„Stadtlandschaft ist keine Spielwiese für die Wirtschaft“

Ein Interview zur Stadtentwicklung in Halle nach Ende des Bevölkerungsschwundes

von | veröffentlicht am 20.03 2018

Beitragsbild: per.spectre

Im Schatten der Boomstadt Leipzig hat sich auch Halle in den vergangenen Jahren vom Bevölkerungsschwund der beiden Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung erholt. Nachdem der Baubestand der Stadt weitgehend durchsaniert ist, werden nun an vielen Stellen Baulücken geschlossen. Vor allem im südlichen Teil der Innenstadt gibt es viel Bewegung. Das weckt Befürchtungen, aber auch Hoffnungen. Wir sprachen mit Marieke Licht und Benjamin Voigt über die jüngere Stadt- und Bevölkerungsentwicklung.




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Transit: Entlang der Hafenbahntrasse in Halles Süden hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Die Trasse selbst wurde zu einem Rad- und Fußweg aufgewertet. An der Hutten-/Ecke Merseburger Straße ist ein ganzer Straßenzug neu gebaut worden. Am Stadion wird bereits fleißig geplant. Und auch für die Zukunft ist noch ausreichend Platz für Sanierungen und Bautätigkeiten. So findet derzeit ein städtebaulicher Ideenwettbewerb für die Entwicklung einer Brache in der Nähe des Lutherplatzes statt. Worum genau geht es bei dem Projekt, wer sind die Auftraggeber und wer beteiligt sich da alles dran?

Voigt: Bei dem Projekt handelt es sich um einen studentischen Wettbewerb am Lutherplatz. Genauer auf einer Brache, die von der Merseburger, Liebenauer-, Hutten- und Lauchstädter Straße umschlossen wird. Gewünscht waren ein innerstädtisches Wohngebiet im höherpreisigen Eigentumssegment – also Eigentumswohnungen. Auslober des Wettbewerbs ist die Stadt Halle und beteiligt sind die drei Grundstückseigner auf dem Baufeld. Das sind ein Autohausbesitzer, ein Supermarkt und ein weiterer Eigner. Supermarkt und Autohaus wünschen sich jeweils eine Vergrößerung ihrer Nutzungsflächen. Wichtig für das Gebiet ist die Hafenbahntrasse, die mitten hindurch verläuft. Sie ist eines der städtischen Vorzeigeprojekte und verbindet den Hauptbahnhof, über den Süden der Stadt, mit dem Sophienhafen an der Saale.

Brachfläche an der Hafenbahntrasse in der Nähe vom Wasserturm Süd. (Bild © Benjamin Voigt).

Es wird, wie bei solchen Wettbewerben üblich, eine Platzierung der studentischen Arbeiten geben, welche dann auch mit Preisgeldern dotiert ist. Wichtig ist, dass Ideen aller studentischen Arbeiten dazu beitragen können, dass die Stadt einen Bebauungsplan für das Gebiet entwickelt. Zur Erklärung: Im Bebauungsplan legt die Stadt unter Beteiligung der Öffentlichkeit fest, wie auf dem Gebiet gebaut werden darf. Jeder Bebauungsplan, der aufgestellt wird, muss einen Schritt öffentlicher Bekanntmachung und Sammlung aller öffentlichen Stellungnahmen umfassen, um rechtskräftig werden zu können. Vereinfacht gesagt: Die Stadt ist auf Fachhochschulen und Universitäten zugegangen, um mit Hilfe der Studierenden Ideen für ein Planungsgebiet zu entwickeln. Vor Beginn der Arbeit an unserem Entwurf haben wir gezielte Analysen zu Halle angefertigt.

Die Interviewten

Marieke Licht kommt aus Gummersbach in Nordrhein-Westfalen, studiert Urbanistik im 7. Bachelorsemester an der Bauhaus-Universität Weimar und lebt seit drei Jahren in Weimar.

Benjamin Voigt kommt aus Chemnitz und studiert Architektur im 4. Semester des Masterstudiengangs, ebenfalls an der Bauhaus-Universität Weimar. Er lebt dort seit eineinhalb Jahren.

"Boomregion" südliche Innenstadt?

