Was bedeutet Solidarität?

Ein Plädoyer für einen konsequenten Antifaschismus

von | veröffentlicht am 29.04 2020

Beitragsbild: Transit

Am 9. Oktober 2019 ereignete sich der versuchte Massenmord an Jüdinnen und Juden in Halle, bei dem zwei Menschen erschossen wurden. Transit hatte anlässlich der inzwischen eingekehrten „Ruhe“ mit einem Call for Papers dazu aufgerufen, Beiträge rund um das Thema einzureichen. In diesem Beitrag beschreibt der Autor nach einer Analyse der antisemitischen, antifeministischen und rassistischen Hintergründe rechtsradikalen Denkens und rechter Anschläge Bedingungen für eine wirkliche Demokratisierung als Grundlage für einen konsequenten Antifaschismus.




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Was bedeutet es den Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle ernst zu nehmen und was heißt das für den gesellschaftlichen Umgang damit? Den Anschlag ernst zu nehmen, würde bedeuten, die Bedrohung ernst zu nehmen, die von Neonazis und rechtsradikalen Aktivisten und Strukturen im Besonderen und der Verbreitung rechtsgerichteter Ideologie im Allgemeinen ausgeht. Es würde bedeuten, die ideologischen Hintergründe rechtsgerichteter Bewegungen und deren Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen aufzuklären und zu diskutieren. Es würde auch bedeuten, darüber zu reden, was das dann heißen würde in Hinblick darauf, wie ein solidarisches Zusammenleben organisiert und der rechten Bedrohung begegnet werden kann.

Es geht darum, dass die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen rechtsradikaler Potentiale entscheidend für alle Versuche ist, diesen entgegenzuwirken.

Besonders seit dem Anschlag von Hanau wird verstärkt darauf hingewiesen, dass es wichtig sei, die Aufmerksamkeit vor allem auf die Opfer des Anschlags zu richten. Das ist auch völlig richtig, aber die Perspektive auf die Opfer beinhaltet auch die Frage danach, welchen Hintergrund es hat, dass genau diese besonderen Menschen angegriffen wurden bzw. dem Anschlag zum Opfer gefallen sind. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage kommt nicht ohne eine Auseinandersetzung mit dem ideologischen Hintergrund rechtsradikaler Anschläge aus. Dies bedeutet nicht, dass die Aufmerksamkeit vom Schicksal der Opfer auf das der Täter verlagert werden soll. Es geht vielmehr darum, dass die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen rechtsradikaler Potentiale entscheidend für alle Versuche ist, diesen entgegenzuwirken. Die Täter von Halle und Hanau haben in ihren jeweiligen Äußerungen eindeutige Hinweise darauf hinterlassen, welche Motivationen ihren Anschlägen jeweils zugrunde lagen. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Ideologien ist notwendig, um erkennen zu können, was es heißt gegen Rechts und für eine solidarische Gesellschaft zu sein.

Ideologische Schemata rechtsradikalen Denkens

Der Täter von Halle hat die ideologischen Schemata des rechtsradikalen Denkens sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Er behauptet, der Feminismus sei die Ursache für sinkende Geburtenraten im Westen, die dann als Rechtfertigung für Masseneinwanderung dienen würden, die Wurzel aller Probleme aber seien die Juden. In diesen wenigen Worten ist das ganze ideologische Weltbild der sogenannten neuen Rechten zusammengefasst. Darin wird eine spezifische Verbindung zwischen Antifeminismus, Rassismus und Antisemitismus hergestellt. Diese spezifische ideologische Verbindung zu verfolgen und deren Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen genauer nachzugehen, ist von entscheidender Bedeutung für das Erkennen der „objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen“ (Adorno, 1959: 22) rechtsradikaler Potentiale und faschistischer Bewegungen. Ein solches genaueres Erkennen wäre die Grundlage für eine „bestimmte Negation“ dieser objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus, also der Veränderung und Abschaffung genau derjenigen gesellschaftlichen Bedingungen, die zum Rechtsradikalismus führen. Dies wäre die letztlich ausschlaggebende, praktisch wirksame Entgegnung gegenüber der Bedrohung von Rechts. Diese spezifische ideologische Verbindung, die im Denken der neuen Rechten hergestellt wird, findet ihren Ausdruck in der Ideologie des „großen Austauschs“. Diese ideologische Konstruktion zeigt wie in einem Brennglas, dass die rechten Vorstellungen im Kern auf einem Verschwörungsdenken beruhen und nicht auf einer wirklichen Auseinandersetzung mit den materiellen, ökonomischen und politischen Verhältnissen. Werden diese ideologischen Vorstellungen auf ihre tatsächliche Grundlage, also auf ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen zurückgeführt, besteht die Möglichkeit zu einem wirksamen Eingreifen, das über die Ebene moralischer Appelle hinauszuführen vermag.

