Die Krise des Gesundheitssystems war schon lange vor Corona da

Über das Problem der Fallpauschalen

von | veröffentlicht am 11.05 2020
Kundgebung am 29.02. auf dem Marktplatz Halle für mehr Personal

Profitsteigerung ist leider ein Begriff, der auch in den Krankenhäusern tonangebend ist. Heute sitzen kaufmännische Direktor*innen, nicht wie früher die Chefärzt*innen, in den obersten Etagen und machen die Krankenhäuser “fit" für den Markt, um in kapitalistische Konkurrenz mit anderen Häusern treten zu können. Die Träger eines Krankenhauses sind den Patient*innen meist nicht bekannt. Das Personal bekommt meist nur die Auswirkungen zu spüren, ohne einen Einfluss darauf zu haben.




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Dafür bekommen sie jetzt Applaus. Schön! Aber Applaus reicht nicht aus und wird deshalb von vielen Stimmen kritisiert. Nicht, weil sie den Applaus nicht verdient hätten, sondern weil es so zynisch scheint, dass jetzt erst auffällt, wie wichtig jede einzelne Pflegekraft ist, die um die Gesundheit anderer Menschen kämpft. Ein Applaus verbessert nicht die Bezahlung, beseitigt nicht den Fachkräftemangel, entprivatisiert nicht das Gesundheitssystem. Denn die Krise im Gesundheitswesen war schon lange vor Corona da.

Fallpauschalen verursachen Kostendruck
Die Fallpauschalen, auch „diagnosis-related groups“ (DRG) genannt, sind 2004 verpflichtend eingeführt worden. Die Fallpauschale gibt eine feste Geldsumme vor, also eine Pauschale, die das Krankenhaus von den Krankenkassen abrechnen kann, wenn eine bestimmte Diagnose behandelt wird. Damit sollen die laufenden Kosten gedeckt werden, Investitionen und sogenannte Vorhaltekosten sind allerdings nicht eingerechnet. Zu den Vorhaltekosten zählen beispielsweise vorgehaltene Betten. Diese werden für spontane Fälle in der Notaufnahme, der Intensivstation oder der Geburtshilfe vom Krankenhaus nur auf eigene Kosten gestellt. Das heißt: Reservebetten wurden abgebaut. Genau genommen wurde jedes fünfte Bett abgebaut und ganze Stationen, wie Kinder – und Geburtsstationen wurden geschlossen.

Gleichzeitig werden plötzlich bestimmte Diagnosen und Prozeduren lukrativer als andere. Hüftgelenksoperationen und Herzkatheter werfen hohe Renditen ab. Außerdem können abhängig von der Diagnose diagnostische und operative Maßnahmen ergriffen werden, um einen Krankheitsverlauf profitabler zu machen. Wir wollen nur ein Beispiel für Fehlanreize der Fallpauschalen im Gesundheitswesen nennen: Ein Kaiserschnitt bringt dem Krankenhaus mehr Geld in weniger Zeit im Vergleich zur vaginalen Geburt. Dieser ökonomische Anreiz geht auf Kosten eines höheren Risikos für Mutter und Kind. Dass dies ein völlig falscher Anreiz ist, kritisiert auch der Frank Louwen, der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG).

Man versprach sich durch den politisch herbeigeführten ökonomischen Wettbewerb eine Senkung der Krankenhausausgaben. (Spoiler: Sie sind gar nicht gesunken, sondern gestiegen.) Entsprechend stehen die Krankenhäuser mit der viel zu knapp bemessenen Fallpauschale einem ständigen Kostendruck gegenüber. Um die nicht in den DRG beinhalteten Investition und Vorhaltekosten auszugleichen und um Profite abzuschöpfen, wird in den Kliniken gespart, was das Zeug hält. So entspricht der abgeschöpfte Profit der Differenz zwischen kostendeckender Vergütung durch DRG und der kreativen Fähigkeit des Krankenhauses, die Leistungen noch kostengünstiger zu erbringen, auf Kosten von Personal und Patient*innen. Gelder, die für die Behandlung von Menschen vorgesehen sind, werden eingespart, um zu investieren und die Profitspanne zu erhöhen. Besonders private Klinikkonzerne nutzen solche Hintertüren. Das scheint lukrativ: In den letzten Jahren konnte zahlreich beobachtet werden, dass private Investoren öffentliche Krankenhäuser aufgekauft haben. Und man darf ihnen unterstellen, dass sie den Profit steigern wollen.

Fachkräftemangel aufgrund von Sparmaßnahmen
Mittlerweile hat der Anteil privater Kliniken um 40% zugenommen, mehr als in jedem anderen Industrieland. Man könnte behaupten, Behandlungen und Therapiepläne folgen seitdem nicht mehr einzig medizinischer Notwendigkeit, sondern auch betriebswirtschaftlichen Kalkül. Dank der DRG wurden laufende Kosten gesenkt und zugleich die Fallpauschalen ausgereizt. Für Kliniken rentiert es sich, möglichst wenige Patient*innen umfassend zu behandeln und gleichzeitig die Liegezeit zu minimieren. Auch laufende Kosten können entweder direkt durch den Personalabbau oder über Entlohnung gedrückt werden. Die immer größer und komplexer werdende Last muss auf mehreren Schultern verteilt werden. Stattdessen wurden Pflegekräfte und Ärzt*innen eingespart. Heute fehlen 50.000 Stellen in der Pflege, um eine adäquate Versorgung zu gewährleisten. Tendenz vermutlich steigend.