Transit: Halles südliche Innenstadt boomt derzeit. Auf der gesamten Breite zwischen Eisenbahntrasse und Saale gibt es Bauprojekte. Sie haben sich mit Halle intensiver auseinandergesetzt. Wie hat sich der Süden der Stadt bislang entwickelt, strukturell und demografisch?

Voigt: Die baugeschichtlichen Ebenen von der Innenstadt bis zur Silberhöhe lassen sich sehr chronologisch lesen. Die Merseburger Straße kann man dabei als Zeitstrahl verstehen. Die südliche Innenstadt ist gründerzeitlich geprägt und ab dem Lutherplatz geht diese Bebauung in Arbeiterwohnungsbau der 1920er und 1930er Jahre über. Weiter südlich beginnen dann die Neubauprojekte der ehemaligen DDR. Das Stadtquartier selbst ist ein Kind der Industrialisierung, die in Halle relativ spät einsetzte. Im Osten liegen die Bahntrassen, die zum Hauptbahnhof führen. Das Gebiet ist an vielen Stellen von alter Industriearchitektur durchzogen und die Hafenbahntrasse war schon vor der Wohnbebauung da. Die neue Wohnungsarchitektur aus den 1920ern, die Arbeit von Wohnen trennen sollte, wird hier durch die Hafenbahntrasse immer wieder durchquert. Dieses baukulturelle Erbe zu schützen und zum eigenen Vorteil auszuspielen, ist ein kluger und notwendiger Schachzug der Stadt gewesen.

Blick über die Merseburger Straße auf den Verlauf der ehemaligen Hafenbahn. (Bild © Benjamin Voigt)

Licht: Halle hat es geschafft, seine Bevölkerungszahlen zu stabilisieren. Manche Stadtteile, wie eben die südliche Innenstadt und der Lutherplatz, werden sogar immer dichter. Abgesehen mal von Platte und Stadtmitte gehört der Stadtteil am Lutherplatz und Thüringer Bahnhof neben Giebichenstein und dem Paulusviertel zu den dichtesten Stadtteilen in Halle. Trotzdem darf man die nördliche Innenstadt keinesfalls mit der südlichen gleichsetzen, denn im Süden gibt es mehr Arbeitslose und soziale Defizite wie zum Beispiel ein Mangel an Kulturangebot. Die südliche Innenstadt ist überdurchschnittlich jung, doch je südlicher, desto älter werden auch die BewohnerInnen. Prognosen für 2030 rechnen mit mehr Familien und Alleinerziehenden in der südlichen Innenstadt und am Lutherplatz, sowie einem generellen Bevölkerungsplus.

Um die Jahrtausendwende standen ca. 30 Prozent der Wohnungen leer. Durch öffentlichen Stadtumbau wurden Anreize zur Sanierung geschaffen, sodass sich der Leerstand bis heute halbierte. Leerstand und Abriss haben aber auch begünstigt, dass die städtebauliche Struktur im Süden heute durch neuzeitliche Eingriffe relativ chaotisch ist. Auf vielen Grundstücken gibt es einfach nur Parkplätze als pragmatische Antwort auf das PKW-Problem in der Stadt.

Transit: Welche Besonderheiten kennzeichnen neben diesem „Chaos“ heute den Süden der Stadt noch? Was macht den Süden Halles derzeit so besonders attraktiv für Sanierungen und Neubauprojekte?

Licht: Der Süden bietet eine gute Anbindung durch Nahverkehr (Busse, Straßenbahn) an das Zentrum und große Freiraumqualitäten durch die Saaleaue und den Park am Thüringer Bahnhof entlang der Hafenbahntrasse. Naherholung und gute Infrastruktur sind ausschlaggebend für die Wohnqualität, weshalb der Süden immer mehr als attraktiver Wohnstandort entdeckt wird.

Voigt: Die Merseburger Straße ist eine der großen Einfallstraßen Halles und somit ein weiterer infrastruktureller Faktor. Mit ihr ist man mit dem Auto oder der Straßenbahn schnell am Hauptbahnhof oder in der Innenstadt. Gleichwohl gelangt man mit dem Fahrrad über die Hafenbahntrasse ebenfalls schnell dorthin.

