Die Gaspreisbremse: ein missverstandener Geniestreich

Warum gerechte Politik oft so kompliziert ist

von und | veröffentlicht am 01.11 2022

Beitragsbild: Dani Luiz

Die Gaspreisbremse kommt – und sie ist wohl die bisher zugleich radikalste und cleverste politische Maßnahme der aktuellen Bundesregierung. Der Staat greift ein, um die Versorgung unserer Grundbedürfnisse einigermaßen erschwinglich zu machen. Das klingt erst einmal selbstverständlich, war aber in den letzten Jahren mitnichten politischer Standard (Stichwort: Wohnungsmarkt). In ihrer genauen Funktionsweise wird die Gaspreisbremse bisher jedoch oft missverstanden. Und das kann schlechte Folgen haben, für den eigenen Geldbeutel wie für die gesamte Wirtschaft. Wir wollen dem Konzept der Gaspreisbremse einmal nachgehen: Woher kommt die Idee und was macht sie so klug? Welche zentralen Punkte sollte man verstehen und welche Verbesserungsmöglichkeiten gibt es?




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Das Konzept hinter der Gaspreisbremse

Die Verbraucher*innen müssen durch die Gaspreisbremse nicht den gesamten Anstieg der Marktpreise für Gas selbst tragen. Unternehmen und Privathaushalte erhalten einen Rabatt auf ihre Gasrechnung, der sich an ihrem Vorjahresverbrauch orientiert. Wir konzentrieren uns in diesem Artikel auf die Gaspreisbremse für Haushalte, weil wir sie für die wichtigere Maßnahme halten und die Bremse für die Unternehmen schon jetzt wackelt, da sie möglicherweise nicht mit dem EU-Recht kompatibel ist. Die Haushalte bekommen einen Teil ihrer Gasrechnung erstattet, der sich von 80% ihres Vorjahresverbrauchs ableitet. Wie das genau berechnet wird, ist wichtig zu verstehen und wird unten weiter erklärt. Festhalten können wir erst einmal: Wir haben einen radikalen, klugen staatlichen Eingriff in den Marktmechanismus. Es wird gewährleistet, dass Haushalte sich das Heizen oder andere notwendige Güter leisten können. Die Zahl der Unternehmenspleiten wird verringert. Doch wie kam es zu diesem neuen politischen Instrument? Woher kam diese radikale Idee und wie wird sie begründet?

 

Die Entstehung der Gaspreisbremse

Die Geschichte zur Entstehung der Gaspreisbremse ist auch eine Geschichte von Sexismus, Dogmatismus und kurzsichtiger Politik auf der Bundesebene. Denn auch wenn die Planung und Umsetzung dieser wichtigen Maßnahme komplett überstürzt wirkt, ist der Vorschlag alles andere als neu.

Bereits im Februar 2022 veröffentlichte die Professorin Isabella Weber gemeinsam mit Sebastian Dullien den Entwurf für eine Gaspreisbremse. Weber hatte schon Ende 2021 in einem Artikel darauf hingewiesen, dass historisch gesehen gezielte Preiskontrollen ein sinnvolles Instrument zur Bekämpfung von Inflation sind. Für diesen Standpunkt erntete sie Spott und Hass auf Twitter. Der Nobelpreisträger Paul Krugman bezeichnete sie in einem Tweet als „Truly stupid“. Zwei Doktortitel und eine Professur schützten Weber nicht davor, dass sie von einer breiten Öffentlichkeit für dumm erklärt wurde.

Mitte 2021 begannen die Gaspreise zu steigen, eine Tendenz, die nach der völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in die Ukraine verstärkt wurde. Dullien und Weber prognostizierten, dass der Anstieg der Heizkosten für viele Haushalte existenzbedrohend sein würde. Sie sahen auch voraus, dass ein hoher Gaspreis die Gesamtinflation stark erhöhen wird, weil hohe Energiepreise auch die Produktion vieler anderer Güter teurer machen. Ein hoher Gaspreis destabilisiert die deutsche Wirtschaft also doppelt: einmal durch eine hohe Inflation und gleichzeitig durch die Bedrohung der Wohnsituation von Millionen Bürger*innen. Auch die Gaspreisbremse hat dementsprechend ebenfalls eine doppelte Wirkung: Sie bewahrt Haushalte davor, sich die aktuellen Heizkosten oder anderen Grundbedarf nicht leisten zu können. Und sie bekämpft wirksam die generelle Inflation.

