„Wir sehen unsere Identität als Geschenk“

Interview mit Brenda Akele Jorde über ihren Film „The Homes We Carry“

von | veröffentlicht am 20.10 2022

Beitragsbild: Film Five

„The Homes We Carry“ entwirft ein komplexes Bild der Geschichte mosambikanischer Vertragsarbeiter*innen in der DDR, transkontinentaler Familienkonstellationen und afro(ost)deutscher Identität der zweiten Generation. Wir haben mit der Regisseurin Brenda Akele Jorde über ihren Film gesprochen, der derzeit beim DOK Leipzig zu sehen ist.




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Transit: „The Homes We Carry“ feierte am Dienstag auf dem DOK Leipzig seine Premiere und läuft dort im Deutschen Wettbewerb langer Dokumentar- und Animationsfilm. Was bedeutet diese Nominierung für dich? Und welche Resonanzen gab es bisher zu deinem Film?

Brenda: Ich war vor vier Jahren zum ersten Mal beim DOK Leipzig in meinem ersten Studienjahr und jetzt hier mit meinem Film zu sein ist wundervoll. Als die ersten Töne erklangen, hatte ich Tränen in den Augen, weil das Baby jetzt endlich in die Welt rausgeht. Man arbeitet ja lange an so etwas. Und zu den Resonanzen: Das ist heute ja der erste Tag nach der Premiere. Es haben mich natürlich ein paar Leute angesprochen. Und ja, es ist total schön, dass das Thema hier gehört werden möchte und überhaupt, dass der Film hier läuft, macht mich glücklich.

Im Rahmen des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm sind vom 17. bis 23. Oktober über 250 Filme zu sehen. „The Homes We Carry“ wird am Freitag, den 21. Oktober, um 20.30 Uhr, in den Passage Kinos Leipzig aufgeführt

Transit: Um ein wenig in die Geschichte des Films einzutauchen: Im Zentrum steht die afrodeutsche Protagonistin Sarah, Tochter eines ehemaligen DDR-Vertragsarbeiters aus Mosambik, Eulidio, und einer deutschen Mutter, Ingrid. Sarah reist nach Mosambik, um dort Eduardo, den Vater ihres Kindes Luana zu treffen und von dort aus nach Südafrika, wo ihr eigener Vater lebt, den sie selbst erst mit 11 Jahren kennen lernen konnte. Wie bist du auf Sarahs Geschichte gestoßen und wie kam die Zusammenarbeit mit ihr zustande?

Brenda: Also, für gewöhnlich ist es ja so, dass die Regie das Thema einbringt. Hier war es aber so, dass ich an der Uni einen Kameramann [David-Simon Groß, Anm. d. Red.] kennengelernt habe, der ein Jahr in Mosambik gelebt hat und dort zum einen Vertragsarbeiter auf der Straße kennengelernt hat. Jede*r Deutsche, die in Maputo Zeit verbringt, wird früher oder später auf eine*n ehemalige*n Vertragsarbeiter*in treffen. Wenn sie dich als Weißen sehen oder hören, dass du Deutsch redest, sprechen die dich an und sind total glücklich. Und so kam er zum einen auf das Thema über diese wöchentliche Demonstration.
Und zum anderen hat er Sarah auch dort kennengelernt. Beide haben in Mosambik ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht und die Protagonistin war dort, um mit ihrer Familie zu connecten. Er hat mir von beiden erzählt und ich war noch auf der Suche nach einem Abschlussprojekt und fand die Möglichkeit spannend, Politik und persönliche Geschichte zu vereinen, überhaupt über afrodeutsche Identität sprechen und reflektieren zu können.

Brenda Akele Jorde studiert seit 2018 Dokumentarfilmregie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. In ihren bisherigen Filmen beschäftigt sie sich mit Themen wie Self-empowerment durch Kunst, Queerness und Migration. „The Homes We Carry“ ist ihr Dokumentarfilmdebüt und ihr Masterfilmprojekt an der Universität.

Michael Karrer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und arbeitet schwerpunktmäßig zum Dokumentarfilm und zur Literatur Lateinamerikas.

Madgermanes

Transit: Du hast gerade schon die ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter*innen angesprochen, die in Maputo noch heute wöchentlich auf die Straße gehen. Der Film beginnt mit einer solchen Demo-Szene und erzählt die Geschichte der Vertragsarbeiter*innen aus der Perspektive Eulidios. Kannst du mehr zum Hintergrund der Demonstrationen, den Kämpfen und Forderungen der „Madgermans“ sagen?