Blick über die Südliche Innenstadt von den früheren Steg-Hochhäusern aus. (Bild © Felix Peter)

Transit: Welche Gefahren sehen Sie vor dem Hintergrund eines solchen Booms, insbesondere für die bisherigen Anwohner*innen?

Voigt: Boom ist als Bezeichnung vielleicht etwas übertrieben. Wir haben es hier eher mit neuen Entwicklungstendenzen zu tun. In den neuen Bundesländern ist seit ein paar Jahren in vielen mittelgroßen Städten ein Ende des Fortzugs der Menschen zu beobachten. Die Städte wachsen wieder – langsam, aber scheinbar stabil. Die Gründe dafür sind vielfältig. Da geht es um Landflucht und Arbeitsmarkt, aber auch darum, wie lebenswert eine Stadt ist. Wir denken, dass Halle sicherlich den Negativzenit überwunden hat und auch für junge Menschen wieder interessanter wird. Einen „Boom“ wie in Leipzig wird es aber vermutlich nicht geben.


Je heterogener, desto besser, denn wenn sich jeder nach Einkommensklasse, Alter und Ethnie getrennt in seinem Viertel isoliert, entstehen keine sozialen Synergieeffekte. Soweit meine utopische Zukunftsvision.


Licht: Mit oder ohne Neubau, die soziale Struktur wird sich ändern. Neue ethnische Gruppen können den Stadtteil bereichern, ohne seine bisherigen BewohnerInnen zu verdrängen. Es ist Platz für alle da. Ein paar Neubauprojekte werden das erst einmal nicht ändern. Die Zugezogenen könnten einen sehr interessanten Stadtteilmix produzieren und ihn lebendiger machen. Je heterogener, desto besser, denn wenn sich jeder nach Einkommensklasse, Alter und Ethnie getrennt in seinem Viertel isoliert, entstehen keine sozialen Synergieeffekte. Soweit meine utopische Zukunftsvision.

Aber es ist auch denkbar, dass neue einkommensstärkere und eigentumsbildende StadtteilbewohnerInnen (Familien, Senioren, …) andere Ansprüche an die Umgebung (weniger Lärm etc.) mitbringen und damit Verdrängungseffekte erzeugt werden bzw. der Stadtteilcharakter zum Vorteil von Partikularinteressen zersetzt wird. Um bisherige AnwohnerInnen zu schützen, braucht es Transparenz über aktuelle Entwicklungen und Kommunikationsplattformen für alle InteressenvertreterInnen des Stadtteils. Der Hallesche Süden ist kein Schlaraffenland für profitstrebende Investoren, dazu gibt es zu wenig Sanierungsstau. Gott sei Dank. Bedenklich sind die Brachen, die sich zum Entwickeln investorenfreundlicher Projekte eignen.

Voigt: Die Stadt sollte darauf achten, dass es bei Neubauprojekten nicht zur Inselbildung kommt. Wir kennen das bereits aus Städten wie Leipzig, wo man im übertriebenen Sinne „Gated Communities“ im Eigentumssegment in die Quartiere wirft. Das Spektrum eines Viertels wird dann zwar heterogener, aber es kommt zu keiner gesellschaftlichen Begegnung mehr. Für den Süden Halles sehen wir jedoch keine große Verdrängungsgefahr. Der Bestand besteht größtenteils aus Arbeiterwohnungsbau, welcher in genossenschaftlicher Hand ist. Eine komplette Umwälzung der Einwohnerschaft gibt die Substanz einfach nicht her. Da liegen die Gefahren eher in den stärker gründerzeitlich geprägten Stadtteilen Halles.

Blick auf die genossenschaftliche Bebauung entlang der Pestalozzi- und Robert-Koch-Straße in Halles Süden. Auf der Freifläche hinter dem ehemaligen Kurt-Wabbel-Stadion (Bildrand mitte-links) ist ebenso eine Wohnbebauung vorgesehen wie anstelle des Trainingsplatzes an der Saale (Bildrand rechts). (Bild © Felix Peter)

Transit: Damit sind neben Risiken auch einige Chancen für den Süden umrissen. Und dennoch: Am Wasserturm Süd im Lutherviertel wird schon seit einigen Jahren eine Einfamilienhaussiedlung mitten in der Stadt umgeben von klassischen Mehrfamilienhausstrukturen errichtet. Das sieht tatsächlich aus, als hätte man da etwas ins Viertel „hineingeworfen“. Wie bewerten Sie solche Experimente?