Während Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) noch von der Gasumlage träumte, plädierten Weber und Dullien bereits für eine Reduktion des Gaspreises durch den Staat. Der Vorschlag, in den Preis einzugreifen, ist jedoch so radikal, dass er den gesamten Sommer und Frühling debattiert wurde, bis auch die liberalsten Mitglieder der Bundesregierung endlich verstanden, dass die Gaspreisbremse unumgänglich ist. Die daraufhin eingesetzte Experten*innenkommission musste innerhalb von nur einer Klausurtagung das Grundkonzept für ein extrem kompliziertes, von Hürden nur so übersätes Instrument vorlegen.

 

Großes Missverständnis No. 1: Der Sparanreiz

Eine der am häufigsten geäußerten Kritiken an der Gaspreisbremse ist, dass sie den Sparanreiz verringern würde. Wenn der Preis für die ersten 80% des Gasverbrauchs reduziert wird und dieser Grundverbrauch an Gas also günstiger bei uns ankommt, als er eigentlich ist, dann sparen wir weniger, als wenn wir den Marktpreis bezahlen müssten – so der Vorwurf. Dagegen gibt es zwei Dinge zu sagen.

Erstens: Diese Kritik wird vor allem von konservativen Ökonom*innen angebracht, aus der (berechtigten) Angst, dass nächstes Jahr in Deutschland ein noch größerer Gasmangel entsteht, was in der Tat fatal wäre. Es wird dabei jedoch ignoriert, dass Gas als Produkt nicht mit Schokolade oder neuen T-Shirts gleich zu setzen ist, von denen man mehr kauft, wenn sie billig sind, weniger wenn sie teuer sind und, wenn die Preise exorbitant steigen, eben gar nicht mehr, ohne dabei große Folgen zu spüren. Gas ist vielmehr ein Produkt, das man (vor allem im Winter) zu einem Mindestmaß benutzen muss, um nicht zu frieren. Das bedeutet: egal bei welchem Preis, wir werden diese Heizperiode Gas benutzen. Eine Preisreduktion würde in erster Linie nicht einen höheren Gasverbrauch, sondern eine Schonung der privaten Haushalte bedeuten.

Das Absurdeste an dieser Kritik ist jedoch: Sie beruht auf einem großen Missverständnis! Werfen wir einen genauen Blick auf den Vorschlag der Gaskommission: Ab März 2023 bekommt jede Gaskundin einen festen Rabatt, einen pauschalen Abzug, auf ihre Gasrechnung. Diese Pauschale errechnet sich wie folgt (sorry, ein bisschen Mathe, aber lohnt sich, also haltet durch!): Man multipliziert zwei Dinge miteinander. (1) 80% deines durchschnittlichen Gasverbrauchs aus dem letzten Jahr (Grundkontingent). (2) Der Unterschied zwischen dem Marktpreis und dem Deckel von 12 ct/kWh. Als Gleichung: Monatliche Erstattung = (Marktpreis – Garantiepreis) * Grundkontingent

Ein kleines Beispiel: Eine sparsame vierköpfige Familie hat letztes Jahr durchschnittlich 1000 kWh pro Monat verbraucht. Damals hat sie den durchschnittlichen Marktpreis von 7 Cent pro kWh bezahlt, also eine Rechnung 70€ pro Monat gehabt. Anfang nächsten Jahres bekommt sie einen neuen Gasvertrag zu 30 ct/kWh. Dann zahlt sie ohne Eingriff 300€ im Monat. In der durch die Kommission vorgeschlagenen Regelung ist ihr Grundkontingent 800kWh (80% von 1000) und der Abstand vom Garantie- zum Marktpreis 18 Cent. Durch die Gaspreisbremse erhält sie 144€ erstattet. Ohne Eingriff würde die Gasrechnung also mehr als vervierfacht, mit wird sie “nur” verdoppelt. Für eine Familie mit geringem oder mittlerem Einkommen ist dieser Eingriff existenzsichernd.

Ich bezahle zwar für jede weitere Kilowattstunde das, was am Markt dafür verlangt wird. Aber gleichzeitig erhalte ich einen pauschalen Abzug auf die Rechnung. Um sich das zu verdeutlichen: Wenn man es aus irgendeinem Grund schaffen sollte, seinen Gasverbrauch deutlich zu reduzieren, führt diese Regelung dazu, dass man, obwohl man Gas verbraucht, gar nichts zahlt. Unter 0€ kann die Rechnung nicht fallen, möglicherweise werden aber Sparboni für die größten Sparfüchse eingeführt. Für jede Kilowattstunde Einsparung spare ich mir gleichzeitig den Marktpreis einer Kilowattstunde. Die Kritiker der Gaspreisbremse, die sich auf den Sparanreiz beziehen, denken anders: sie meinen fälschlicherweise, dass man bei einer Reduktion unter 80% des Vorjahresverbrauchs nur noch den gedeckelten Preis, also 12 ct/kWh einsparen würde.