Wie ist nun aber der Zusammenhang der Ideologeme untereinander und mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu verstehen? Es ist mittlerweile durch die Analyse des Antisemitismus gut bekannt, auf welche Weise dieser als umfassende ideologische Welterklärung verstanden werden muss und auf welche Weise er bei seinen Anhängern die Funktion eines Kritikersatzes gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen einnimmt. Das Ideologem des „großen Austauschs“ ist eine modernisierte Form antisemitischer Verschwörungsideologeme, das zugleich antiemanzipatorische bzw. antimarxistische oder antikommunistische, sowie antifeministische und rassistische Elemente oder Anschlusspunkte beinhaltet. Es kann damit als geradezu idealtypisches Beispiel für die „intersektionale Ideologie“ des Antisemitismus angesehen werden, wie sie von Karin Stögner (2017) beschrieben wird. Dieser Analyse folgend, wären Antisemitismus, Antifeminismus, Antikommunismus und Rassismus nicht als disparate Phänomene zu betrachten, die in kontingenter Weise zusammenkommen, sondern in ihrem spezifischen Zusammenhang innerhalb der gesellschaftlichen Totalität von Produktion und Reproduktion. Die Modernisierung gegenüber älteren Formen antisemitischer Ideologie besteht dabei nur darin, dass zwar immer noch von geheimen Machenschaften von im Hintergrund wirkenden Mächten ausgegangen wird, diese aber nicht mehr explizit als jüdisch bezeichnet werden. Ein Antisemitismus ohne Antisemiten also, der sich nicht mehr offen als solcher bekennt, aber den gleichen ideologischen Strukturen folgt. Der Täter von Halle hat sich dieser ohnehin nur verschleiernden Form der Modernisierung aber verweigert und den antisemitischen Kern dieser Ideologie ganz offen ausgesprochen.

Antisemitismus als Ideologie

Antisemitismus als Ideologie ist die Projektion der abstrakten Seite der kapitalistischen Produktionsweise, also der Prinzipien der Kapitalakkumulation und der Wertverwertung, auf eine bestimmte Personengruppe. Es handelt sich dabei um Realabstraktionen, denen innerhalb von Gesellschaften mit dieser Produktionsweise alle mehr oder weniger unbewusst folgen, wodurch sowohl die Verhältnisse als auch die dazugehörigen Abstraktionen ebenfalls von allen mehr oder weniger bewusst reproduziert werden. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schreiben in den in der Dialektik der Aufklärung enthaltenen Elementen des Antisemitismus, der bürgerliche Antisemitismus habe „einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion“ (1987: 202). Wird die Ursache ökonomischer Ausbeutung, der Bedrohung und der Realität sozialen Abstiegs, von Vereinzelung, von steigendem Druck zur Rationalisierung, Flexibilisierung und Eigenverantwortung, von drohender Überflüssigkeit und weiteren gesellschaftlichen Krisenerscheinungen nicht im Produktionssystem selbst erkannt, erfolgt tendenziell eine Verschiebung in die Sphäre von Handel, Finanz und Spekulation: »Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein« (ebd.: 204). Diese Tendenz wird durch den von Karl Marx beschriebenen, der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlichen Fetischismus nahegelegt, dem die gesellschaftlichen Verhältnisse als Verhältnisse von Dingen erscheinen (Marx 1975: 86), da der Ursprung des Werts in der gesellschaftlich notwendigen Arbeit und der Ursprung des Mehrwerts und der Ausbeutung in der Mehrarbeit nicht offensichtlich sind.

Der Antisemitismus ist als gewaltsamer Versuch, der Gewalt der gesellschaftlichen Verhältnisse mächtig zu werden, zu verstehen.

Deutlich wird diese Denkweise in dem im Parteiprogramm der NSDAP enthaltenen Programmpunkt der „Brechung der Zinsknechtschaft“, der keine antikapitalistische oder sozialpolitische Forderung, sondern eindeutig antisemitische Ideologie darstellt, die sich gegen die mit dem “raffenden Kapital“ identifizierten Juden richtet. Der Begriff des „Sozialismus“ wird dementsprechend vom Nationalsozialismus als gleichbedeutend mit „Volksgemeinschaft“ verstanden, die streng hierarchisch organisiert ist und alles „volksfremde“ ausschließt, bekämpft und vernichtet, und hat nichts zu tun mit einer Befreiung von Ausbeutung und Herrschaft. Der Antisemitismus ist der von vornherein zum Scheitern verurteilte Versuch, die abstrakte Seite des Kapitalverhältnisses und dessen gesellschaftlicher Folgeerscheinungen von der konkreten Seite abzutrennen, im falschen Glauben, dadurch einen rein „schaffenden“ Kapitalismus ohne die vorgestellte „heimtückische“ Ausbeutung durch „parasitäre“ Mächte errichten zu können. Weil dieses Vorhaben aber nicht gelingen kann, da all diese Erscheinungen, die realen Abstraktionen und die konkreten Vorgänge in der Produktion untrennbar miteinander zusammenhängen, ebenso wie diese mit den gesellschaftlichen Folgeerscheinungen, kann der Versuch einer Durchsetzung dieser Vorstellungen nur mit Zwang und Gewalt einhergehen. Der Antisemitismus ist daher als gewaltsamer Versuch, der Gewalt der gesellschaftlichen Verhältnisse mächtig zu werden, zu verstehen: „Der Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft unmittelbar der Herrschaft nutzbar zu machen strebt“ (Horkheimer & Adorno 1987: 215).

