Ich vermisse die Erinnerungskultur vor Ort

Ein Anstoß zur Erinnerung an die Arbeitslager der Frohen Zukunft

von | veröffentlicht am 17.12 2020

In Halle wird zu wenig für die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus getan. Insbesondere um die Geschichte der Stadt als Betreiberin von Arbeitslagern und die damit zusammenhängende Ausbeutung von KZ-Gefangenen gibt es fast keine Erinnerungskultur. Unsere Autorin plädiert für ein Gespräch darüber, dass die Menschen der städtischen Politik und Verwaltung, sowie die Anwohnenden die Augen verschließen konnten vor der systematischen Gewalt.




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Ich lebe nun seit fast 7 Jahren in Halle (Saale). Ich bezeichne mich als politisch interessiert und links. Doch erst durch ein zufälliges Gespräch mit einem Bekannten erfuhr ich vor einigen Monaten von den Arbeitslagern in der Frohen Zukunft und Mötzlich, die es dort in den 40er Jahren zur Zeit des Nationalsozialismus gegeben hat. Mein Unwissen irritierte mich, da ich meinte, mit einem sensiblen Blick für Erinnerungskultur durch die Stadt zu gehen. Wie konnte ich dieses Stück Stadtgeschichte übersehen haben? Der Grund scheint mir mittlerweile recht naheliegend und diesen möchte ich im Folgenden weiter ausführen – aber im Kurzen vorweg: Um die Geschichte der Stadt als Betreiberin von Arbeitslagern und die damit zusammenhängende Ausbeutung von KZ-Gefangenen gibt es fast keine Erinnerungskultur.
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Um die Geschichte der Stadt als Betreiberin von Arbeitslagern und die damit zusammenhängende Ausbeutung von KZ-Gefangenen gibt es fast keine Erinnerungskultur.

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Ganz in der Nähe meines neuen Zuhauses in der Frohen Zukunft befanden sich mehrere Arbeitslager. Von einem soll hier die Rede sein – das Außenlager des KZ Buchenwalds mit dem Namen ‚KZ-Außenlager-Birkhahn‘. Dieses wurde von August 1944 bis März 1945 betrieben und befand sich in der Nähe des heutigen Landesverwaltungsamtes. Die Siebelflugzeugwerke in Halle (Saale) hatten im Sommer 1944 im KZ-Buchenwald Arbeitskräfte angefragt. (vgl. Grashoff 2012:16) Daraufhin fanden im Laufe von einigen Monaten mehrere Transporte von Zwangsarbeiter*innen nach Halle (Saale) statt. (ebd.:20) Die dort gefangengehaltenen Menschen wurden als Arbeitskräfte in den Siebelflugzeugwerken ausgebeutet und mussten dadurch die Produktion von Flugzeugen, die im Krieg eingesetzt wurden, unterstützen. Im September 1944 erreichte die Zahl der Insass*innen des Lagers einen Höchststand von 1026 Personen. (ebd.) Bei den Insass*innen handelte es sich um Personen, die in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten – darunter Polen, Russland, Tschechien, Frankreich, Niederlande, Belgien, Jugoslawien – aber auch im Reich selbst, interniert wurden. (ebd.) In dem Unternehmen wurden die Zwangsarbeiter*innen aus dem KZ Birkhahn so eingesetzt, dass sie keinen Kontakt zu anderen Fremdarbeiter*innen haben konnten. (ebd.:31) Zu hundert Personen waren die Menschen in Baracken auf dem Gelände des KZ Birkhahn untergebracht. Die Ernährungslage und medizinische Versorgung war nach Angaben ehemaliger Häftlinge sehr schlecht, wenn auch behauptet wird, sie sei besser gewesen als in anderen vergleichbaren Arbeitslagern. (ebd.:25ff) Auch die Arbeitsbedingungen waren so furchtbar, dass zahlreiche Zwangsarbeiter*innen erkrankten, arbeitsunfähig wurden und daraufhin zurück nach Buchenwald transportiert wurden. (ebd.:28) Mit der Entstehung des KZ-Außenlagers Buchenwald trug die Stadt Halle (Saale) einen weiteren Beitrag zur Unterstützung des antisemitischen und rassistischen Systems des nationalsozialistischen Regimes bei.