Brenda: Madgermanes! Das ist ganz witzig, im Deutschen denken die Leute immer „Madgermans“, also „verrückte“ oder „wütende Deutsche“ und das habe ich auch am Anfang gedacht. Gemeint ist aber einfach in lokaler Sprache „die in Deutschland gewesenen“. Aber natürlich, sie sind auch „mad“ und sie haben auch allen Grund dazu.
Also zum Hintergrund: Mosambik war sozialistisch und Mosambikaner*innen haben, genauso wie auch Angolaner*innen Vietnames*innen, als Vertragsarbeiter*innen in der DDR gearbeitet. Mosambik war zu diesem Zeitpunkt im Bürgerkrieg. Es war also die Chance auf eine Berufsausbildung, darauf, Geld zu verdienen, auf ein besseres Leben und eine gute Zukunft. Der Plan war, dass sie dann mit diesen guten Berufsausbildungen zurück nach Mosambik gehen, um dort ihr Land aufzubauen. Als sie aber in die DDR kamen, wurden sie in die niedrigsten Jobs eingeteilt, die man sich so vorstellen kann. Wie auch mein Protagonist, Eulidio, der, wie man im Film sieht, im Kernkraftwerk in Lubmin arbeitete. Viele waren im Kohletagebau, in der Textilindustrie, in der Landwirtschaft tätig, also in Bereichen, in denen es einen Arbeitskräftemangel gab. Und eben auch in Industriebereichen, die es in Mosambik bis heute nicht gibt. Von daher war der Vertrag von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Nach der Wende mussten die Madgermanes zurück nach Mosambik. Sie hatten keine Verträge mehr, da die DDR aufhörte zu existierten und ihnen wurde nicht geholfen zu bleiben, selbst wenn sie Familien hatten. Überhaupt war das eine Aufbruchstimmung, es war super rassistisch zu dem Zeitpunkt. Es gab also viele Faktoren, warum sie das Gefühl hatten, zurück nach Mosambik gehen zu müssen, selbst wenn sie Familien hatten, um dann aber später wieder zu kommen.
Einer der größten Faktoren für diese Entscheidung war das Geld. Während die Vertragsarbeiter*innen in der DDR gearbeitet haben, wurde zwischen 20 und 60 Prozent ihres Lohnes abgezogen und auf ein Sparkonto nach Mosambik transferiert. Jetzt dachten die nach der Wende „Okay, wir holen jetzt unser Geld ab“. Als sie dann aber in Mosambik ankamen, wurden manchen schon am Flughafen das Sparbuch abgenommen. Die Lohnabzüge wurden nie ausgezahlt. Deswegen demonstrieren sie jede Woche.
Und der letzte Punkt ist besonders traurig. Manche Vertragsarbeiter*innen kamen mit Fernseher, Motorrädern, also mit ihrem Hab und Gut aus der DDR zurück nach Mosambik und wurden dort nicht mit offenen Armen empfangen. Ganz im Gegenteil: Die Leute in Mosambik hatten im Bürgerkrieg gelitten und waren neidisch und skeptisch. Und so mussten sich die Madgermanes hinten anstellen, haben keine Jobs bekommen und wurden diskriminiert.

Transit: Das ist auch der Grund, warum Sarahs Vater Eulidio nach seiner Rückkehr nach Südafrika auswandert? Erst die Diskriminierungserfahrung in der DDR…

Brenda: …und dann auch noch im eigenen Land, absolut. Wie du schon sagst, Eulidio geht wie viele andere Madgermanes nach Südafrika, überhaupt sehr viele Mosambikaner*innen gehen dorthin, um in Goldminen zu arbeiten. Das Thema hat leider nicht mehr in den Film gepasst. Wir hatten Aufnahmen, wie Eulidio durch die Ruinen dieser alten Goldmine läuft. Aber ich wollte mich auf Sarah fokussieren, weil die zweite Generation für mich sehr wichtig ist. Über die Vertragsarbeiter*innen wurde tatsächlich schon mehr gemacht als über die zweite Generation. Und damit kann ich mich noch besser identifizieren und wollte diese Geschichte auch aus meiner Perspektive erzählen.

Mehr Informationen zu den Aktivitäten und Forderungen der Madgermanes finden sich u.a. in einem Interview mit Aktivist*innen aus Maputo in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift PERIPHERIE.