Feindbild »Kulturmarxismus«

Mit dem Antisemitismus verbunden ist schon seit langem, spätestens aber seit dem Nationalsozialismus, ein Antifeminismus, der Jüdinnen und Juden als verantwortlich für die Verbreitung von Ideen der Frauenemanzipation und des Feminismus ansieht, die die traditionelle Rolle der Frau und die traditionelle Form der Familie untergraben und so zur Zerstörung und zum Niedergang des vorgestellten „Volkes“ oder der Nation führen würden. Diese Vorstellung steht wiederum in einem engen Zusammenhang mit einer weiteren Vorstellung, die heute als die eines „cultural Marxism“ oder eines „Kulturmarxismus“ bekannt ist, die aber schon in der Vorstellung des „Kulturbolschewismus“ vorhanden war, die in den 1920er und 1930er Jahren nicht nur von der nationalsozialistischen Propaganda, sondern auch in der bürgerlichen Publizistik außerordentlich weit verbreitet wurde.

Diese Vorstellung von einem „Kulturmarxismus“ beinhaltet, dass dieser es anstreben würde, Institutionen wie die Nation, das Heimatland, traditionelle Hierarchien, Autorität, Familie, das Christentum und die traditionelle Moral zu zerstören, um ein ultra-egalitäres und multikulturelles, wurzelloses und seelenloses globales System zu errichten (Jamin 2018: 7). Die Herkunft dieses “Kulturmarxismus“ wird, zunächst in rechten Kreisen in den USA, dann aber auch weltweit verbreitet, auf die Frankfurter Schule zurückgeführt. Mit diesem Namen wird eine Gruppe von kritisch-theoretischen Intellektuellen bezeichnet, zu denen auch Horkheimer und Adorno gehören, die sich um die Fortführung und Erweiterung einer von Marx inspirierten Kritik der Gesellschaft bemühten und die mehrheitlich einen jüdisch-familiären Hintergrund hatten. Mit ihrer Emigration in die USA — die aufgrund ihrer akuten Bedrohung durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten notwendig geworden war — und der Etablierung einiger von ihnen an amerikanischen Universitäten, wobei am prominentesten dabei wohl Herbert Marcuse ist, hätten sie diese Ideen, sozusagen von der Sowjetunion ausgehend, in die westlichen Gesellschaften gebracht und sie dadurch von Innen durchsetzt.

In dieser Vorstellung ist „Kulturmarxismus“ gleichzusetzen mit Multikulturalismus und mit Political Correctness, wobei zu seinen zentralen Werkzeugen zur Unterminierung traditioneller Institutionen und Werte die Ideen der Frauenemanzipation und des Feminismus gehörten. Damit sei die traditionelle Familie zerstört, die angestammte Stellung und Autorität des Mannes in der Familie und in der Gesellschaft untergraben und die Bereitschaft der Frauen, Kinder zu gebären, angegriffen worden, wodurch der Niedergang des Westens und seiner Nationen drohe.

In der BRD ist dieses Motiv der Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung durch den „Kulturmarxismus“ in einer anderen Variante weit verbreitet. Diese Variante führt gesellschaftliche Veränderungen, die als Verfallserscheinungen angesehen werden, auf den Einfluss der 1968er Bewegung zurück, die mit ihren Vorstellungen von gesellschaftlicher Emanzipation, sexueller Emanzipation, Frauenbefreiung und Feminismus, Sozialismus, Ökologie und Multikulturalismus die traditionellen Grundlagen der Gesellschaft zerstört habe und mit ihrem „Marsch durch die Institutionen“ nun in die herrschenden Positionen gelangt sei. Das ist das Motiv der „linksgrünen Ideologie“, das davon ausgeht, Linke und Grüne würden eine „kulturelle Hegemonie“ ausüben, wodurch ein „linksgrüner Mainstream“ „politisch korrekter Gutmenschen“ gesellschaftlich bestimmend wäre, der eine „Meinungsdiktatur“ mit zugehöriger „Lügenpresse“ hergestellt hätte.

Das Motiv der beabsichtigten Zerstörung traditioneller Werte und Ordnungen reagiert auf die tatsächlich stattfindende Auflösung aller bisherigen Verhältnisse durch die „fortwährende Umwälzung“ der Produktionsverhältnisse, die eine „ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“ bewirkt, die Marx und Engels schon im kommunistischen Manifest von 1848 beschreiben (1972, 465). Allerdings werden eben nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, also die objektiv vorhandenen politisch-ökonomischen Strukturen, als Ursache dafür ausgemacht, sondern sie wird wiederum personalisiert und auf bestimmte Bevölkerungsgruppen verlagert.

In der Abwehr emanzipatorischer Ideen ist die bürgerliche Mitte mit der konservativen und radikalen Rechten nach wie vor fest verbunden.

