Kommunalwahl: Kippt Halle?

Der Saalestadt könnten fünf Jahre rechts-konservative Mehrheit im Stadtrat bevorstehen

von | veröffentlicht am 22.05 2019

Beitragsbild: Transit

Wenn am kommenden Sonntag an die Wahlurnen gerufen wird, stehen viele wieder vor der Entscheidung, wo sie ihre Kreuze setzen. Und nicht viel weniger fragen sich gerade bei Kommunalwahlen, ob sie überhaupt wählen sollten, weil sie nicht wissen, was das überhaupt bringen soll, da voraussichtlich ohnehin alles ungerecht und menschenfeindlich bleiben wird. Und trotzdem: eine Art Wahlaufruf.




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In Ländern, in denen nicht gewählt werden darf oder Wahlergebnisse vor der Wahl schon feststehen, sind freie Wahlen immer mit großen Hoffnungen auf Veränderungen verbunden. Doch hierzulande hegen vor allem die braunen Bürgerkriegsbeschwörer vom rechten Rand solche Hoffnungen, während die gesellschaftliche Linke zu einem großen Teil nicht (mehr) an Veränderungen durch Wahlen glaubt – ja im Gegenteil nur noch hofft, dass nicht alles immer schlimmer werden wird.

Und gerade diese Hoffnung ist es, die den Ausschlag geben sollte, trotz aller Vorbehalte und Kritik an den politischen Verhältnissen zur Wahl zu gehen und einen gültigen Stimmzettel in die Wahlurne zu werfen. Denn es steht schon einiges auf dem Spiel, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im halleschen Stadtrat verschieben sollten.


Der Jungstar der französischen intellektuellen Linken, Édouard Louis, hat in seinem gesellschaftskritischen Roman Qui a tué mon père eindrucksvoll beschrieben, wie konkret Politik das Schicksal von Menschen berührt. An seinen Vater adressiert schreibt er: „Im März 2006 ließen […] Jacques Chirac […] und sein Gesundheitsminister Xavier Bertrand mitteilen, die Kosten für mehrere Dutzend Medikamente würden nicht mehr erstattet. […] Da du seit deinem Arbeitsunfall den ganzen Tag liegen musstest und dich schlecht ernährtest, hattest du unablässig Probleme mit der Verdauung. Jetzt mussten wir die Mittel dagegen selbst bezahlen, das fiel uns immer schwerer. Jacques Chirac und Xavier Bertrand machten deinen Darm kaputt. […] Du wusstest, dass Politik für dich eine Frage von Leben und Tod bedeutet“ (2019, S. FISCHER, S. 68 und 70).


Nun ist der scheidende Stadtrat, in dem DIE LINKE, SPD und Grüne eine Mehrheit hatten, nicht gerade durch progressive Politik aufgefallen – man denke nur an die Quasiprivatisierung großer Teile des einst beliebten Hufeisensee-Ufers, das Hickhack um das frühere Soziokulturelle Zentrum „Hasi“ in der Hafenstraße 7 oder die Unfähigkeit, etwas gegen steigende Mieten und die Gentrifizierung weiter Teile der Innenstadt auch mit Hilfe der kommunalen Halleschen Wohnungsgesellschaft HWG zu unternehmen. Und es fehlen überzeugende Antworten auf die Fragen in einer von Entsolidarisierung und Ökonomisierung geprägten Gesellschaft auch und gerade auf kommunaler Ebene. Doch wurde wenigstens keine derart reaktionäre Politik verfolgt, wie an anderen Orten in der Region. So konnten auch wichtige sozio-kulturelle Projekte durchgebracht werden, wie etwa die Finanzierung zusätzlicher Schulsozialarbeit, die deutliche Aufstockung der Förderung der freien Theaterszene in Halle oder sogar die Förderung von Sanierungsmaßnahmen in der Reil 78.

Was passiert, wenn sich Mehrheitsverhältnisse in kommunalen Parlamenten ändern, ließ sich seit der letzten Kommunalwahl am Beispiel von Dresden gut nachvollziehen. Dort konnte zunächst eine rot-rot-grüne Koalition die bis dato konservative Vorherrschaft brechen und durchaus progressive Projekte – bspw. im sozialen Wohnungsbau, im Nahverkehr, in der Gleichstellung oder der Jugendhilfe – auf den Weg bringen. Doch dann kippte die Mehrheit im November 2018, als drei Stadträte die SPD-Fraktion nach internen Querelen verließen. Und nun wird sogar befürchtet, dass es nach der Kommunalwahl künftig eine Mehrheit aus CDU und AfD im Dresdner Stadtrat geben könnte. Beide Parteien stehen sich vor allem in Sachsen bekannterweise ziemlich nah. Unter dem Motto „Dresden kippt!“ wurde deshalb eine Kampagne gestartet, um ein solches Szenario zu verhindern. Und in Leipzig, wo angesichts der letzten Bundestagswahlergebnisse ebenfalls ein Ende der dortigen rot-rot-grünen Stadtratsmehrheit befürchtet wird, läuft derzeit die Kampagne „Leipzig kippt nicht!“.