Eigene Grafik, adaptiert von: Benjamin Moll, https://benjaminmoll.com/wp-content/uploads/2022/10/lump_sum.pdf

 

Die Take-Home-Message: Auch unter 80% bedeutet jede Kilowattstunde weniger ein Ersparnis zum Marktpreis. Und das ist gut so, denn dadurch bleibt der volle Sparanreiz bestehen. Und gespart werden muss nun einmal, wenn es weniger Gas gibt als vorher. Die Gaspreisbremse vereint also Sparanreize mit einer deutlichen Entlastung. In dieser großen Entlastung, die gerade für ärmere Haushalte extrem wichtig ist, ist sie eine (zumindest in Deutschland) nie dagewesene und wirklich lobenswerte politische Maßnahme.

 

Großes Missverständnis No. 2: Das Ende der Heizperiode

Eine zweite falsche Kritik an der Gaspreisbremse hängt sich am Zeitpunkt ihrer Einführung auf: März 2023. Die Kritik lautet folgendermaßen: Ab März, spätestens aber ab April heizt man weniger. Wenn dann 80% meines Bedarfs günstiger wird, hilft mir das doch viel weniger, als wenn es 80% vom Januar oder Februar sind. Wieder müssen wir uns den Mechanismus der Gaspreisbremse in Erinnerung rufen: Die Gaspreisbremse gibt uns nicht einen Rabatt auf 80% unseres tatsächlichen Monatsverbrauchs. Sie ist eine Pauschalzahlung, die sich an der Vergangenheit orientiert. Genau genommen nimmt sie als Basis für die Berechnung des Grundkontingents unsere Gaszahlung aus dem September 2022. Also: Grundkontingent = 80% vom Verbrauch, der der Abschlagszahlung im September 2022 zugrunde lag. Ein ganz wichtiger Schritt im Verständnis ist hier aber, dass wir jeden Monat das gleiche für unser Gas bezahlen. Unser Verbrauch wird über das Jahr zusammengenommen und dann durch 12 geteilt, sodass wir jeden Monat den gleichen Betrag zahlen. Das bedeutet, dass sich das Grundkontingent auch nicht an unserem Verbrauch nur aus dem September orientiert, sondern an unserem Jahresverbrauch durch 12. Dementsprechend: Rechnerisch ist es egal, ob ich diese Gaspreisbremse im Januar oder im März oder im Juli bekomme. Ich bezahle immer meinen fixen monatlichen Satz minus den pauschalen Rabatt. Natürlich ist es problematisch, dass die Gaspreisbremse nicht eher kommt – aber nicht, weil sie dann effektiver wäre, sondern weil es Haushalte gibt, die die Abschläge nicht bis März bezahlen können.

 

Direktzahlungen und Ungerechtigkeit

Die schwerwiegendste Kritik an dem aktuellen Entwurf der Gaspreisbremse ist der der Ungerechtigkeit. Denn ja, reiche Menschen wohnen in größeren Häusern und verbrauchen mit ihnen mehr Gas – bekommen also durch die Gaspreisbremse mehr Geld.

Dagegen kann man wenig sagen, denn es stimmt. Der Villenbesitzer wird mehr Geld erstattet bekommen, als die Familie in der Sozialwohnung. Trotzdem ist festzuhalten: ein wirtschaftspolitisches Instrument, das derart kompliziert und weitreichend ist, kann man nicht innerhalb von dem kurzen Zeitraum, in dem die Gaskommission die Gaspreisbremse entwerfen musste, progressiv (also den Einkommen entsprechend differenziert) gestalten. Der Gasmarkt ist kompliziert, so wissen z.B. die Gasanbieter nicht, wie viele Haushalte von einem Gasanschluss versorgt werden. Es ist also unklar, ob hinter einem Gasanschluss ein Haus mit einer oder mehreren Familien steckt. Diese Umstände kann die Gaskommission nicht aus der Welt schaffen – die Bundesregierung hätte jedoch seit Februar Zeit gehabt, sich um exakt solche Probleme zu kümmern. Nun ist wichtig, dass die Bundesregierung dem Vorschlag der Gaskommission nachkommt, den Rabatt ab einem jährlichen Einkommen von 72.000 € zu versteuern und eine „Obergrenze für das geförderte Kontingent“ einzuführen. Dann wird der Villenbesitzer wenigstens nicht mehr in voller Höhe gefördert.