Ein weiteres Motiv, das dabei eine Rolle spielt, ist eine Krise der Männlichkeit, die durch die Stellung als Versorger der Familie bestimmt war. Die tendenziell zunehmende und besonders in Krisen zu Tage tretende Unsicherheit, die ständig drohende Gefahr des gesellschaftlichen Abstiegs und der Überflüssigkeit, untergräbt die Autorität, die in traditionellen männliche Rollenmustern gegeben war, zusehends. Eine vermeintliche Abwehr dieser gesellschaftlich produzierten Tendenzen liegt in der Schuldzuweisung an bestimmte Akteure und Bevölkerungsgruppen, die dann bekämpft werden. Schon das in der Krisenzeit der späten Weimarer Republik weit verbreitete Bild des  „Kulturbolschewismus“ stellte eine Verbindung zwischen „christlicher Mitte“ und „völkischer Rechter“ her, die darin gemeinsam ein „volksgefährdendes“ Symptom kulturellen „Verfalls“ zu erkennen meinten (Laser 2010). Eine ähnliche Konstellation ist auch heute zu beobachten, wenn jegliche Überlegungen dazu, auf irgendeine Weise planend in die Ökonomie einzugreifen, als Weg in die Knechtschaft einer DDR 2.0 skandalisiert werden, während in Krisensituationen staatliche Maßnahmen in massivem Ausmaß gefordert und auch umgesetzt werden. In der Abwehr emanzipatorischer Ideen ist die bürgerliche Mitte mit der konservativen und radikalen Rechten nach wie vor fest verbunden.

Widersprüchliche antisemitische Projektionen

In der antisemitischen Ideologie werden Jüdinnen und Juden mit sich widersprechenden gesellschaftlichen Erscheinungen identifiziert. Auf der einen Seite werden auf sie alle destruktiven Elemente und Erscheinungen der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die sich aus ihrer politisch-ökonomischen Struktur selbst ergeben, projiziert — also die abstrakte Seite des Kapitals und der Kapitalvermehrung, Spekulation an Börse und Finanzmärkten, instrumentelle Rationalität, die Globalisierung des Kapitals und die Erschütterung und Auflösung aller traditionellen Verhältnisse. Genauso aber auch die gegenrevolutionären Vorstellungen, aus denen die faschistischen und nationalsozialistischen Konzeptionen wesentlich zusammengesetzt wurden, wie »das Recht des Stärkeren, das Führerprinzip, Sozialdarwinismus, Herrschaft über Presse und Justiz, Gleichschaltung der Verwaltung, Hetzpropaganda, Gewaltherrschaft und Rassenvorurteile«, wie es in den antisemitischen „Protokolle[n] der Weisen von Zion“ zu finden ist (Priester 2003: 184).

Auf der anderen Seite wurden und werden aber auch die Arbeiterbewegung und der Bolschewismus oder heute eben der sogenannte „Kulturmarxismus“ und alles, was an Vorstellungen mit diesem in Verbindung gebracht wird, auf Jüdinnen und Juden projiziert. In der Vorstellungswelt des Antisemitismus selbst stellt das keinen Widerspruch dar, denn Jüdinnen und Juden erscheinen darin als die „Gegenrasse“ und das Gegenprinzip schlechthin, die als so mächtig und bedrohlich vorgestellt werden, dass nur ihre Vernichtung als Ausweg möglich erscheint. Für den Antisemitismus ist diese Vereinigung widersprüchlicher Elemente in der antisemitischen Projektion geradezu die Bestätigung der Macht und der Bedrohlichkeit, die in der „jüdischen Weltverschwörung“ gesehen wird. In den verschiedenen Konzepten und Vorgehensweisen, von denen behauptet wird, dass sie sich nur an der Oberfläche voneinander unterscheidenden, würde sich gerade die Raffiniertheit und Gefährlichkeit des geplanten und strategischen Vorgehens zeigen.

Die sich widersprechenden Konzepte von Finanzkapital und Emanzipationsbewegungen werden in der antisemitischen Weltsicht als komplementär zueinander aufgefasst: Beide werden als „wurzellos“ oder „vaterlandslos“, global agierend, abstrakt und materialistisch aufgefasst (ebd.: 187f.) und beide würden abstrakte, kosmopolitische, internationalistische und multikulturalistische Ziele und Strategien verfolgen, die die herkömmliche Lebenswelt, Traditionen und Hierarchien auflösen und zerstören. Dagegen werden dann eine sogenannte „bürgerliche Revolution“, eine sogenannte „konservative Revolution“ oder eine sogenannte „nationale Revolution“ gesetzt, die alle verschiedene Versionen einer konformistischen Rebellion darstellen, die an den „objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen“ ihrer eigenen Möglichkeit nur insofern etwas verändern will, als sie die autoritären Tendenzen des Systems noch zu verstärken und den Herrschaftsapparat noch auszubauen und ihre eigenen Akteure und Protagonisten in die führenden Positionen zu bringen unternimmt.

Rassismus

Mit dem Bild des Niedergangs des Westens oder seiner Nationen, das in Deutschland durch bürgerliche, konservative und rechtsgerichtete Publizistik weite Verbreitung und Popularität erlangte, wird wiederum eine Verbindung zum Rassismus hergestellt, denn die Vollendung des drohenden Untergangs der westlichen Nationen wird in der „Masseneinwanderung“ und der „Islamisierung“ gesehen, denen durch den „Kulturmarxismus“, den Multikulturalismus, die Political Correctness und den Feminismus der Weg bereitet worden sei. Damit ist die ideologische Figur des „großen Austauschs“ komplett.

