“Das Büro ist dein Mittelmeer”

Kinder- und Jugendtheaterverein spielmitte e.V. bringt mit dem Projekt “Baustelle Ich” Schauspiel, Jugend und Gesellschaftspolitik zusammen

von | veröffentlicht am 02.12 2017

Beitragsbild: spielmitte e.V.

“Baustelle Ich” heißt ein aktuelles Projekt vom halleschen Kinder- und Jugendtheaterverein spielmitte e.V., in dem sich Jugendliche mit Themen und konkreten Fragestellungen aus ihrer Lebenswelt auseinandersetzen und sie in Eigenregie künstlerisch umsetzen. Die ersten Stücke feierten nun Premiere. Und sie zeigen vor allem eines: erfrischendes, junges Theater, das die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen sucht.




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Schauplatz “Bella SoSo”. Ein Tanzstudio in einem ehemaligen Bankhaus am Universitätsring. Thematisch eine gute Wahl, wie sich gleich zeigen wird. Die Stühle im Saal sind fast bis auf den letzten Platz besetzt. Das Publikum ist gut gemischt. Wahrscheinlich viele Eltern und Geschwister, denn die Akteur*innen des Abends sind Jugendliche. Das Besondere: Sie sind nicht nur Schauspieler*innen, sondern in Personalunion auch Bühnenbildner*innen, Designer*innen, Regisseur*innen und Autor*innen der beiden Stücke, die an diesem verregneten Novemberabend Premiere feiern.

Die beiden Projektbetreuer, Michael Morche und Florian Strauch, werden nicht müde gerade dies zu betonen: Die Jugendlichen haben sich die Stücke vollständig selbst erarbeitet. Der Verein spielmitte e.V. und die beiden Schauspieler haben lediglich den Rahmen zur Verfügung gestellt: Hier und da mal ein Input und ein Einkauf für die Requisite. Dieser Anspruch war denn auch dem Land Sachsen-Anhalt eine Förderung wert.

Szene aus ggf – geflissentlich geschliffene facetten. (Bild: © spielmitte e.V. | f.s.)

ggf. geflissentlich geschliffene facetten

Die erste Inszenierung des Abends setzt sich “mit dem Menschen in einer Gesellschaft voller Normen und Ideale” auseinander, so die Ankündigung im Internet. Die Zuschauer*innen tauchen ein in das Leben von Alfredo. Im Laufe des Stückes werden sechs verschiedene Facetten seines Lebenslaufes beleuchtet. Insgesamt schlüpfen sieben Jungen bzw. junge Männer in die Rolle der Hauptfigur. Unterstützt werden sie von Josephine, die Alfredo für einen gewissen Abschnitt seines Lebens begleitet.

Die erste Facette währt nicht lange: Das Publikum lernt Alfredo als Fußball spielenden Jungen kennen, der rasch von seinem jungerwachsenen Ich entfernt wird. Nach wenigen “Ballkontakten” wird er ersetzt durch einen leistungsorientierten Büroangestellten, der sich im Wettbewerb mit seinen Kollegen zu profilieren sucht. Stetig steigert sich das gleichförmige Klappern der Tastaturen.

Alfredos erste Facette liegt beseitigt zu Füßen seiner Zukunft. (Bild: © spielmitte e.V. | f.s.)

Alfredo ist ehrgeizig und schämt sich für seine Freunde, die offensichtlich weniger Wert auf schicke Klamotten, teure Getränke und gepflegte Sprache legen – oder sich solche “Werte” einfach nicht leisten können. An einem denkwürdigen Abend packt ihn sein Ehrgeiz und er zerschneidet das Band zwischen ihm und den Freunden. Denn Alfredo strebt nach Höherem: Er wird leitender Angestellter und genießt die neue Chef-Rolle.

Doch ihm fehlt zunehmend etwas: Die Zeit für sein Leben außerhalb des Jobs. Dafür sucht er nun eine passende Frau, die sich gerne auf den Haushalt konzentriert. Diese ist alsbald über ein Datingportal gefunden. Beide kommen zusammen. Und in einem schwachen Moment verspricht Alfredo, noch am nächsten Tag eine Reise über die Meere und Ozeane mit ihr anzutreten und somit alles andere hinter sich zu lassen.

