder auf ihre vermeintliche Herkunft hin befragt und dazu aufgefordert wird, in ihrer Muttersprache zu sprechen. Oder: die Geschichte eines syrischen Flüchtlings, der sich den erniedrigenden Fragen eines sogenannten Entscheiders in der Ausländerbehörde stellen muss. Und schließlich: die Geschichte einer Bierbrauerin, die nach erfolgloser Arbeitssuche im deutschen Brauereibetrieb auf die Idee kommt, einen Biergarten in Teheran zu eröffnen und sich dafür mit allerlei Experten über bayrische Biertraditionen und alkoholfreies Bier unterhält. In einer exzentrischen Collage von bayrischer Folklore und iranischen Staatsoberhäuptern, Blechblaschor und Militärparade, schafft der Film einen Identitätsmix basierend auf Stereotypen. Stereotype, mit denen der Produzent die Filmemacherin wiederholt konfrontiert. Im Off hören wir, wie der Mann mit dem harten Namen Steinbrecher die Filmemacherin wiederholt dazu auffordert sich auf „ihre“ Geschichte als Migrantin zu konzentrieren. Filmästhetisch interessante Elemente wie z.B. die an 1001 Nach angelehnten Schattenspiele hält er für unnötige Spielereien; Aufnahmen nackter Männer für „sexistisch“; die Aussage des Syrers, dass er einen englischen Dolmetscher einem arabischen Vorziehen würde, da er die Erfahrung gemacht hat, diese seien homophob und würden seine Aussagen verfälschen, für „rassistisch“. Dafür gefällt ihm die Geschichte mit dem iranischen Biergarten. Aber er zeigt sich enttäuscht als die Idee an den Einwänden iranischer Behörden scheitert, die auf die eigene Gartentradition verweist und die die deutsche Suffkultur für unwürdig hält. Es handelt sich um Geschichten, das erfahren wir am Ende des Films, als sich das WG-Wohnzimmer der Filmemacherin in ein Filmset verwandelt und die Stimme Steinbrechers von der Figur des persischen Köng Schahryar kommt. Doch später erfahren wir im Gespräch mit der Regisseurin, dass sie die Aussagen des Produzenten fast originalgetreu von einem wirklichen Abnahmegespräch übernommen habe.

Was kann man lernen?
Im Publikumsgespräch wird die Regisseurin danach gefragt, ob es sich bei ihrem Film um einen Dokumentarfilm handelt, schließlich sei man hier ja auf einem Dokumentarfilmfestival. Außerdem wird sie danach gefragt, wie sie sich zu dieser unkonventionellen Form entschieden habe. Das Schablonendenken à la Steinbrecher, nach dem Filme nach Kategorien und Vorgehensweisen unterschieden werden müssen, erteilt sie bereits im Film eine klare Absage. Zur Form meint sie, dass sie nach zehn Jahren filmischer Misserfolge in Deutschland nichts mehr zu verlieren habe. Die radikale Freiheit mit der Narges Kalhor mit den Normen des filmischen Diskurses bricht ist erfrischend und in mehrerer Hinsicht subversiv. Immer wieder kehrt sie zu Aufnahmen ihres ersten Films zurück, den sie als 17-Jährige Filmschülerin gedreht hat. Er handelt von einer „Fliegenöl-Fabrik“ aus der die Fliegen vergeblich zu entkommen versuchen. Ein Bild für dafür, wie sie ihre Situation damals im Iran empfunden haben mag. Jahre später trifft sie in Deutschland auf eine ganz anders gelagerte Enge und Zensur, die sie in ihrem filmischen Schaffen einschränkt. Sie habe sich in den ganzen Jahren schon gefragt, warum sie nicht gleich im Iran geblieben sei. Der Film stellt sicherlich eine Befreiung dar, in persönlicher wie ästhetischer Hinsicht.

Wer sollte sich das anschauen?
Eine Besonderheit des DOK Festivals ist, dass die Organisator*innen besonderen Wert darauf legen, möglichst vielen Menschen den Zugang zu Filmkultur zu ermöglichen. Der Film „In the Name of Scheherazade“ ist Teil des barrierefreien Programms und wurde sowohl mit deutschen und englischen Untertiteln, als auch mit einer Audiodeskription (Hörfilm) gezeigt. Die Publikumsdiskussion wurde außerdem in Gebärdensprache übersetzt. Auf diese Weise eignet sich der Film auch für blinde und taube Menschen. Er läuft nochmal morgen, am Sonntag, 3.11., um 12:30 zusammen mit dem Kurzfilm „Andes Uprising, a Buffer City Re-Inventing Itself Through Architecture (2019)“

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.