Weite Teile der Partei AfD, die sogenannte Identitäre Bewegung, die in Halle ein Zentrum hatte, und rechtsradikale Terroristen, wie der Attentäter von Halle — sie alle beziehen sich auf die Vorstellung vom „großen Austausch“. Diese Vorstellung, es finde ein absichtlich herbeigeführter, planmäßiger Austausch der Bevölkerung statt, ist eine falsche Vorstellung, die für die radikale Rechte der Gegenwart von zentraler Bedeutung ist. Es ist eine besondere Form von Rassismus, die die Vertreibung und Vernichtung aller Menschen mit außereuropäischem Migrationshintergrund in Europa zum Ziel hat.

Es ist eine Vorstellung, die nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, das wirtschaftliche und politische System der kapitalistischen Produktionsweise als ursächlich dafür ansieht, dass die Lebensbedingungen in vielen Ländern so unerträglich werden, dass Menschen dadurch zur Flucht veranlasst werden, sondern die davon ausgeht, ein geheimer Plan wäre der Grund. Demnach gäbe es eine Strategie globaler Eliten, die europäische Bevölkerung auszutauschen und durch eine zu ersetzen, die sich leichter ausbeuten ließe. Es würden also Menschen aus Ländern des Nahen Ostens und Afrikas nach Europa gelockt, um sie hier als billige Arbeitskräfte einzusetzen. Die einheimische europäische Bevölkerung solle auf diese Weise durch eine gefügigere eingewanderte Bevölkerung ersetzt werden.

Der Rassismus ist offensichtlich, wenn die Menschen, deren „Masseneinwanderung“ als Bedrohung dargestellt wird, einerseits als minderwertig und andererseits als mit der Kultur und Religion ihrer Herkunftsgebiete untrennbar verbunden angesehen werden. Das Motiv globaler Eliten, die hinter dem Austauschplan stünden, ist als Wiederauflage antisemitischer Weltverschwörungsideologien klar zu erkennen, auch wenn es dabei vermieden wird, diese eindeutig als jüdisch zu bezeichnen.

Die unterschiedliche Herkunft von Menschen wird deshalb für so bedeutsam erklärt, weil davon die Aufrechterhaltung des ökonomischen und sozialen Status abzuhängen scheint.

Diese Vorstellung vom „großen Austausch“ beinhaltet aber nicht nur ein völlig falsche Erklärung der Ursachen für die Flucht von Menschen aus ihren Herkunftsländern, sondern auch eine falsche Erklärung für die Ursachen von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisenerscheinungen in den europäischen Ländern selbst. Auch für diese werden die Ursachen nicht in der bürgerlich-kapitalistisch organisierten Form der gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen. Sie werden stattdessen in einer angeblich stattfindenden „illegalen Masseneinwanderung“, die als „Eroberung“, „Kolonisation“, „Überfremdung“ und „Islamisierung“ Europas durch Einwanderer dargestellt wird, gesucht. Widersprüche und Konflikte, die aus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform hervorgehen, werden dadurch zu Widersprüchen und Konflikten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen umgedeutet. Sie werden also von der Ebene der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse zur Ebene der Kultur, der Religion und körperlicher Merkmale hin verschoben und sie werden personalisiert. Die Angst vor ökonomischem und sozialem Abstieg, die ihre reale Ursache in der kapitalistischen Produktionsweise hat, soll so durch ihre Verschiebung auf die Ebene körperlicher Merkmale abgewehrt und bekämpft werden. Die unterschiedliche Herkunft von Menschen wird also deshalb für so bedeutsam erklärt, weil davon die Aufrechterhaltung des ökonomischen und sozialen Status abzuhängen scheint.

Menschen gehören in dieser Vorstellung zu verschiedenen Gruppen mit einer jeweils eigenen Identität, in denen Kultur, Religion und körperliche Merkmale fest miteinander verbunden sind. Das ist die moderne Form des Rassismus, die in dieser Vorstellung vom „großen Austausch“ enthalten ist. Menschen, die aus ihren Herkunftsländern wegen unerträglicher Bedingungen fliehen müssen, Menschen, die auf der Suche nach einem Einkommen sind, das es ihnen ermöglicht, zu leben, oder Menschen, die aus anderen Gründen nach Europa kommen, einfach alle Migranten und ihre Nachfahren werden als „feindliche Invasoren“ betrachtet. Der Unterschied dieser modernen Form des Rassismus zur vorherigen Form besteht darin, dass die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitete Variante des Rassismus eng mit dem Kolonialismus verbunden war und auf der Abwertung der in den kolonisierten Ländern lebenden Menschen, zur Rechtfertigung ihrer direkten Ausbeutung, Versklavung und Ermordung, beruhte. Die moderne Form des Rassismus, um die es hier geht, hat sich erst herausgebildet, seitdem zunehmend Menschen mit Migrationshintergrund in den Ländern des globalen Nordens als mehr oder weniger gleichberechtigte Mitbürger leben. Der Hintergrund dafür ist nun vor allem, dass eine Unterscheidung getroffen werden soll, die ein Vorrecht in der Konkurrenz unter den Bedingungen des allgemeinen Tausches begründen soll. Die Konstruktion hat damit unter den veränderten Bedingungen von Einwanderungsgesellschaften seit den 1950er Jahren eine andere Form angenommen, denn auch schon in der älteren Form war es eine Mischung aus biologistischer und kulturalistischer Konstruktion.