Voigt: Hier haben wir es mit einem typischen, „kosteneffektiven“ Investorenprojekt zu tun. Die Bauqualität ist niedrig und nicht nachhaltig. Für vergleichsweise hohe Preise kann man sich hier sein Eigenheim mit kleinem Garten mitten in der Stadt kaufen. Das Projekt ist sehr beliebt und die Häuser gehen weg wie warme Semmel. Dieses Phänomen kann man in vielen Städten mit kleinem Haushalt beobachten. Frei nach dem Motto „Hauptsache, es wird gebaut“. Wer da jetzt im Einzelnen Verantwortung trägt, wissen wir nicht. Fakt ist, dass solche wie oben genannte „Inselprojekte“ einen architektonischen und städtebaulichen Schaden für die Stadt darstellen. Es ist schlicht antistädtisch. Diese Objekte geben nichts positives an den Stadtteil ab. Sie profitieren nur vom städtischen Umfeld und sind ansonsten gesellschaftlich autark.

Stadtentwicklung in Halle


Dankbarkeit darf nicht zur willenlosen Verantwortungsabgabe führen.


Transit: Wie wird aus Ihrer Sicht mit Raum bzw. mit „Freiraum“ in Halle generell umgegangen? Welche positiven Ansätze gibt es? Wo sehen Sie Fehlentwicklungen?

Licht: Zu weit aus dem Fenster lehnen wollen wir uns nicht, denn wir kennen nicht alle Projekte, die in Halle momentan wichtig sind. Von unseren bisherigen – persönlichen – Eindrücken her denken wir, die Stadt sollte gewissenhafter mit der Abänderung von Bebauungsplänen umgehen. Auch wenn sich jede Stadt über Interessenten, die entwickeln wollen, freut, muss sie umso vorsichtiger sein. Dankbarkeit darf nicht zur willenlosen Verantwortungsabgabe führen. Damit wollen wir nicht unterstellen, dass die Stadt nach dieser Maxime handeln würde. Aber Projekte wie die Einfamilienhaussiedlung am Wasserturm legen diese Vermutung nahe.

Stadtlandschaft ist keine Spielwiese für die Wirtschaft!

Die Stadt hat derzeit drei Sanierungsgebiete ausgewiesen. Eines davon sind die „Altindustriestandorte an der Merseburger Straße mit dem Gründerzeitviertel Südstadt“. Sanierungsgebiete sorgen vereinfacht gesagt für einen „Entwicklungspush“ des Gebietes und bieten umgekehrt steuerliche Vorteile für alle, die sich am Erneuern und Erhalten beteiligen wollen. Dieses Instrument ist damit ein Faktor, der das Stadtteilbild schneller als unter „normalen“ Bedingungen verändern kann. Ob das nun funktioniert, auch für die Altstadt, wird sich zeigen, und ich wage nicht zu bewerten, ob dies ein positiver oder negativer Ansatz ist, aber er ist sicher positiv gemeint.

Die Stadt kennt ihre Qualitäten und versucht diese dementsprechend zu fördern. Sie pflegt einen verantwortungsvollen Umgang mit dem eigenen Wohnungsbestand, auch in Halle-Neustadt hat man allerhand Positives, mitunter durch gutes Quartiersmanagement, versucht und bewirkt. Wir finden es gut, dass die Stadtverwaltung jungen Menschen mehr Freiräume zur Verfügung stellen und lokalen zivilgesellschaftlichen Initiativen Räume geben will. Die Verantwortungsübertragung und Raumübergabe sollte jedoch noch intensiviert werden, schließlich sind die BewohnerInnen einer Stadt diejenigen, denen die Stadt gehören sollte.

Industrieabbruch mit anschließender Flächenneubebauung, wie südlich der Blindenheilanstalt, sehen wir als Fehlentwicklung. Halle, save your industrial heritage!