Das Publikum ahnt mittlerweile: Der Ehrgeiz wird dies zu verhindern wissen. Und da flüstert er ihm auch bereits ins Ohr: Du wirst morgen schön um 8 Uhr auf Arbeit erscheinen. “Dein Büro ist das Mittelmeer”. Und flugs tritt auch schon der nächste Alfredo in Erscheinung: als Firmenboss, der vor lauter Arbeit nicht mehr weiß, was seine Frau eigentlich macht, und der seine Firma durch schwierige Zeiten steuern muss. Eine Sozialrevolution scheint um sich zu greifen. Für die “White Collar”, die Weißhemden, wird das Klima zunehmend rauer, während die “Blue Collar”, die Blaumänner, die gesellschaftlichen Normen und Werte zu prägen beginnen.

Das Publikum ahnt mittlerweile: Der Ehrgeiz wird dies zu verhindern wissen. Hier beseitigt Alfredo wieder mal ein altes Ich. (Bild: © spielmitte e.V. | f.s.)

In dieser neuen Welt ist alles anders, als es Alfredo bislang kannte: Die Arbeiter trinken seinen geliebten Rosé aus der Flasche. Für ihn gibt es lediglich ein leeres Glas. Als sich abzeichnet, dass sein aktuelles Ich damit nicht zurecht kommt, wird es abgelöst von einem zerrissenen Alfredo, der, dargestellt von zwei Jungschauspielern, zwischen Profitstreben und sozialem Anspruch hin und her schwankt. Denn die neue Welt ist solidarisch: Kredite und Flüge in der ersten Klasse gibt es nur noch gegen soziales Engagement.

Der letzte Alfredo, der diese Zerrissenheit nicht mehr aushält, steigt schließlich aus: Er lässt seine Frau, seinen Job und sein Haus hinter sich, um in der einsamen Fremde sein Glück zu finden. Allein, es ist vergebens: im Hunger-Delirium rufen die Stimmen seiner früheren Leben nach ihm. “Warum nur?”, fragt er sich. Er habe doch nun alles, was er jemals wollte. Nur was ihm zu fehlen scheint, ist (die) Gesellschaft.

Für die “White Collar”, die Weißhemden, wird das Klima zunehmend rauer, während die “Blue Collar”, die Blaumänner, die gesellschaftlichen Normen und Werte zu prägen beginnen. (Bild: © spielmitte e.V. | f.s.)

Farben

“Wir sind Farben… So…bunte Farben… Und da gibt es vier Farbtöne… Rottöne… Blautöne… Gelbtöne und… Grüntöne… Wie in so einem Farbkreis… Das lernt ja jeder in der Schule.” So werden die Zuschauer*innen nach der Pause begrüßt. Alfredos Leben hat die Bühne verlassen und wird von einer Welt abgelöst, in der alle auftretenden Lebewesen Farben sind. Hauptunterscheidungsmerkmal: ihr Farbton.

Szene aus „Farben“: Orange, Türkis, Beige und Pink. (Bild: © spielmitte e.V. | f.s.)

Man wähnt sich zunächst in einer typischen Jugendgruppe. Es geht recht albern zu. Beziehungskram wird diskutiert, denn Türkis, ein Blauton, steht auf Ocker, einen Gelbton – so weit, so normal. Auch die entsprechenden Sticheleien im Freundeskreis.

Solo von Türkis

Solo Türkis. (Bild: © spielmitte e.V. | f.s.)

“Ich sitz auf dem Klo, hab mein Handy vergessen. Da bin ich echt nicht froh, doch infolge dessen frag ich mich: ‘ist es angemessen, zu so einem Zeitpunkt über Geschlechter nachzudenken?’ Ich mein: Wie kann man sich eigentlich sicher sein, was man ist? Ein Junge, ein Mädchen – oder vielleicht auch beides? Ein Rotton, ein Gelbton oder vielleicht auch Weißes?”