Spaltung von politischer und ökonomischer Sphäre

Diese Vorstellung versucht mit katastrophenartigen Bildern einer bevorstehenden Auslöschung der „einheimischen“ europäischen Bevölkerung und einer gerade stattfindenden Zerstörung der europäischen Kultur die Überzeugung einer akuten Gefahrensituation herzustellen. Diese vorgestellte außerordentliche existenzielle Bedrohung der „einheimischen“ europäischen Bevölkerung, zur Minderheit und schließlich ausgelöscht zu werden, dient der Begründung eines „Widerstandsrechts“ und des Aufrufs zur Revolte und damit der Rechtfertigung und der Herstellung der Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt. Die Vorstellung vom „großen Austausch“ als Untergang der westlichen Kultur soll rechtsradikale und rassistische Gewalt als Selbstverteidigung in einer Not- und Abwehrsituation erscheinen lassen und sie dadurch rechtfertigen. Rechtsradikale sehen sich durch diese Vorstellung veranlasst, entweder als virtuell vernetzte Einzelne terroristisch aktiv zu werden, oder sogenannte Bürgerwehren zu bilden und sich zu Gruppen zusammenzuschließen, die sich auf einen Bürgerkriegs- oder Ausnahmezustand vorbereiten oder darauf hinarbeiten, in dem sie ihre Vorstellung der Tötung und Vertreibung all derjenigen verwirklichen können, die für sie nicht hierher oder dazugehören.

Das Grundproblem besteht in einer personalisierenden Projektion der Ursachen gesellschaftlicher Missstände auf bestimme Personengruppen.

Diese Darstellung lässt erkennen, auf welche Weise die verschiedenen ideologischen Schemata miteinander verbunden sind und lässt auch das ihnen gemeinsame Grundmuster hervortreten. Es ist darin zu sehen, dass gesellschaftliche Verwerfungen und Krisen nicht als das (an)erkannt werden, was sie sind — aus dem System der gesellschaftlichen (Re-)Produktion über die Mehrwerterzeugung hervorgegangene Erscheinungen, die also ihren Grund in der kapitalistischen Vergesellschaftung haben —, sondern als auf intentionales Handeln bestimmter Bevölkerungsgruppen zurückgehendes Geschehen. Das Grundproblem besteht also in einer personalisierenden Projektion der Ursachen gesellschaftlicher Missstände auf bestimme Personengruppen.

Die gesellschaftlichen Missstände, Verwerfungen, Widersprüche und Krisen, die zu diesen falschen Projektionen führen, sind aber real und sie sind das, was Adorno die „objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen“ rechtsradikaler Potentiale nennt. Es wird durch diese Rückführung der ideologischen Vorstellungen auf ihre gesellschaftliche Grundlage nicht nur deutlich, was die „objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen“ rechtsradikaler Potentiale sind, sondern es wird dadurch ebenso deutlich, wie ein tatsächliches Entgegenwirken diesen gegenüber beschaffen sein müsste. Sie lassen sich nicht durch moralische Appelle für ein vielfältiges, buntes Miteinander oder liberale Anrufungen einer offenen, demokratischen Gesellschaft aus der Welt schaffen, denn sie gehen aus genau der freiheitlich-demokratischen Grundordnung hervor, die als vermeintliches Bollwerk gegen den Rechtsradikalismus in Stellung gebracht werden soll.

Die bürgerliche Gesellschaft und ihre freiheitlich-demokratische Ordnung mitsamt all ihrer Vermittlungsinstanzen ist ein Apparat, der die Abspaltung der politischen Sphäre von der ökonomischen Sphäre als Grundlage verankert. Es ist exakt diese Trennung, die für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft konstitutiv ist, durch die „die Verkleidung der Herrschaft in Produktion“ hergestellt wird. In der ökonomischen Sphäre, in der Aneignung, Ausbeutung und Herrschaft in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften idealtypisch, wenn auch realitär bei weitem nicht nur dort, stattfinden, geschieht das gerade gemäß der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die nur insofern regelnd und ordnend eingreift, als sie die Bedingungen dafür möglichst optimal herstellt. Die ökonomische Sphäre ist in dieser Ordnung der demokratischen Kontrolle gerade entzogen, was eben die Aneignung, Ausbeutung und Herrschaft ermöglicht und weshalb Adorno davon spricht, dass „dem Inhalt nach, dem gesellschaftlich-ökonomischen Inhalt nach, die Demokratie eben bis heute nirgends wirklich und ganz sich konkretisiert hat“ und „ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird“ (Adorno 1967, 18).

Da die bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften in der entscheidenden Sphäre der ökonomischen (Re-)Produktion nicht demokratisch verfasst sind und damit keiner demokratischen Form der Vermittlung unterliegen, stellt sich die Entwicklungsdynamik in ihnen irrational und naturwüchsig her, also nicht durch rationale Abwägung und kollektive demokratische Entscheidung aller Beteiligten. Das hat zur Folge, dass diese bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften antagonistisch zerrissene Gesellschaften sind, die von Bewegungen tendenziell zunehmender Widersprüche angetrieben und bestimmt werden (Marx 1974: 593). Sie bringen also gerade die Tendenzen fortwährend und in zunehmendem Maße hervor, die zu Krisen, Unsicherheit, zum Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein, zu Vereinzelung und Angst führen, die also die „objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen“ rechtsradikaler Potentiale und faschistischer Bewegungen sind.