30 Jahre danach

Transit: Über die Situation der Vertragsarbeiter*innen in DDR wurde ja auch nach der Wende sehr lange geschwiegen, ebenso wie über die krasse Ausbeutung, die du gerade beschrieben hast. Da wurden Menschen zur Tilgung von mosambikanischen Staatsschulden eingesetzt. Mein Eindruck ist, dass es in den letzten Jahren aber schon mehr Aufmerksamkeit für die Situation der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen gab. Zum Beispiel gab es im vergangenen Jahr einen offenen Brief an die Bundesregierung, in dem über 100 Wissenschaftler*innen Entschädigung für die ehemaligen mosambikanischen Vertragsarbeiter*innen fordern. Und vor einem Monat erst fand in Staßfurt eine Konferenz zur „Schule der Freundschaft“ statt. Dort gingen ab 1982 900 Kinder und Jugendliche aus Mosambik zur Schule. Gibt es gerade mehr Öffentlichkeit zu dem Themenkomplex und wenn ja, verändert sich dadurch auch real etwas für die Betroffenen?

Brenda: Ich hoffe. Aber es ist erst einmal total traurig, dass 30 Jahre vergangen sind. Die Menschen in Maputo werden immer älter. Viele sind schon gestorben. Das heißt, es geht nicht schnell genug. Gerade gibt es wieder Aufmerksamkeit und das ist sehr wichtig. Und es ist jetzt auch die letzte Chance, da noch mal was zu machen. Der offene Brief war eine sehr wichtige Maßnahme und da sind unterschiedliche Initiativen mit Politiker*innen im Kontakt. Die SED-Opferbeauftragte hat bei ihrem Amtsantritt gesagt, dass sie sich für die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen einsetzen möchte. Allerdings gibt sehr viele Einzelfälle und die Bürokratie erschwert alles. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber es muss jetzt etwas passieren, weil die Menschen nicht mehr lange leben werden und selbst mit 800 € könnten sie sich in Mosambik ein Haus kaufen.

Transit: Es gibt also in der Frage der Entschädigung bisher keine nennenswerten Fortschritte?

Brenda: Nichts Konkretes, aber es gibt sehr viele Gespräche. Ich bin zum Beispiel mit Julia Oelkers im Kontakt, die sich da sehr engagiert. Und sie sagt: „Wir müssen den Politiker*innen immer wieder erklären, worum es geht.“ Deswegen ist sie auch ganz froh, wenn der Film hoffentlich Aufmerksamkeit bekommt.

Vater-Kind-Beziehungen

Transit: Ich würde gerne noch einmal zurück auf den Film kommen. Der Film legt einen starken Fokus auf die Vater-Kind-Beziehungen zwischen Sarah und Eulidio einerseits und andererseits zwischen Sarahs Tochter Luana und deren Vater Eduardo. Im Film werden immer wieder problematische Momente in diesen Beziehungen hervorgehoben, oft auf einer ganz mikroskopischen Ebene. Zum Beispiel in der Szene, in der Eulidio erst seine Einkäufe erledigt, obwohl seine Tochter so weit gereist ist, um ihn zu sehen. Inwiefern spielt in dieser Darstellung der Beziehung gerade auch die erzwungene Trennung des Vaters von seiner Tochter eine Rolle?

Brenda: Zuerst muss man sagen, dass Sarah noch Glück hat im Vergleich zu anderen Kindern, die ihren Vater nie kennenlernen konnten, weil Kontakte abgebrochen wurden. Manchmal wegen der Familien selbst, weil sie rassistisch waren oder weil es einfach nicht möglich war, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Sarah hat also in dem Sinne noch Glück, dass ihre Mutter die Begegnung mit dem Vater möglich gemacht hat, auch wenn sie zu dem Zeitpunkt schon 11 Jahre alt war. Aber klar, wenn du deinen Vater nur so selten siehst, kannst du einfach keine so enge Beziehung aufbauen, wie vielleicht zur Mutter, mit der du gelebt hast.
Trotzdem ist es total schön bei Sarah und ich kenne das eben auch aus meiner eigenen Geschichte, dass du dich trotzdem dort immer sehr zu Hause fühlst und etwas mitnehmen kannst, das du in Deutschland so nicht hast. Und deswegen sehen wir beide, Sarah und ich, unsere Identität als Geschenk, als Bereicherung und nicht als Fluch oder Nachteil. Und trotzdem haben wir, wenn wir aus Deutschland kommen, bestimmte Ansprüche. Wir hoffen, oder Sarah hofft, dass der Vater sich dann unbegrenzt Zeit nimmt. Aber er hat selbst eine Familie zu versorgen. Eulidio lebt finanziell in sehr prekären Verhältnissen und kann sich nicht einfach so freinehmen. Und es ist dann tatsächlich auch doch so sehr Familie, dass man dann keine Ausflüge unternimmt oder so, du bist dann halt da. Das ist auch die Mentalität, die ich bei meinem Vater kennengelernt habe. Du bist da und das ist schön und du fühlst dich zu Hause, aber das Leben dort hört dann nicht auf, weil du da bist. Fakt ist, sich nicht so oft zu sehen, erzwingt oder ermöglicht eine ganz andere Form von Beziehungen, die aber trotzdem liebevoll und innig ist.