Spätestens seit der Gesundheitsminister*innenkonferenz 2019 in Leipzig, ist der Pflegenotstand auch kein Geheimnis mehr. Der Fachkräftemangel ist ein Resultat der Ökonomisierung. „Gleichzeitig ist die Zahl der Patient*innen nach der Einführung der Fallpauschalen stark gestiegen und die Zeit ihres Klinikaufenthalts gesunken – entsprechend mehr Pflege benötigen die Menschen.“

Diese Situation entstand nicht von heute auf morgen. Noch bis 1985 herrschte das sogenannte Selbstkostendeckungsprinzip: Krankenkassen finanzierten die laufenden Kosten des Krankenhauses und am Ende des Jahres wurde abgerechnet Gewinne mussten zurückgezahlt werden, denn sie waren gesetzlich verboten; Verluste wurden ausgeglichen. Die Investitionen trug der Bund.

Das Trauerspiel begann 1993: Das Gesundheitsstrukturgesetz 1993 (GSG) hebelte das Prinzip der Selbstkostendeckung aus. Es ermöglichte uneingeschränkt Gewinne und Verluste und bereitete den Weg für private Investoren und marktwirtschaftliche Konkurrenz.

Investitionen zahlen die Länder nur noch zu einem Teil, als sogenannte Fördermittel. Allerdings sanken diese in den letzten Jahren kontinuierlich: um knapp 18% zwischen 100 und 2017 von 3,4 Milliarden auf 2,8 Milliarden Euro 2017. Im Jahr 2017 übernahmen die Länder nur noch gut 44% der Investitionsmittel. So wurden knapp 28% durch Eigenmittel der Krankenhäuser und knapp 17% über Kredite finanziert. Ein weiteres Übel, dass dafür sorgt Krankenhäuser dass Krankenhäuser zusätzlich sparen müssen.
Fassen wir kurz zusammen: Die Zahl der Fachkräfte ist gesunken, während die Patient*innenzahl gestiegen ist, also mehr Arbeit auf weniger Schultern. Um das zu verdeutlichen: In Deutschland kommen tagsüber auf eine Pflegekraft bis zu 13 Patient*innen, „während in Norwegen, Irland, Niederlande, Schweden und der Schweiz jeweils weniger als acht Patient*innen auf eine Pflegekraft kommen.“ Damit ist Deutschland trauriger Spitzenreiter im europäischen Vergleich.

Unterm Strich ist unser Gesundheitssystem seit Jahren unterfinanziert. Und das rächt sich jetzt. Krankenhäuser sind nicht mehr für die Kranken da, sondern für die Profite.

Gesundheitsarbeiter*innen organisieren sich
Bei all der Wut über Untätigkeit gibt es auch viele Menschen, die an Lösungen arbeiten. Das Netzwerk aktiver Krankenhausbeschäftigter im Bezirk Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen der Gewerkschaft ver.di hat konkrete Forderungen an die Ministerien ausgearbeitet. Darin steht nicht nur, dass endlich genug Schutzmaterialen bereitgestellt werden müssen, sondern auch, dass Krankenhäuser rekommunalisiert, die Fallpauschalen abgeschafft und die Arbeitenden im Gesundheitswesen angemessen entlohnt gehören – Forderungen, die auch dringend die Gesellschaft mittragen sollte.

Letztes Jahr haben tausende Menschen einen „Olympischen Brief gegen den Pflegenotstand“ unterschrieben. Dieser forderte ebenfalls mehr Personal im Krankenhaus sowie die Abschaffung von Fallpauschalen. Die Beteiligung war riesig: Der Brief tourte durch ganz Deutschland und wurde 400 Meter lang.

Unsere Solidarität sollte beständig sein und den Beschäftigten vor, während und nach der Krise gelten! Was können wir ganz konkret tun? Wir haben zwar kein Patentrezept gefunden, aber schlagen folgendes vor.

1. Kritisch bleiben, demokratisch an Lösungen arbeiten und Veränderungen wagen.
2. Wachsam bleiben angesichts der wachsenden Ungleichheiten, die sich in der Gesundheitsversorgung manifestieren und nicht zulassen, dass diese noch größer werden.
3. Lokale Gruppen unterstützen, die sich im Gesundheitswesen engagieren kritisch sind und die Ungleichheit bekämpfen.

Links zum Weiterlesen

https://www.krankenhaus-statt-fabrik.de /
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1135364.corona-pandemie-die-strategie-der-klinikchefs.html
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ein-weckruf-fuer-die-krankenhauspolitik
https://www.jungewelt.de/artikel/377195.gesundheitswesen-in-der-brd-falsche-medizin.html

Info: Sintoma - Medizin und Gesellschaft

„Sintoma – Medizin und Gesellschaft“ hat sich 2018 gegründet, um eine Plattform zu bieten, scheinbare Gegebenheiten kritisch zu betrachten. Sie sagen von sich selbst: „Im Gegensatz zu einer Institution, sind wir frei die großen Fragen zu betrachten. Resultierend daraus finden und unterstützen wir Wege, das Gesundheitswesen so zu gestalten, dass möglichst alle Menschen von einer patientengerechten und sozialverantwortlichen Medizin profitieren können.“

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.