Zeichen der Solidarität

Der Zusammenhalt unter den Betroffenen des Anschlags ist ein Lichtblick in der aktuellen politischen Gemengelage

von | veröffentlicht am 09.10 2020

Beitragsbild: Initiative 9. Oktober

Heute jährt sich der rechtsterroristische Anschlag in Halle, bei dem zwei Menschen getötet und mehrere Personen verletzt wurden. Im Vorfeld fanden vor Ort zwei Kundgebungen statt, bei denen den Opfern des Anschlags gedacht wurde und Überlebende zu Wort kamen.




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Am Mittwoch versammelten sich über 300 Menschen am Steintor in Halle. Der Platz liegt nur wenige Meter von der Synagoge der Jüdischen Gemeinde zu Halle und dem Kiez-Döner entfernt. Beide Orte waren vor einem Jahr Ziele des rechtsterroristischen Anschlags. An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, versuchte der Attentäter vergeblich in die Synagoge einzudringen und die dort befindlichen Personen zu töten. Vor dem Gebäude erschoss er Jana L. Nachdem der Täter an den Sicherheitsvorkehrungen der Jüdischen Gemeinde scheiterte, nahm er sich den Kiez-Döner als zweites Anschlagsziel vor. Dort tötete er Kevin S.

Unter dem Motto „Solidarisch gegen Antisemitismus und rechten Terror“ wurde auf der Kundgebung den Opfern des Anschlags gedacht. Aufgerufen hatten die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD), Base Berlin und die Initiative 9. Oktober. Letztere setzt sich seit mehreren Monaten dafür ein, dass die Perspektiven der Betroffenen und Überlebenden des Anschlags Gehör finden und fordert eine konsequente Auseinandersetzung mit dem rechten Terror.

Praktische Solidarität

Zuvor hatte die JSUD mit einem Spendenaufruf für den vom Anschlag betroffenen Kiez-Döner international für Aufmerksamkeit gesorgt. Den gesammelten Betrag über 29.000 Euro händigten die jüdischen Studierenden zu Beginn der Kundgebung an İsmet Tekin, den Betreiber des Imbiss, aus. Es handelt sich um einen Akt der praktischen Solidarität. Dagegen blieb die erhoffte Hilfe von staatlicher Seite aus, obwohl Ministerpräsident Reiner Haseloff kurz nach dem Anschlag noch medienwirksam Unterstützung zusicherte. Solidarität kam dafür aus der Zivilgesellschaft. Eine Soli-Gruppe organisiert seit mehreren Monaten Unterstützung. Mit Hilfe der Spende der JSUD will Tekin, der lange um sein Geschäft bangen musste, den Imbiss in ein Restaurant umwandeln.

Der Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung unter den Betroffenen und Überlebenden des Anschlags ist bemerkenswert.

Unterstützung kommt auch von der Jüdischen Gemeinde Halle. Max Privorozki, Vorsitzender der Gemeinde, kündigte an, dass sie beschlossen haben, Verzehrgutscheine für den Kiez-Döner zu kaufen und an die –vor allem jüngeren– Mitglieder zu verteilen. Einen Gutschein, so Privorozki unter Lachen der Kundgebungsteilnehmer:innen, würde er aber für sich behalten.

Der Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung unter den Betroffenen und Überlebenden des Anschlags ist bemerkenswert. Wenn es in der aktuellen politischen Gemengelage einen Lichtblick gibt, dann hier. Das Bewusstsein, dass angesichts grassierender rechter Gewalt nur gemeinsames Handeln und gegenseitige Solidarität in der Zivilgesellschaft etwas bewirken können, scheint hier allgegenwärtig. In manchen Fällen ist praktische Solidarität auch eine Frage des Überlebens.

Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung prägten auch die Kundgebung, die am Donnerstag direkt vor dem Kiez-Döner stattfand. Aufgerufen hatten dazu Migrant:innen aus Halle unter dem Motto „Jetzt reden wir!“. Zwischen 15 und 17 Uhr kamen viele Menschen zu Wort, um über ihre Perspektiven auf die Gegenwart und ihre Träume von einer anderen Gesellschaft zu sprechen. Aber auch von Erfahrungen mit alltäglichem Rassismus, sei es bei Polizeikontrollen, in der Schule, oder auf der Straße, war viel die Rede. Es gibt Menschen, so die Moderatorin der Veranstaltung, die gerne bei der Kundgebung sprechen wollten, aber Angst hatten, ihr Gesicht zu zeigen, da sie tagtäglich Rassismus erfahren. Diejenigen aber, die jetzt hier stehen, ließen sich nicht einschüchtern: „Wir haben keine Angst mehr, in der Öffentlichkeit aufzutreten.“

Sichtbarkeit war auch bei der Kundgebung am Mittwoch Thema. Jeremy Borovitz, der den Anschlag auf die Synagoge überlebte, erklärte anhand einer mitgebrachten Laubhütte die Bedeutung des Festes für religiöse Jüdinnen und Juden. Borovitz ist im vorigen Jahr nach Berlin gezogen, um zusammen mit Rebecca Blady Base Berlin zu gründen. Die Initiative hat das Ziel, neue spirituelle und kulturelle Angebote für das jüdische Leben in Deutschland zu machen. Auf Twitter kommentierte Igor Matviyets den Auftritt von Borovitz auf der Kundgebung mit den Worten: „Weil so viele Journalist*innen gefragt haben: So sieht sichtbares jüdisches Leben aus und nein, das war in Halle auch vor dem Anschlag nicht der Fall.“