In einem Flugblatt dieser Kampagne wird direkt dazu aufgerufen, am 26. Mai wählen zu gehen: „Zum Erhalt der linken Mehrheit im Stadtrat und solcher Freiräume, die überhaupt erst Gestaltung in unserem Sinne möglich machen“. In Halle sucht man eine solche öffentliche Diskussion über eine drohende Rechtsverschiebung im Stadtrat vergeblich. Es gibt zwar eine Art rot-rot-grüne Zusammenarbeit und irgendwie wollen die drei entsprechenden Fraktionen in diesem Jahr auch noch einen gemeinsamen Kandidaten erfolgreich durch die Oberbürgermeisterwahl im September bringen. Doch zur Stadtratswahl kämpft jede Partei für sich allein und schon vorher drohte diese Allianz mehrfach an allzu großen Differenzen zu scheitern.

Und die Konkurrenz kommt nicht mehr nur von den rechts-konservativen Parteien, sondern es mischen in Halle mittlerweile auch zahlreiche Wählergruppierungen mit, von denen einige auch die Aussicht darauf haben, nach der Wahl genügend Stadträt*innen für eine Fraktion zusammenzubekommen. Eine ziemlich unübersichtliche Situation, aus der durchaus auch Mehrheitsverhältnisse entstehen können, die über die unsolidarischen, ja anti-sozialen Erfolge neoliberaler Politik der letzten Jahrzehnte hinaus einen rechts-konservativen, autoritären Umbruch mit sich bringen.

Und dann stünde in Halle viel auf dem Spiel: Die Sicherheits- und Ordnungspolitik in der Stadt würde sich sicherlich deutlich verschärfen, der in Halle immer noch vergleichsweise migrationsfreundliche Ton würde rauer werden, bei der Unterstützung antifaschistischer Projekte und Proteste wäre wohl kaum noch etwas zu erwarten, in der Wohnraumpolitik würden Renditeinteressen noch stärker dominieren und unter Haushaltskürzungen würden voraussichtlich vor allem die finanziell ohnehin bereits schwachen Menschen leiden, darunter in Halle besonders viele Kinder und Familien. Auch das Thema Freiräume bzw. Soziokulturelle Zentren wäre dann wohl erst einmal beerdigt und bestehende Hausprojekte dürften um ihre weitere Existenz fürchten müssen.

Das ist sicher keine Schwarzmalerei. Denn viele Beispiele aus anderen Kommunen oder Ländern zeigen, welche Prioritäten rechts-konservative Mehrheiten setzen und wie gut sie in der Lage sind, diese Projekte auch schnell in die Tat umzusetzen. Darum wäre es gut, wenn solche Mehrheiten überhaupt nicht erst entstünden. Schon einfach nur um Schlimmeres zu verhindern. Sich den Wahlgang zu sparen, weil man sich der Illusion nicht mehr hingibt, dass Parteien die Gesellschaft zu einem offeneren und solidarischen Ort machen würden, ist zwar legitim – aber dennoch fahrlässig. Fahrlässig, weil man dadurch am Zustandekommen destruktiver Mehrheitsverhältnisse mitwirkt und die konkreten materiellen Folgen von neoliberaler und autoritärer Politik eben genau die Menschen treffen, die auf eine solidarischere Politik angewiesen sind, deren Lebensqualität unmittelbar davon abhängt.


Édouard Louis führt uns in seinem Roman vor, welche Wirkung selbst kleinste positive (kommunal-)politische Entscheidung – wie beispielsweise ein vergünstigtes oder gar kostenloses Mittagessen an Schulen – haben können: „Einmal wurde im Herbst die jährliche Unterstützung, die jede Familie erhielt, um Schulsachen für die Kinder kaufen zu können, […] um hundert Euro erhöht. Du warst verrückt vor Freude, du riefst im Wohnzimmer: ‚Wir fahren ans Meer!‘ […] Der ganze Tag war das reinste Fest für uns“ (2019, S. FISCHER, S. 70-71).


Nicht zuletzt hat die Zusammensetzung von Parlamenten einen wesentlichen Einfluss auf Diskursräume, also was sagbar ist und was nicht, welche Themen gesellschaftlich und publizistisch eine Rolle spielen und welche nicht. Ein mehrheitlich reaktionärer Stadtrat würde mehrheitlich reaktionäre Diskurse mit reaktionären Ergebnissen führen – und dies würde in der lokalen Berichterstattung noch größeren Raum erhalten und zusammen mit den knallharten politischen Konsequenzen letztlich das gesellschaftliche Klima in der Stadt erschüttern. Die mediale Dominanz der AfD in den traditionellen und digitalen Medien und die politischen Entscheidung gerade in der bundesweiten Ordnungs- und Sicherheits- sowie Asylpolitik haben solche Befürchtungen in den letzten Jahren mehr als bestätigt.

Deshalb sollten alle solidarisch gestimmten Wahlberechtigten am 26. Mai schon allein deshalb wählen gehen, damit es für viele Menschen in der Stadt eben nicht schlimmer wird.

Wahlinformationsseite der Stadt Halle: hier entlang.