Szenenwechsel: Der Freundeskreis trifft sich zuhause bei Orange, einem Gelbton. Die Getränke- und Filmauswahl gestaltet sich schwierig. Pink frisst einen Haufen Süßigkeiten in sich hinein, während Orange, Beige und Türkis mit bewegter Mimik bewegte Bilder verfolgen. Es geht wieder sehr albern zu. Da gibt es plötzlich etwas Ungewöhnliches zu sehen: Zwei Blautöne! Orange freut sich. Beige: “Das ist doch nicht schön! Das geht doch gar nicht!” Orange findet das hingegen ganz normal. Ein Streit entbrannt. Und Orange gesteht: Sie – falsch! – Orange mag Gelbtöne, obwohl Orange selbst ein Gelbton ist. Es kommt zum Bruch.

Solo von Beige

Solo von Beige. (Bild: © spielmitte e.V. | f.s.)

“Jetzt mal um von dem ganzen Humor wegzukommen: Es gibt da draußen leider immer noch viel zu viele Menschen, die meinen, dass Homosexualität eine Krankheit ist, die man Menschen austreiben könnte, und dass das eine Sünde ist und man damit gegen das Gesetz der Natur verstößt. Ich meine, Argumente wie ‘das gibt’s doch nicht in der Natur’ sind erstens nicht wahr und zweitens: Sind wir nicht die Natur? Ich will daran was ändern und hoffe ihr wollt das auch.”

Szenenwechsel: Der Freundeskreis trifft sich bei Pink, einem Rotton. Es wird Twister gespielt. Die Farben versuchen das richtige Körperteil auf die richtigen Farben zu packen. Bloß keinen Fehler machen. Dann schlägt Türkis vor, zur Party von Ocker aufzubrechen. Alle werfen sich in Schale – Orange in orange, Beige in beige, Türkis in türkis und Pink in pink – und stürzen sich in die Feier. Wilder Tanz. Türkis distanziert sich von Ocker, während die beiden Gelbtöne sich näher kommen.

Solo von Orange

Solo von Orange. (Bild: © spielmitte e.V. | f.s.)

“Ein kleiner Ratgeber für Männer: 8.5 Zentimeter reichen vollkommen aus um eine Frau glücklich zu machen. Dabei ist es vollkommen egal, ob Visa- oder Mastercard drauf steht.” Verhaltenes Gelächter im Publikum. “Als Gott den letzten Mann erschaffen hatte, sagte er: ‘Hirn ist aus, jetzt gibt es Titten.’” Leises Gekicher im Saal. “Und warum können Frauen nicht boxen? – Na, weil sie keine Rechte haben.” Vereinzelte Gluckser. “Die Undankbarkeit der Frauen: Da bauen ihnen die Männer schon Frauenhäuser und dann müssen sie sie auch noch hinboxen.” Hier und da bleibt ein Lachen im Hals stecken. “Und was macht eine Frau, die sich ein leeres Blatt Papier anschaut? Sie liest sich ihre Rechte durch.” Schweigen.

Szenenwechsel: Orange und Beige haben zusammen gefunden. Der Freundeskreis war im Kino und wertet den Film aus. Es ging um Rottöne und wie sie im Film dargestellt wurden. Orange, Beige und Türkis erzählen begeistert. Pink schweigt und rastet schließlich aus: “Warum wird man immer nur auf den scheiß Rotton reduziert?”

Solo von Pink

Solo von Pink. (Bild: © spielmitte e.V. | f.s.)

“Lieber Sexist, ich habe einen Brief an dich geschrieben: Feminismus? Dass ich nicht lache! Als ob ich da mitmache. Ok, ich bekenne mich schuldig und hör mir geduldig dein Geschwafel an, dass ich mich mal kann. Wie war das nochmal mit den Rollenbildern? Kannst du mir das mal schildern? Aha, arbeiten geht nur der Mann, weil nur er das kann. Die Mutter putzt und kümmert sich um den Vater nach der Schicht. Arbeiten ist das nicht. Aber was ist, wenn der Vater besser putzt? Wird das nicht genutzt? Kann nicht jeder machen, was er will? Ok, ich bin ja schon still. Ich merke schon, ich treffe auf taube Ohren. Man hat dich als den Schlausten auserkoren, der alles besser weiß. Selbst über den kleinsten Scheiß. Und der kleinste Scheiß ist Sexismus für dich? Warte! Das verstehe ich nicht. Ich dachte, wir leben in einem freie Land. Da wird alles anerkannt und alle sind gleichgestellt in dieser deutschen Welt. Und trotzdem rede ich falsch? Weil: Frau? Merkst du’s? Nicht sehr schlau! Obwohl ich dafür fechte, haben wir noch nicht alle die gleichen Rechte. Und weil das so ist, bin ich doch ein klein wenig Feminist…in!