Auch die Forderung nach Einmalzahlungen ist durchaus berechtigt. Aber ähnlich wie bei der Gehaltsdifferenzierung scheitert es wieder an fehlender Infrastruktur. Die Bundesregierung verfügt nicht über die Kontonummern der Bürger*innen und selbst, wenn sie es täte, wie sollte sie aus dieser Masse an Konten herausfiltern, welche mit Gas heizen und welche nicht? Die Gaskommission fordert auch hier die Bundesregierung auf, so schnell wie möglich die gesetzlichen und logistischen Grundlagen für Direktzahlungen zu schaffen, damit in der nächsten Krise besser reagiert werden kann. Des Weiteren kommt die Maßnahme, wie sie aktuell ausgestaltet ist, so nah wie angesichts der aktuellen Datenlage möglich an Direktzahlungen an Bedürftige heran. Es lässt sich abschließend sagen: Versagt hat an dieser Stelle die Weitsicht der Regierung, nicht die Wissenschaftler*innen, die die Gaspreisbremse entworfen haben.

 

Fazit

Die Gaspreisbremse – oder lass es uns Gaskostenbremse nennen, denn der Preis pro Kilowattstunde bleibt ja der gleiche – ist im Grunde eine wirklich progressive politische Maßnahme. Der Staat übernimmt Verantwortung für die existenzielle Grundversorgung seiner Bevölkerung. Sie sollte als Vorbild für weitere Bereiche (Wohnungsmarkt, Arbeitslosengeld, Familienpolitik) dienen. In ihrer konkreten Ausgestaltung darf man an ihr berechtigte Kritik üben, da beispielsweise der Villenbesitzer mehr von ihr profitiert als eine auf beengtem Raum lebende Familie. Hier müssen Direktzahlungen eingesetzt werden, die an die Bedürftigsten gerichtet sind. Dennoch ist die Empfehlung der Kommission ein sehr guter Anfang, da sie den vollen Sparanreiz mit einer deutlichen Entlastung kombiniert. Die Bundesregierung sollte diesen Vorschlag nicht aufweichen.

An der Entstehungsgeschichte und Erfindung der Gaskostenbremse durch Isabella Weber sieht man wieder einmal, wie schwer es Frauen im Wissenschaftsbetrieb haben, dass es wichtig ist, die „unsichtbare Hand des Marktes“ zu hinterfragen und stattdessen unkonventionellen Ideen nicht mit Ablehnung, sondern Interesse zu begegnen: sie können immer der – um den wirtschaftspolitischen Fachterminus zu nutzen – neue heiße Scheiß sein.

 

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Quellen

Dullien, Sebastian und Isabella M. Weber (2022): “Mit einem Gaspreisdeckel die Inflation bremsen”, Heft 3/2022, Wirtschaftsdienst, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik,

https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2022/heft/3/beitrag/mit-einem-gaspreisdeckel-die-inflation-bremsen.html letzter Zugriff: 26.10.2022.

ExpertInnenkommission Gas Wärme (2022): “Sicher durch den Winter. Zwischenbericht.” Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Energie/expertinnen-kommission-gas-und-waerme.html letzter Zugriff: 26.10.2022.

ExpertInnenkommission Gas Wärme (2022): “Sicher durch den Winter. Abschlussbericht.” Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Energie/abschlussbericht.html letzter Zugriff: 31.10.2022.

Weber, Isabella (2021): “Could Strategic Price Controls help fight inflation?”, 29.12.2021 online im Guardian erschienen, https://www.theguardian.com/business/commentisfree/2021/dec/29/inflation-price-controls-time-we-use-it letzter Zugriff: 26.10.2022.

Moll, Benjamin (2022): https://benjaminmoll.com/wp-content/uploads/2022/10/lump_sum.pdf Letzter Zugriff: 26.10.2022.

Autor*inneninfos

Der Arbeitskreis Kritischer Wirtschaftswissenschaftler*innen (AKW) setzt sich als Lesekreis und Organisator von Vorträgen kritisch mit ökonomischen Fragestellungen auseinander.

Helene Weidner studiert IKEAS und Wirtschaftswissenschaften an der MLU und engagiert sich in ihrer Freizeit bei der jungen GEW und dem Arbeitskreis Kritischer Wirtschaftswissenschaftler*innen

Kilian de Ridder, Mitglied des Arbeitskreises Kritischer Wirtschaftswissenschaftler*innen und der Kritischen Einführungswochen, studiert Wirtschaftswissenschaften und Philosophie in Halle.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.