„Beteiligt Euch am Gutscheintausch. Solidarität statt Sanktionen!“

Interview mit dem antirassistischen Netzwerk zum Gutscheintausch im Saalekreis

von | veröffentlicht am 10.07 2018

Seit Herbst 2017 gibt das Sozialamt in Merseburg (Saalekreis) vermehrt „Gutscheine“ statt Bargeld an Geflüchtete aus. Über diese repressive Praxis der Behörde und was dagegen getan werden kann, sprachen wir mit einer Aktivistin des Antirassistischen Netzwerks Sachsen-Anhalt.




diesen Beitrag teilen

Transit: Seit vielen Jahren leistet ihr antirassistische Arbeit mit dem Anspruch, Geflüchtete in ihrer Selbstorganisierung und in ihren Kämpfen gegen die deutsche Asyl- und Abschiebepraxis zu unterstützen. Im Saalekreis scheinen die Ausländerbehörde im Zusammenspiel mit dem Sozialamt eine besonders repressive Praxis gegen Geflüchtete zu forcieren. Erzählt doch mal, was hat es mit den „Gutscheinen“ auf sich?

Carla: Die „Gutscheine“ sind eine Sanktionsmaßnahme gegen Geflüchtete, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die nur eine Duldung – also nur eine Aussetzung ihrer Abschiebung – haben. Wie alle Geflüchteten unterliegen sie einer sogenannten „Mitwirkungspflicht“, unter anderem bei der Passbeschaffung. Bei Geduldeten ohne Pass nutzt die Behörde das gesetzliche Einfallstor der Mitwirkungspflicht, um sie gezielt und massiv unter Druck zu setzen und sie im schlimmsten Fall zu ihrer eigenen Abschiebung zu drängen. Das tut sie mit unterschiedlichen Maßnahmen, um Geduldeten jegliche Lebensperspektive in Deutschland zu nehmen. Ein Druckmittel ist beispielsweise die Verweigerung von Bargeld und stattdessen die Ausgabe von „Gutscheinen“. Zudem liegt die Summe der „Gutscheine“ unter dem Existenzminimum und oft wird gleichzeitig auch noch die Krankenkassenkarte entzogen.

Transit: Kurzum: Die Behörden erschweren das Leben der Geflüchteten mit dem Ziel, diese zur Mitwirkung bei ihrer eigenen Abschiebung zu zwingen.

 Carla: Genau. Die Behörde versucht, den Geflüchteten das Leben so schwer wie möglich zu machen, um sie auf diese Weise zur Ausreise zu zwingen. All das bedeutet für die Betroffenen eine erhebliche Einschränkung ihrer Grundrechte. So können sie aufgrund des Mangels an Bargeld z.B. ihre Anwaltskosten, Fahrkarten oder Telefonguthaben nicht mehr zahlen. Betroffene werden durch die „Gutscheine“ stigmatisiert, ausgeschlossen und eines selbstbestimmten Lebens beraubt. Selbst das Rückgeld wird den Geflüchteten oft verweigert.

Besonders bitter ist, dass das gesamte „Gutscheinsystem“ 2012 bundesweit abgeschafft wurde, weil es einfach unzumutbar ist. Das war auch ein Erfolg der jahrelangen bundesweiten Proteste der Betroffenen und der vielen solidarischen Tauschgruppen und –initiativen. Man fühlt sich nun in die 90er zurückversetzt. Das gilt nicht nur für den Saalekreis, auch andere Landkreise haben die „Gutscheine“ wieder eingeführt. Von der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl auf bundesweiter und nun auch europäischer Ebene ganz zu schweigen.


Der Gutscheintausch ist eine niedrigschwellige und einfache Möglichkeit, sich mit Geflüchteten zu solidarisieren.


Transit: Was kann man dagegen tun?

Carla: Für uns ist vollkommen klar, dass das Gutscheinsystem als Ganzes abgeschafft werden muss. Es ist rassistisch, stigmatisierend, entwürdigend und bedeutet eine erhebliche Verschlechterung für die ohnehin schwierige Lebenssituation Geflüchteter. Dafür braucht es eine politische Auseinandersetzung, für die wir auf Bündnispartner*innen angewiesen sind. Dies ist allerdings ein langer Weg. Wir wollen uns aber auch unmittelbar solidarisch mit den Betroffenen zeigen und dieser Praxis sofort etwas entgegensetzen. Deswegen organisieren wir derzeit einen Gutscheintausch. Dies ist eine niedrigschwellige und einfache Möglichkeit, Unterstützung zu leisten und sich mit Geflüchteten zu solidarisieren.

Transit: Was hat es damit auf sich?

Carla: Das Prinzip ist eigentlich ganz einfach: Wir tauschen die Gutscheine gegen Bargeld, damit die Geflüchteten wenigstens einen Teil ihrer Selbstbestimmung zurückgewinnen und selbst entscheiden können, was sie sich von dem Geld kaufen möchten. Dabei stoßen wir allerdings an Grenzen. Wir sind darauf angewiesen, dass sich mehr Menschen an diesem solidarischen Umtausch beteiligen.