„Jetzt reden wir!“ Kundgebung vor dem Kiez-Döner in Halle

Erneute Angriffe an jüdischen Feiertagen

„Die Kundgebung hier ist großartig. Aber sie verweist auch auf ein Problem. In einer Gesellschaft in der jüdische Gemeinden nur zu Wort kommen, wenn es um die Shoah und den Nahostkonflikt geht, müssen wir schon wieder über Antisemitismus reden“, sagte einer der Redner auf der Kundgebung am Mittwoch. Ein Jahr nach dem antisemitischen und rassistischen Anschlag gab es erneut einen Angriff an einem jüdischen Feiertag. In Hamburg wurde ein jüdischer Student vor einer Synagoge schwer verletzt. Der Angreifer trug ein Zettel mit einem Hakenkreuz bei sich. Solche Angriffe sind der traurige Alltag in Deutschland, was ein beständiges Bedrohungsszenario für jüdische Menschen zur Folge hat. Bini Guttmann, Präsident der European Union of Jewish Students (EUJS), sprach angesichts der antisemitischen Angriffe, die allein in den letzten Wochen und Monaten stattfanden, von einer schrecklichen Kontinuität. „Was hier in Halle letztes Jahr geschah, ist genau das, wovor wir als Kinder immer gewarnt wurden und wovor wir immer gewarnt haben.“

Einig war man sich, dass Antisemitismus entschiedener entgegen getreten werden muss. „Es reicht nicht, sich auf Twitter zu empören,“ sagte Ruben Gerczikow, Vize-Präsident der JSUD. „Egal ob jüdisch oder nicht jüdisch, wir müssen politischer werden und handeln. Es liegt an uns, die Rechtsextremen zu stoppen.“ Gerczikow sprach auch von einer zunehmenden Politisierung. Er bezeichnete sich selbst als Antifaschist – „für immer“.

CDU Sachsen-Anhalt instrumentalisiert Jahrestag und suggeriert, Schutz jüdischer Einrichtungen sei zu aufwendig

Dass man politisch selbst aktiv werden muss und sich nicht auf staatliche Akteure verlassen kann, wenn es um den Schutz jüdischen Lebens geht, zeigen auch die Ereignisse der vergangenen Tage. Die Rede ist von den jüngsten Äußerungen des Innenministers Holger Stahlknecht. Der CDU-Politiker sprach bei einem Besuch des Polizeireviers Dessau-Roßlau davon, dass die Beamten dort monatlich 1.500 Arbeitsstunden zusätzlich leisteten, um die Bewachung jüdischer Einrichtungen in Dessau abzusichern. Der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, kritisiert Stahlknecht für seine Aussagen und zweifelt dessen Eignung für das Amt des Innenministers an. Stahlknecht suggeriere damit, dass Jüdinnen und Juden dafür verantwortlich seien, dass die Polizei an anderer Stelle fehle. Wie Matviyets auf der Kundgebung zeigte, löste die Äußerung Stahlknechts unmittelbar antisemitische Reaktionen in Kommentarspalten aus. Während der Ministerpräsident dem Zentralrat der Juden in einer klassischen Opfer-Täter-Umkehr „Böswilligkeit“ unterstellt, ist sich Matviyets sicher, dass hier jemand ganz bewusst am rechten Rand angelt.

Stahlknecht suggeriere damit, dass Jüdinnen und Juden dafür verantwortlich seien, dass die Polizei an anderer Stelle fehle.

Aber schon vorher stand der Umgang der Staatsträger mit den Betroffenen und Überlebenden des Anschlags in der Kritik. Als Ministerpräsident Haseloff und Oberbürgermeister Bernd Wiegand den diesjährigen Gottesdienstes zu Jom Kippur besuchten, fiel ihr auf mediale Verwertbarkeit ausgerichtetes Verhalten unter Teilnehmer:innen des Gottesdienstes negativ auf. In der Welt wirft Christina Feist der Delegation um Haseloff Instrumentalisierung vor. „Von dieser Unterbrechung des Gebets durch Repräsentanten der christlichen Mehrheitsgesellschaft am höchsten jüdischen Feiertag fühlte ich mich in meiner Religionsausübung gestört und instrumentalisiert“. Feist überlebte den Anschlag auf die Synagoge und tritt als Nebenklägerin im Prozess gegen den Attentäter auf.

Kritik an mangelndem Einsatz von staatlicher Seite gegen rechten Terror und Rassismus gab es auch auf der Kundgebung vor dem Kiez-Döner. Mehrere der Redner:innen stellten eine Kontinuität menschenverachtender Einstellungen in Deutschland fest. Eine kurdische Frau mit langjähriger Fluchterfahrung, sprach davon, dass sie bisher in keinem Land gelebt habe, in dem Rassismus so tief verankert sei, wie in Deutschland. Sie verwies nicht nur auf den alltäglichen Rassismus in der Bevölkerung, sondern auch auf die rechten Netzwerke in der Polizei, der Bundeswehr und dem Verfassungsschutz, die derzeit offen zu Tage treten.

„Solidarisch gegen Antisemitismus und rechten Terror.“ Kundgebung am Steintor

Solidarität weitertragen

Am Ende der Kundgebung vor dem Kiez-Döner sprach Tekin über die Solidarität die er nach dem Anschlag in Halle erfahren hat. Es sei ein Schritt in die Zukunft, dass wir an diesem Tag hier alle zusammengekommen seien. Dieses Zeichen der Solidarität gelte es jetzt weiterzutragen.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.