Arbeitslager gab es im ganzen Deutschen Reich und sie gehörten zur Strategie, um die nationalsozialistische Ideologie umzusetzen. In diesen Arbeitslagern wurden Menschen festgehalten, ausgebeutet und dazu gezwungen die Industrie und Landwirtschaft in den Kriegsjahren durch ihre Arbeitskraft zu unterstützen. Sie wurden unter menschenunwürdigen bis hin zu lebensbedrohlichen Umständen gefangen gehalten und waren solcher Gewalt ausgesetzt, dass zahlreiche von Ihnen starben oder ermordet wurden.

Aber so grausam die Vorstellung von dieser Realität ist, so abstrakt und fern bleibt sie doch.

Erst im Jahr 2008 gab es eine öffentliche Auseinandersetzung zum KZ-Birkhahn
Ich denke Erinnerung muss vor Ort passieren, damit die notwendige Auseinandersetzung mit der Geschichte und den gesellschaftlichen Konsequenzen stattfinden kann. In Halle (Saale) gibt es den ‚Roten Ochsen‘ als Gedenkort für Opfer politisch motivierter Justiz während des Zweiten Weltkriegs und der DDR. An diesem Ort wird auch der Opfer gedacht, die als Zwangsarbeiter*innen verurteilt wurden. Aber nun gab es doch direkt in dem Stadtteil Frohe Zukunft das Arbeitslager ‚KZ-Außenlager-Birkhahn‘. Da ich, wie gesagt, in all den Jahren in Halle (Saale) noch nichts von der Geschichte gehört habe, erscheint mir das Schweigen recht laut. Mir ist es ein Anliegen, dass dieser Artikel Anlass bietet, über die Geschichte vor Ort ins Gespräch zu kommen und das Vergessen nicht einfach geschehen zu lassen.

Das Schweigen um die Arbeitslager und den Einsatz der Gefangenen in den Siebelflugzeugwerke wurde am 27.01.2008 gebrochen, als Nico Wingert sich mit einem Artikel an die Zeitung ‚Stern‘ wandte, in dem er öffentlich nachfragte, warum die Stadt Halle (Saale) die Existenz des KZ-Außenlagers verschweige bzw. sogar negiere. (ebd.:7) Erst die auf den Artikel folgende öffentliche Debatte führte letztlich dazu, dass an der Endhaltestelle Frohe Zukunft 2009 ein Gedenkstein in Form einer Skulptur und einer Tafel mit der Inschrift „Den Opfern des KZ Aussenlagers Buchenwald der Siebelflugzugwerke Halle-Mötzlich. August 1944- März 1945“ errichtet wurde. Laut Wikipedia hat es außerdem 2003 eine Ausstellung im Stadtmuseum gegeben, welche sich der Geschichte der Zwangsarbeiter*innen und der unterschiedlichen Lager zur Zeit des Nationalsozialismus in Halle (Saale) widmete. Dass es zu diesen Formen der Erinnerung kam, ist dem Engagement des Journalisten Nico Wingert und des Ortschronisten Albert Osterlohs persönlichem Interesse und Recherchen zu verdanken. Der hallesche Zeitgeschichte(n) e.V. – Verein für erlebte Geschichte brachte durch Udo Grashoff 2010 den Band: „Das vergessene Lager – Eine Dokumentation zum Außenkommando des KZ-Buchenwald in Halle/Saale 1944/45“ heraus. Diese Lektüre möchte ich an dieser Stelle sehr empfehlen, da sie informativ über die Lebensumstände und die Bedeutung der Lager zur damaligen Zeit berichtet. Dieser Band ist über die Homepage des Vereins zu erwerben.