Transit: Deine eigene Erfahrung, die du gerade erwähnt hast, kommt im Film selbst nicht direkt zur Sprache. Dort steht Sarahs Geschichte im Mittelpunkt und du nimmst als Filmemacherin eine rein beobachtende Rolle ein. Warum hast du dich genau für diese Form des Dokumentarischen entschieden? Es gibt ja im Dokumentarfilm gerade eher den Trend zu einer subjektiven und selbstreflexiven Perspektive…

Brenda: Wir haben schon so viele Ebenen in dem Film. Wir haben die Vertragsarbeiter*innen, das Archivmaterial, wir haben zwei Vater-Kind-Beziehungen und drei Länder. Der Schnitt war schon so unglaublich kompliziert und manche Themen können wir nur anreißen, weil die Familienkonstellation schon so komplex ist. Mich da jetzt auch noch reinzubringen, als jemand die keine deutsch-mosambikanischen Herkunft hat, sondern eine deutsch-ghanaische, wäre einfach zu komplex geworden. Und wir wollten von Anfang an das Beobachtende üben. Es ist unser Abschlussfilm und jede Form hat ihre Schwierigkeiten. Aber genau das hat uns gereizt, mit einer beobachtenden Kamera Sarahs Reise zu dokumentieren.
Ein Film ist ein Prozess. Wir haben dreieinhalb Jahre daran gearbeitet. Zwischendurch gab es die Überlegung, dass meine WhatsApp Nachrichten mit Sarah im Film noch eine Rolle spielen könnten oder die Briefe von Eulidio und Ingrid. Das ist ja immer etwas, das weh tut, wenn du deine Darlings im Film killen musst. Wir hatten eine Szene mit Vertragsarbeiterinnen in Mosambik, die auch noch mal eine ganz andere Geschichte haben und oft leider hinten runter fallen. Aber es gab auch sie. Es gab die Vertragsarbeiterinnen in der DDR, die gezwungen wurden, die [Verhütungs-]Pille zu nehmen, die nochmal viel krasser klein gehalten wurden als die Männer, von beiden Seiten. Es gibt so viele Sachen, die man dann im Endeffekt nicht reinnehmen kann, damit man so einem Film noch folgen kann.

Transit: Es ist also noch ganz viel Material da, vielleicht für zukünftige Projekte oder um an bestimmten Aspekten weiterzuarbeiten?

Brenda: Ich hab das Gefühl, I wanna move on. Also gar nicht negativ. Aber wenn man sich so dreieinhalb, vier Jahre mit einem Thema beschäftigt… Ich hab da total viel gelernt, auch über mich, aber jetzt will ich etwas Neues machen.

Afrodeutsche Identität als Bereicherung

Transit: Du hast vorhin bereits erwähnt, dass Sarah und du eure Identität als Bereicherung seht. Und es gibt am Ende des Films eine Szene, in der Sarah über ihre afrodeutsche Identität sagt: „Ich bin beides und kann beides“ und das so an ihre Tochter weitergeben möchte. Das ist vielleicht eine etwas rhetorische Frage, aber denkst du, dass der Film zu so einem Empowerment beitragen kann?

Brenda: Ich hoffe sehr, dass Leute das genau so lesen können, dass es natürlich nicht immer einfach ist, aber im Endeffekt eben auch kein Nachteil. Ich glaube, wenn man sieht, wie glücklich Sarah ist, was sie in Mosambik bekommt, kann man nachvollziehen, warum sie sich dort zu Hause fühlt. Und trotzdem ist ja ganz klar: Sie ist deutsch sozialisiert, in Deutschland aufgewachsen und in erster Linie Deutsche und hat somit eben zwei Heimaten. Ich bin jetzt 29, ich bin auch da angekommen, dass ich da einfach nur stolz drauf sein kann und möchte. Aber ich glaube, viele von uns [Afrodeutschen, Anm. d. Red.] brauchen erst mal diese Reisen und den Bezug. Weil, wenn du das eben nicht hast, dann ist es schwerer. Auf was greifst du dann zurück? Wie kannst du sagen: „Okay, ich bin Afrodeutsche“, wenn du das Afro nie kennengelernt hast, deinen Vater nicht bei dir hattest. Deswegen sind diese Beziehungen einfach total wichtig. Und ja, ich hoffe, dass alle Afrodeutsche, die den Film sehen, sich da einfach drin wiederfinden und wir generell so stark dazu stehen können.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.