Szenenwechsel: Treffen im Freundeskreis. Türkis tritt auf. Wobei: Türkis ist nicht mehr Türkis. Türkis ist nun Weiß. Ein Moment der Verlegenheit. Es wird herumgealbert. Ende: “Wir sind Farben!”

Die Farben. (Bild: © spielmitte e.V. | f.s.)

Theater

Was die Jugendlichen da auf die Bühne bringen, ist überzeugend: Im Inhalt wie im Vortrag. Sie greifen aktuelle gesellschaftliche Themen auf und zeigen, wie in ihrer Altersgruppe darüber reflektiert wird – dass in ihrer Altersgruppe entgegen vieler Klischees reflektiert wird. Homophobie, Gender, sexuelle Identität und Orientierung spielen ebenso eine Rolle wie Selbstoptimierung, Normierung und Leistungsstreben. Passend zum Projektnamen: Baustelle Ich. Ich wahrsten Sinne des Wortes.

Dass die Inszenierungen ganz allein aus den Köpfen dieser jungen Menschen stammen, ist umso bemerkenswerter, als dass sie diese Themen zwar mitunter plakativ, aber nicht platt ansprechen – fein und mit Liebe zum Detail eingewoben in eine fantasie- wie humorvolle Erzählung, deren Spannungsbogen die knapp anderthalb Stunden pro Stück schnell verstreichen lässt.

Die Lebendigkeit der Inszenierung schöpft ihre Kraft zudem aus vollem Körpereinsatz und einer schier grenzenlos variablen Mimik – wer hätte gedacht, dass ein Gesicht so viele Ausdrücke annehmen kann. Und auch die Bühnenbilder sind sorgsam gewählt: Reicht für die Farben eine schlichte Couch, so ist es bei den Facetten der ständige Umbau mit variablen Bausteinen, der das Thema überzeugend unterstreicht.

Und so schafft das Projekt “Baustelle Ich” einen Raum, in dem neues Theater entstehen kann, das unaufdringlich politisch ist. Das aktuelle Themen aufgreift und in neue Erzählungen verpackt, statt alten Erzählungen aktuelle Themen überzuhelfen. Das jungen Menschen die Möglichkeit bietet, Themen aus ihrer Lebenswelt kreativ aufzugreifen. Und das zeigt, dass es entgegen verbreiteter Behauptungen durchaus Heranwachsende gibt, die sich progressiv mit Gesellschaft auseinandersetzen.

spielmitte e.V.

Der Verein spielmitte e. V. hat die Förderung, Entwicklung und Gestaltung einer gemeinnützigen Kinder- und Jugendtheaterarbeit in Halle zum Ziel. Er ist 2011 aus der Kinder- und Jugendtheaterarbeit vom „thalia theater“ hervorgegangen und hat diese bis heute fortgeführt.

Die Kinder und Jugendlichen erhalten über den Verein die Chance, in festen Gruppen Theater zu spielen und über Jahre hinweg in ihrer Entwicklung begleitet zu werden. Die gemeinsame Arbeit findet themenorientiert statt und setzt sich mit der Lebenswirklichkeit junger Menschen sowie aktuellen Geschehnissen auseinander. Verschiedene Jugendliche aus den Gruppen des Vereins wurden bereits für Funk- Fernseh-, und Theaterproduktionen engagiert. Einige Ehemalige studieren an renommierten Schauspielhochschulen.

Die Vorstellung „ggf. geflissentlich geschliffene facetten“ wird am 9. Dezember nochmals zu sehen sein – gemeinsam mit der Premiere von „Hinterm Ende“ um 19 Uhr in der Theatrale Halle.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.