Die Kritik ideologischer Welterklärungen, in denen antisemitische, antifeministische und rassistische Schemata miteinander verbunden sind, verlangt die Kritik einer Form der Gesellschaft als Verkehrung, in der die Menschen nur als „bloße Produktionsmittel, nicht als Selbstzweck und nicht als Zweck der Produktion“ (Marx 1959, 545) erscheinen und ihre notwendige Arbeitszeit daher auch nur soweit von Interesse für das Kapital ist, als sie zu einer Ausweitung der Mehrarbeit beiträgt, die einer Maximierung der Erzeugung von Mehrwert entspricht. Die Konsequenz davon lautet nämlich „Soweit sie nicht dieses Resultat hat, ist sie überflüssig und to suppress“ (ebd., 544). Soweit also Arbeitskräfte keine für das Kapital produktive, das heißt für die Mehrwerterzeugung notwendige, Arbeit verrichten können, werden sie für das Kapital überflüssig und verlieren mit der Lohnarbeit ihre Lebensgrundlage.

Das ist die beständige Bedrohung, unter der alle in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften lebenden Menschen mehr oder weniger stehen und die alle in ein Gegeneinander setzt, aus der die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Vermittlungsapparate des bürgerlichen Staates nicht hinausführen können, da es für sie konstitutiv ist, die Grundlagen der antagonistischen Gesellschaftsform aufrechtzuerhalten. Die kritischen Kategorien von Marx und der Kritischen Theorie haben sich für eine ideologiekritische Position damit angesichts des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, des Nationalsozialismus und von Auschwitz gerade nicht als hinfällig erwiesen, sondern erscheinen vielmehr als um so notwendiger, um die gesellschaftlichen Krisenerscheinungen und Katastrophen überhaupt in angemessener Form verstehen und kritisieren zu können.

Demokratisierung als Antwort gegen Rechts

Ein wirkliches Eintreten gegen Rechts und für eine solidarische Gesellschaft, ein wirksamer Antifaschismus also, kann demzufolge nicht bei bloßen Appellen stehenbleiben, sondern muss viel weiter gehen. Es würde beinhalten, sich für eine wirkliche Demokratisierung des gesamten sozialen und ökonomischen Lebens einzusetzen und so eine Demokratie zu schaffen, die ihrem Begriff gerecht wäre. Es würde beinhalten, sich für einen Abbau der „objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen“ rechtsradikaler Potentiale und faschistischer Bewegungen einzusetzen. Das wäre ein Abbau der antagonistischen Gesellschaft des Kapitals, in der die vereinzelten Einzelnen über Wertverwertung und Mehrwertproduktion miteinander vermittelt sind, der zugleich ein Aufbau wirklich demokratischer und solidarischer Formen des Zusammenlebens wäre. Es wäre die Herstellung von Formen sozialer Vermittlung, die nicht von der konkreten Natur der Individuen und ihrer Beziehungen untereinander und zur sie umgebenden sozialen und natürlichen Welt abstrahieren würden.

Ein wirkliches Eintreten gegen Rechts und für eine solidarische Gesellschaft, ein wirksamer Antifaschismus also, kann nicht bei bloßen Appellen stehenbleiben, sondern muss viel weiter gehen. Es würde beinhalten, sich für eine wirkliche Demokratisierung des gesamten sozialen und ökonomischen Lebens einzusetzen und so eine Demokratie zu schaffen, die ihrem Begriff gerecht wäre.

Es wäre ein Aufbau von Formen solidarischer Organisation des Zusammenlebens, in der alle das bekommen, was sie brauchen. Es wäre eine Anerkennung der Abhängigkeit jedes und jeder von anderen und von der Natur, die zugleich ein Ende der gefährlichen, weil unhaltbaren, Illusion der Allmacht des selbstherrlichen männlichen Subjekts bedeuten würde, die nur auf der Abstraktion von der existenziellen Abhängigkeit mittels des jeder konkreten Beziehungen und Vermittlungen baren Vermittlungsmediums Tauschwert beruht. Es wäre somit ein „Eingedenken der Natur im Subjekt“ und zugleich auch eines der äußeren Natur (Horkheimer & Adorno 1987, 64) mit den begrifflichen Mitteln der Aufklärung und der Vernunft, die die Naturwüchsigkeit von Ausbeutung und Herrschaft potentiell reflexiv zu übersteigen vermögen. Konsequenter Antifaschismus wäre daher die „wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ und er wäre die „Produktion der Verkehrsform selbst“, also die von allen getragene, wahrhaft demokratische Herstellung der sozialen Vermittlungsform, beides Bestimmungen, die Karl Marx und Friedrich Engels (1959, 35, 70) für den Kommunismus angegeben haben.