Brachfläche an der Hafenbahntrasse. (Bild © Benjamin Voigt)

Transit: Herr Voigt, Sie kommen aus Chemnitz. Eine Stadt, mit der sich Halle immer wieder vergleicht, weil sich beide bei verschiedenen statistischen Faktoren recht ähnlich sind. Sehen Sie hier Parallelen bei bestimmten Entwicklungsmechanismen? Und wie geht Chemnitz ggf. mit Fehlentwicklungen um?

Voigt: Chemnitz macht zurzeit eine ähnliche Entwicklung wie Halle durch. Beide Städte sind fast gleich groß und demografisch ähnlich strukturiert. Beide kämpfen mit demselben Problem. Während Wohnungsbaugenossenschaften die halbe Stadt sanieren und dabei einen fairen Mietpreis anbieten können, gibt es immer wieder Grundstücke und vor allem Altbauten, die unbebaut oder unsaniert bleiben. Entweder weil man kein Geld zur Investition hat, der Eigentümer spekuliert oder schlicht keine Nachfrage zum Gebäude existiert. Sobald die Stadt in den Besitz dieser „Problemhäuser“ kommt, wird meistens abgerissen. Danach wird das neu gewonnene Bauland günstig verkauft. Der Investor muss nicht abreißen und die Stadt hat bestenfalls die Abrisskosten wieder rein und einen „Schandfleck“ weniger. Problem ist nur, dass der Investor oftmals typologiefremd neu baut und die Stadt dies durch angepasste Bebauungspläne zulässt.


Dadurch entstehen jedoch Stadtviertel, in denen man in jede Himmelsrichtung nur drei Minuten zum nächsten Discounter oder Bankautomaten braucht, das Autohaus neben dem Spielplatz steht und kein Platz mehr für Öffentlichkeit ist.


Zum Beispiel: Ein Haus im Blockrand eines gründerzeitlichen Quartiers ist nicht mehr haltbar. Die Fenster sind kaputt, das Dach undicht und eine Sanierung wäre sehr teuer. Die Stadt oder der Eigentümer lässt das Gebäude abreißen und verkauft das Grundstück. Es findet sich jemand, der in die Baulücke investieren möchte, und baut beispielsweise einen eingeschossigen Discounter zwischen zwei fünfgeschossige Wohnungsbauten. Es scheint keine Medizin gegen diese Praxis zu geben. Außer vielleicht Geduld und zivilgesellschaftliches Engagement. Doch darin liegt ein weiteres Problem. Vielen AnwohnerInnen ist so eine Brachfläche ein Dorn im Auge. Schließlich will man es ja überall schön hübsch haben. Die Stadt gerät unter Druck und sieht sich gezwungen zu handeln. Dadurch entstehen jedoch Stadtviertel, in denen man in jede Himmelsrichtung nur drei Minuten zum nächsten Discounter oder Bankautomaten braucht, das Autohaus neben dem Spielplatz steht und kein Platz mehr für Öffentlichkeit ist.

Der „Brühl“ in Chemnitz, ein übrig gebliebenes Gründerzeitviertel, wird derzeit aufwändig instand gesetzt. (Bild © Felix Peter)

 

Transit: Vor dem Hintergrund steigender Mieten auch in den deutschen Mittelstädten und der Verdrängung ganzer Bevölkerungsgruppen aus den städtischen Kerngebieten: Inwiefern können Kommunen hier gegensteuern?

Voigt: Wohnen ist ein Grundrecht. Menschen sollten sich unabhängig von ihrem Einkommen den Wohnort aussuchen können. Wohnungsbestand oder Flächen im Besitz der Stadt sollten nicht leichtfertig verkauft werden, um die Kassen zu füllen. So geht keine nachhaltige Stadtplanung.

Licht: So geht überhaupt keine Stadtplanung.

Voigt: Es gibt vielfältige Ansätze damit umzugehen. Beispielsweise mit Wächterhäusern.