Transit: Wo und wie kann ich Bargeld in „Gutscheine“ eintauschen?

Carla: Es gibt in der Stadt zwei Tauschorte: Den Linken Laden in der Leitergasse und den Weltladen in der Rannischen Straße. Der Umtausch funktioniert folgendermaßen:

Ihr gebt an den Tauschorten zu deren Öffnungszeiten Bargeld in beliebiger Höhe ab, indem ihr möglichst 5 – 20 € Scheine in einen Umschlag legt und euren (Spitz-)Namen, den Geldwert und den Tauschort auf den Umschlag schreibt.

Wir holen dann die Umschläge ab, tauschen euer Bargeld gegen „Gutscheine“, legen diese in denselben Umschlag und bringen die Umschläge zu den Tauschorten zurück. Der Umtausch durch uns findet in der Regel alle zwei Wochen dienstags statt. Ab Mittwoch kann der Umschlag dann abgeholt werden.


Nächster „Zahltag“ im Sozialamt in Merseburg ist der 17.07.2018


Transit: Wann ist die nächste Tauschmöglichkeit?

 Carla: Nächster „Zahltag“ im Sozialamt in Merseburg ist der 17.07.2018. D.h. man kann bis Montag, den 16.07. bis max. 18:00 Uhr Geld zum Eintauschen abgeben. Ab dem 18.07. kann man dann die Gutscheine abholen und zwei Wochen lang damit einkaufen gehen. Die Folgenden „Zahltage“ sind: jeweils Dienstag, 24.07.2018 und 07.08.2018.

Transit: Was gilt es beim Einkaufen zu beachten?

Carla: Der- oder diejenige, die einkaufen geht, muss den „Gutschein/die Gutscheine“ unterschreiben, da an der Kasse nach dem Ausweis gefragt werden kann. Mit den Scheinen kann man im Saalekreis und in Halle in vielen Läden einkaufen. Die Liste der Läden ist auch auf unserer Homepage einzusehen. Andere teilnehmende Supermärkte und Drogerieketten können vor dem Einkauf erfragt werden. Fast alle Discounter haben einen Vertrag mit Sedoxo und nehmen die Gutscheine an. Sodexo ist ein weltweit agierender Konzern, der neben unzähligen Dienstleitungen nach eigenen Aussagen auch „intelligente und konsequente Lösungen für  Ämter und soziale Einrichtungen, die Sozialleistungen besonders effizient abwickeln möchten“, anbietet.

Man kann mit den „Gutscheinen“ offiziell Folgendes einkaufen: Lebensmittel, Putz- und Hygieneartikel, Bekleidung, Schuhe und Hausrat. Tickets, Tabak und Alkohol und Telefonkarten können offiziell nicht erworben werden. Zudem sollte man darauf achten, möglichst genau für die Summe einkaufen, die der „Gutschein“ hat, da es nur 10 Prozent Rückgeld gibt. Wenn es teurer wird, kann man den Rest aber auch in bar zahlen.

Transit: Ist beim Umtausch der Gutscheine mit Problemen zu rechnen?

Carla: Oft verläuft die Bezahlung mit den Gutscheinen ohne Probleme. Trotzdem wollen manche Läden kein Rückgeld auszahlen, obwohl sie dazu verpflichtet sind. Andere Geschäfte wollen die „Gutscheine“ gar nicht annehmen oder nur einen einzelnen Gutschein oder eine bestimmte Summe. Auch das ist nicht in Ordnung. Man sollte dann auf sein Recht als Kunde/Kundin beharren, ggf. fordern den/die Filialleiter*in zu sprechen und sich nicht einschüchtern lassen! Es ist Willkür der Kassierer*innen, wenn sie derartiges behaupten. Eine Bitte haben wir an Euch: Wenn ihr Schikanen beim Einkaufen erlebt, meldet diese bitte an die Tauschgruppe zurück.

Transit: Wie kann man euch kontaktieren oder unterstützten? Unterstützen und Mitmachen

Carla: Zunächst einmal unterstützt ihr uns und vor allem die Betroffenen, indem ihr Euch am Gutscheintausch beteiligt. Ansonsten könnt ihr uns gerne kontaktieren, wenn ihr Fragen, Ideen oder Lust auf antirassistische Praxis habt. Wenn ihr Neuigkeiten erfahren wollt, könnt ihr auch eine Mail-Adresse auf dem Umschlag hinterlassen oder uns an tauschgruppe-halle@riseup.net schreiben! Aktuelle Infos erhaltet ihr außerdem über www.antiranetlsa.blogsport.de/gutscheintausch/ oder www.cafeinternationale.wordpress.com.

Die Tauschorte:

Linker Laden – LiLa

Leitergasse 4 (Haltestelle Moritzburgring)

Öffnungszeiten:

Montag – Freitag 10:00 – 16:00 Uhr

 

Weltladen Halle an der Saale

Rannische Straße 18 (Haltestelle Franckeplatz)

Öffnungszeiten:

Montag – Freitag: 10:00 – 18:00 Uhr

Samstag: 10:00 – 14:00 Uhr

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.