Coronakrise: Lesen verboten!?

Warum es gerade jetzt Transparenz und Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen braucht

von | veröffentlicht am 05.04 2020

Beitragsbild: Transit

Angesichts der dringend notwendigen Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus werden Maßnahmen verhängt, die tief in unsere bisher für selbstverständlich gehaltenen Freiheiten eingreifen. Nicht alles sollte unwidersprochen geschluckt werden. Ein Kommentar.




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Wem geht es gerade auch so? Man schaut einen Film und sieht, wie sich darin zwei Menschen umarmen. Kurz schießt es einem durch den Kopf: „Das geht doch nicht!“ Oder man liest in einem Roman, wie eine Familie ins Restaurant geht. Auch hier: „Warum hat das denn geöffnet?“ Der menschliche Geist ist, bei allem Festhalten an Gewohnheiten, doch sehr anpassungsfähig. Aus vorher unvorstellbaren Zuständen wird in der Realität unglaublich schnell auch für den Kopf so etwas wie Normalität.

Was für unseren Emotions- und Stresshaushalt durchaus eine wichtige Funktion hat – das Eindämmen übermäßiger Ängste und Sorgen oder Stressreaktionen, die uns auf Dauer krank machen – sollte uns auf längere Sicht zu denken geben: Was macht das mit uns? Was bleibt davon übrig? Kann das später als Blaupause für politische Negativentwicklungen dienen?

Wie schnell das Gehirn dann tatsächlich vormals bedeutungslose Szenen in Filmen oder Literatur als „ungewöhnlich“ markiert, ist geradezu gruselig. Doch kein Vergleich mit jenen anderen, die im Netz ungeniert verbreiten, welche Situationen sie schon bei der Polizei gemeldet haben, in denen Menschen sich aus ihrer Sicht nicht an die Kontakt- und Versammlungsverbote hielten.

Und nein, das sind nicht nur Menschen, die zuvor schon durch einen offensiven Hang zum Autoritären aufgefallen waren. So beklagte Valentin Hacken, Sprecher vom Bündnis Halle gegen Rechts, schon am 20. März bei Twitter, dass sich „auch bei Linken eine merkwürdige Lust an Strafe und Zwang“ zeige. Es sei aber keine linke Perspektive, „den ‚Einzelnen‘ und seine ‚Verantwortung‘ absolut zu setzen und wenn er sie nicht erfüllt, Zwang zu fordern“.

Wir sollten also aufpassen: dass wir nicht relativ schleichend in einen Zustand hineingleiten, mit dem wir uns dann doch irgendwie arrangieren können; dass wir uns nicht heimlich darüber freuen, wenn die schon immer Unbelehrbaren und Unvernünftigen jetzt endlich mal von Ordnungskräften zur Rechenschaft gezogen werden; dass wir nicht alles kritiklos schlucken, was uns mit dem angesichts der Dimension der Coronakrise gerechtfertigten Prinzip der Kontaktminimierung an Beschränkungen auferlegt wird.

Jede Einschränkung der Freiheitsrechte ist per se kritikwürdig, auch wenn sie vorübergehend der Rettung von Menschenleben dient. Jede Einschränkung der Freiheitsrechte muss nachvollziehbar, transparent und verhältnismäßig gestaltet sein. Ein Versammlungsverbot erfüllt diese Kriterien dann, wenn es mit Verweis auf die Unterbindung von wissenschaftlich belegten Ansteckungswegen für einen befristeten Zeitraum erlassen wird. Ein Abstandsgebot ebenso.

Kritisch wird es da, wo Unschärfen entstehen. Wenn beispielsweise die Stadt Halle das Sonnenbaden auf der Wiese und das Lesen von Büchern in der Öffentlichkeit quasi verbietet und dies damit begründet, dass die Kontaktbeschränkungen nicht aufgeweicht werden dürften – fragwürdig insbesondere dann, wenn jenseits der nur auf Landkarten sichtbaren Stadtgrenzen solche Selbstverständlichkeiten weiter erlaubt bleiben. Hier beginnen behördliche Maßnahmen unverhältnismäßig, ja willkürlich zu werden: Warum das Lesen von Büchern oder das Verweilen auf einer Wiese unter Einhaltung von geltenden Kontakt- und Versammlungsbeschränkungen nicht erlaubt sein soll, bleibt unbegründet und somit nicht nachvollziehbar.

Ja, solche und andere Maßnahmen – von denen deutschlandweit derzeit zuhauf berichtet wird – sind auch unter gesundheitlichen Aspekten sogar als schädlich einzustufen. Mal ganz abgesehen davon, dass ausgerechnet das Lesen von Büchern in der Öffentlichkeit von Polizei und Ordnungsamt unterbunden wird, während auf der Nachbarbank sich ausruhende Freizeitsportler*innen oder erschöpfte Spaziergänger*innen unangetastet bleiben. Gerade jetzt, inmitten einer Pandemie, die unseren Bewegungsradius auf ein Minimum beschränkt, braucht es einen umso wacheren und bewegungsfreieren Geist. Vitaminproduzierendes Sonnenlicht ist hierfür nachweislich ein zentraler Faktor. Und das Lesen von Büchern war seit der Erfindung des Buchdruckes ein wesentliches Zeichen für nach Aufklärung und Freiheit strebende Gesellschaften und Individuen.

Und warum nicht Sonne und Lesen miteinander verbinden können? Oder einfach nur Sonne und Erholung im Freien? Das für die Gesundheit zuständige Ministerium in Sachsen-Anhalt zählt mit Verweis auf die eigene Verordnung zum Erholungsaufenthalt im Freien „laufend, stehend und sitzend“ als adäquate Tätigkeiten ausdrücklich dazu. Warum ist das dann nicht auch möglich?

Hier zeigt sich im Übrigen auch die soziale Ungleichheit, die in Ausgangsbeschränkungen liegt. Menschen mit Balkonen, Terrassen oder Gartengrundstücken haben es weiterhin nicht schwer, mehr oder weniger uneingeschränkt und unkontrolliert Frischluft und Sonnenlicht zu tanken. Wem das nicht vergönnt ist, hat hier das Nachsehen. Besonders schwerwiegend für jene, die ohnehin in beengten Verhältnissen leben. Dass diese Menschen jetzt besonders leiden, wird von der derzeit praktizierenden „Politik der Mitte“ oft nicht berücksichtigt.

Gerade jetzt braucht es also Transparenz und Verhältnismäßigkeit, wenn es um Kontaktbeschränkungen, Versammlungsbeschränkungen, Ausgangsbeschränkungen, Arbeitsbeschränkungen oder Freizeitbeschränkungen im großen Stil geht. Und nein, damit wird das Prinzip der Kontaktbeschränkungen eben nicht in Abrede gestellt. „Wir haben doch gerade wichtigeres zu tun als über [Klimawandel, Datenschutz, Geflüchtete, Menschenrechte, Seenotrettung …] nachzudenken“ ist leider ein in diesen Zeiten allzu oft verwendetes Totschlagargument.

Nein, es kann für unsere Gesellschaft nur förderlich sein, gerade jetzt auf Transparenz und Verhältnismäßigkeit zu pochen, damit wir uns nicht doch an vieles zu sehr gewöhnen, damit ungerechtfertigte Maßnahmen sich nicht als zu einfach durchsetzbar erweisen, damit keine Präzedenzfälle für zukünftige Ausnahmezustände geschaffen werden, damit wir vor allem mental möglichst unbelastet durch diese Pandemie kommen.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

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