Erinnerungskultur mit der Lupe suchen
Wann ist Erinnerung abgeschlossen? Warum kann ich bei meinen Spaziergängen durch den Stadtteil Frohe Zukunft keine Hinweise oder Informationen zu diesem Teil der Stadtgeschichte finden? Als ich wissentlich die oben erwähnte Skulptur an der Endhaltestelle Frohe Zukunft gesucht habe, konnte ich sie beim ersten Mal nicht entdecken, weil sie von der Straßenseite aus sehr uneinsichtig platziert ist. Ich vermisse eine Gedenktafel für die Menschen, die in den Lagern in der Frohen Zukunft und Mötzlich zu Tode gekommen sind. Ich vermisse eine Informationstafel über die Geschichte der Arbeitslager an den vier Orten, wo diese existierten (KZ Birkhahn – heute ‚zum Goldberg, Kriegsgefangenenlager in der Osramstraße, Zwangsarbeiterlager auf dem Gelände der heutigen Kleingartenanlage ‚Freundschaft‘ e.V., Fremdarbeitslager vorwiegend für Frauen in der Straße Frohe Zukunft). (ebd.:9) Ich vermisse eine Informationstafel an dem heutigen Landesverwaltungsamt in der Dessauer Straße. Dort haben sich in den 40er Jahren die Siebelflugzeugwerke befunden, in denen Häftlinge des KZ-Außenlagers unter menschenunwürdigen Umständen bis zur Erschöpfung arbeiten mussten, um der deutschen Rüstungsindustrie zu dienen. (ebd.:9) Ich vermisse eine Gedenktafel für den im KZ-Außenlager Birkhahn exekutierten Eugeniusz Sleczeck. (ebd.:31) Der damals 20-jährige soll nach einem Fluchtversuch auf dem Appellplatz des Lagers vor den Augen der anderen Insass*innen im Januar 1945 erhängt worden sein. Ich vermisse das Gespräch darüber, dass die Menschen der städtischen Politik und Verwaltung, sowie die Anwohnenden die Augen verschließen konnten vor dieser systematischen Gewalt gegen Menschen.
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„Ich vermisse das Gespräch darüber, dass die Menschen der städtischen Politik und Verwaltung, sowie die Anwohnenden die Augen verschließen konnten vor dieser systematischen Gewalt gegen Menschen.“

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Am diesjährigen sogenannten Volkstrauertag nahm ich an einer Gedenkveranstaltung teil, welche an der Skulptur nahe der Endhaltestelle Frohe Zukunft zum Gedenken der Opfer aus den Zwangsarbeiter*innenlagern stattfand. Eine Vertreterin der städtischen Verwaltung legte im Rahmen der Veranstaltung weiße Rosen an dem Gedenkstein nieder. Der Pfarrer der Kirchengemeinde St. Pankratius erinnerte in seiner Ansprache an die Insass*innen des KZ Birkhahn Mötzlich und ihren Einsatz in den Siebelflugzeugwerken. Aber warum schwieg er die Worte Rassismus und Antisemitismus aus? Auch wenn die Insass*innen des KZ-Aussenlagers Birkhahn vielleicht nicht aus antisemitischen Gründen gefangen gehalten wurden, so unterstützte die Lagerstruktur dennoch die tödliche Ideologie der Nazis durch Folter, Mord und Ausbeutung der Zwangs- und Fremdarbeiter*innen. Damals wie heute sind es Rassismus und Antisemitismus, die die Grundlage für systematische Gewalt gegen Menschen schaffen. Doch heute müssen wir es schaffen, Rassismus und Antisemitismus nicht mehr durch ein lautes Schweigen zu leugnen, sondern endlich sichtbar zu machen.

Quelle
Grashoff, Udo (Hrsg.): Das vergessene Lager Eine Dokumentation zum Außenkommando des KZ Buchenwad in Halle/Saale 1944/45, 2. Auflage 2012, Zeit-Geschichten e.V. – Verein für gelebte Geschichte.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.