Dieser Kommunismus wäre die gezielt hergestellte Regelung des bestehenden gemeinschaftlichen Interesses aller Individuen, das zwar „in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit geteilt ist“ (Marx & Engels, 1959, 33), besteht, bisher aber nur in gegenüber den Individuen verselbstständigter Form als freiheitlich-demokratische Grundordnung des bürgerlichen Staats praktisch-organisatorisch realisiert wurde. Er wäre die soziale Organisationsform von Solidarität, die „aller Gesellschaftsmitglieder Existenzbedingungen unter ihre Kontrolle nehmen“ würde und in der „die Individuen als Individuen“ und nicht nur „als Klassenmitglieder“ (ebd., 74f.) teilhätten. Er wäre nicht die Abschaffung von demokratischer Vermittlung, sondern, durch die Aufhebung der naturwüchsigen, blinden und verkehrten Form der Vermittlung in eine tatsächlich demokratische Herstellung der Vermittlung, erst deren Verwirklichung.

Ein Schritt, neben vielen anderen, die auf dem Weg dahin notwendig wären, wäre die Herstellung antifaschistischer Allianzen, in denen und mit denen ein konsequenter Antifaschismus vorangetrieben werden könnte. Wenn im ideologischen Weltbild der radikalen Rechten Antisemitismus, Antifeminismus, Rassismus und Antikommunismus in einer „ideologischen Intersektionalität“ untrennbar miteinander verbunden sind und sie Jüdinnen und Juden, Feministinnen und Feministen, Black, Indigenous and People of Color, Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten allesamt als feindliche Personengruppen betrachten, dann bedeutet das nichts anderes, als dass zwischen all diesen Personen eine implizite antifaschistische Allianz besteht, die nur noch einer expliziten Organisierung bedürfte. Das zeigt an, auf welche Weise eine umfassende Solidarität und ein solidarisches Zusammenleben organisiert und der rechten Bedrohung wirksam begegnet werden könnte.

Die Möglichkeit dieser potentiellen antifaschistischen Allianz ergibt sich nicht mit Notwendigkeit aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit heraus und sie ist kein neues Modell, welches nach dem Modell der Klasse des Arbeiterbewegungsmarxismus, ein neues revolutionäres Subjekt herstellen soll. Sie ergibt sich zunächst nur aus der Einsicht in die Notwendigkeit einer Abwehr der Bedrohung durch rechtsradikale Potentiale und faschistische Bewegungen, die zugleich eine Einsicht sein kann in die Notwendigkeit einer Solidarität unter den Personengruppen, die von dieser Bedrohung mehr oder weniger existentiell betroffen sind. Die Verwirklichung der praktischen Negation der rechtsradikalen Bedrohung würde in einem ersten Schritt die Verwirklichung der Möglichkeit dieser antifaschistischen Allianz erfordern. Das bleibt zunächst immer noch eine rein theoretische Bestimmung, die der praktischen Verwirklichung durch solidarische Organisation bedarf. Ein zweiter, darüber weit hinausgehender Schritt, der noch vieles Weitere erforderte und nicht mit Notwendigkeit aus dem ersten hervorgeht, wäre eine wirkliche Bewegung, welche die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen des Rechtsradikalismus dadurch auflöst, dass durch kollektive Assoziation eine solche gesellschaftliche Vermittlungsform hergestellt wird, die jeden einzelnen Menschen als Zweck anerkennt.

Die Organisationsformen für beide Schritte müssen noch gefunden und hergestellt werden, aber sie sind nicht vollkommen neu, undenkbar und nie dagewesen. Es wären Formen solidarischer Selbstorganisation, die es schon immer gegeben hat und die es auch nach wie vor gibt. Ein konsequenter Antifaschismus, eine Demokratie, die ihrem Begriff entspräche, wäre diese solidarische Selbstorganisation. Dieser Text kann keine weiteren konkreten Schritte aufzeigen, er ist schon so zu lang für dieses Format. Sein Anliegen war es nur, eine Figur des Wirklichen zu konstruieren, aus der die Forderung nach realer Veränderung folgt.


  • Adorno, Theodor W. 2013 [1959]. Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: ders. Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M.
  • Adorno, Theodor W. 2019 [1967]. Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Frankfurt/M.
  • Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W. 1987 [1947]. Dialektik der Aufklärung. In: Horkheimer, Max Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt/M.
  • Jamin, Jérôme 2018. Cultural Marxism: A survey. Religion Compass. Volume 12, Issue 1-2, Hoboken.
  • Laser, Björn 2010. Kulturbolschewismus! Zur Diskurssemantik der „totalen Krise“ 1929-1933. Frankfurt/M.
  • Marx, Karl 1959 [1862/63]. Theorien über den Mehrwert. 2. Teil, Berlin.
  • Marx, Karl 1974 [1857/58]. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Frankfurt/M.
  • Marx, Karl 1975 [1867]. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1, MEW 23, Berlin.
  • Marx, Karl, Engels, Friedrich 1959 [1845/46]. Die deutsche Ideologie. MEW 3, Berlin.
  • Marx, Karl, Engels, Friedrich 1972 [1848]. Das Manifest der kommunistischen Partei. MEW 4, Berlin.
  • Priester, Karin 2003. Rassismus. Eine Sozialgeschichte. Leipzig.
  • Stögner, Karin 2017. »Intersektionalität von Ideologien« – Antisemitismus, Sexismus und das Verhältnis von Gesellschaft und Natur. Psychologie & Gesellschaftskritik, 41 (2), 25-45.

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