Licht: Für mich ist das nicht der richtige Ansatz. Wächterhäuser sehe ich als erste Phase der Gentrifizierung, in der Studierende/KünstlerInnen dazu ausgenutzt werden, ein Objekt für die Nachnutzung und Sanierung Privater fit zu machen und durch ihr kreatives Kapital die Umgebung aufzuwerten. Ich finde die Projektvergabe nach Konzeptidee anstelle von Höchstpreisgeboten gut, um gegenzusteuern. Das bedeutet zum Beispiel: Ein städtisches Grundstück steht zum Verkauf. Im Regelfall wird das Grundstück an denjenigen vergeben, der am meisten dafür zahlt. Manche Städte haben nun aber anstelle dessen an die beste Idee für eine Bebauung vergeben, wie gemeinschaftliche Wohnprojekte und Baugemeinschaften. Leider sehen sich die meisten städtischen Haushalte finanziell und aufgrund mangelnden Wettbewerbs nicht in der Lage, diese innovative Vergabetechnik auszuführen – wie auch Halle: Hier scheint die Option auf einen kapitalen Verkauf des soziokulturellen Zentrums „Hasi“ mehr ins Gewicht zu fallen, als die wertvolle Projektidee.

Voigt: In Anbetracht der Realitäten, in denen wir leben, ist es sicherlich ein radikaler Umbruch, aber ich finde die Idee interessant, die Mietpreise prozentual an das Einkommen zu koppeln. Dies würde dem gängigen Prinzip „Lage + Qualität = Preis“ etwas entgegenstellen. Dieses derzeitige Prinzip ist nicht menschenwürdig und zerstört unser Stadtgefüge. Grundsätzlich muss es aber vor allem mehr staatlich geförderten Wohnungsbau geben. Und das nicht am äußersten Rand unserer Städte.

Und Halles "Ränder"?

Transit: Anderen Stadtteilen von Halle geht es nicht so gut wie dem Süden, bspw. der Silberhöhe oder Teilen von Halle-Neustadt. Was sollte die Stadt hier aus Ihrer Sicht unternehmen? Wo sehen Sie solche Stadtgebiete in zehn, zwanzig Jahren?

Voigt: Die Stadt bemüht sich sehr um die Integration dieser Stadtteile. Die Typologie der sogenannten „Platte“ ist an sich nichts Schlechtes. Der Städtebau ist das Problem. Es muss wieder ein menschlicher Maßstab an diese Stadträume gelegt werden. In Dimensionierung und sozialem Umgang. Ich persönlich empfinde einen weiteren Rückbau auf der Silberhöhe und im Gegensatz dazu eine Nachverdichtung des Zentrums von Halle-Neustadt als zielführend. Dabei möchte ich mich aber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ich verstehe einfach noch zu wenig von diesen Stadtteilen.


Es muss wieder ein menschlicher Maßstab an diese Stadträume gelegt werden.


Licht: Halle-Neustadt und die Silberhöhe sind auch in Zukunft als Reservoir sozialen Wohnungsbestands wichtig und sollten nicht weiter dezimiert werden. Es ist ratsam, sie weitestgehend in öffentlicher Hand zu halten, damit Investoren nicht vom sogenannten „Hartz-IV-Modell“ Gebrauch machen können. Das „Hartz-IV-Modell“ bedeutet sogenannte „Schrottimmobilien“, die entweder leer stehen oder mit BewohnerInnen, deren Miete vom Jobcenter gezahlt wird, gefüllt sind, billig aufzukaufen, die Unterhaltskosten auf Sparflamme zu stellen und somit aus regelmäßigen und sicheren Mieteinnahmen ohne direkte Reinvestition in den Bestand Profit zu schlagen. Den Betroffenen im Mietobjekt kann es dadurch äußerst bescheiden gehen (bspw. durch immer wiederkehrenden Schimmelbefall), ohne dass sie etwas an ihrer Lage ändern könnten.

Sitz der Stadtverwaltung in Halle-Neustadt. (Bild © Felix Peter)

Halle-Neustadt und die Silberhöhe brauchen Orte für Kultur und soziale Angebote. Die Quartiere brauchen viel Zeit, um sich positiv bewähren und ihren bis dato schlechten Ruf ablegen zu können. In zehn bis 20 Jahren bieten sie noch ungeahnte Potentiale als städtischer Wohnraum, der dann hoffentlich wieder sozial heterogener wird.

Halle ist unverstellt. Die Stadt muss sich ihren Freiraum bewahren.

Das Interview wurde in schriftlicher Form geführt.