„Mein Staat als Freund und Geliebte“

Interview mit dem Komponisten Johannes Kreidler zur Uraufführung seiner Oper in Halle

von | veröffentlicht am 04.07 2018

Beitragsbild: Transit

Seitdem Florian Lutz die künstlerische Leitung der Oper Halle innehat, hat sich im Programm einiges geändert: Die spektakuläre Raumbühne Heterotopia erhielt 2017 den Theaterpreis „DER FAUST“, die Inhalte sind politischer geworden, es gibt mehr Interaktion mit dem Publikum und in jeder Spielzeit soll es eine Uraufführung geben. In der Spielzeit 17/18 kam Johannes Kreidlers „Mein Staat als Freund und Geliebte“ auf die Bühne. Hinter dem ungewöhnlichen Titel steht ein für regelmäßige Opernbesucher*innen ungewöhnliches Werk, zu dem wir dem Komponisten einige Fragen gestellt haben.




diesen Beitrag teilen

Transit: Lieber Johannes Kreidler. Wann kommt es schon mal vor, dass man dem Komponisten einer Oper nach der Aufführung seines Werkes eine E-Mail schreiben kann – und der antwortet sogar noch am selben Tag. Keine Agentur dazwischen, keine Pressestelle, kein „Tut mir Leid, ich habe keine Zeit“. Geschehen in Ihrem Fall. Was sagt das über Sie als Komponisten aus?

Kreidler: Das Agenturwesen ist in meinem Metier, der Gegenwartskomposition, nicht sonderlich verbreitet; zum Glück, diese Agenten sind eine klinkenputzende Plage. Ich brauche es nicht, und kann es mir sogar leisten, schnell mal einem Interview Zeit einzuräumen.

Transit: In der Zeitung der Oper Halle schreiben Sie selbst: In der Oper „‘Mein Staat als Freund und Geliebte‘ wird der Frage nachgegangen, was für Bilder wir uns vom ‚Staat‘ heute machen, machen können, und in welchem Verhältnis zu diesem ‚Ding‘ man sich als Einzelner stellt, stellen kann.“ Wie sind Sie auf die Idee gekommen, so etwas Abstraktem wie dem Staat in einer Oper eine Gestalt zu geben, dieses „Ding“ zu personifizieren?

Kreidler: Das kam im Dialog mit Chefdramaturg Michael von zur Mühlen (Oper Halle, Anm. d. Red.) auf. Ich wollte gerne ein Stück mit dem Chor als Protagonisten machen, und sowieso arbeite ich gerne mit politischen Themen, was wiederum auch ein Anliegen der neuen Opernleitung in Halle ist.

Mir ist immer wieder ein künstlerisches Bedürfnis, gerade Abstraktes zu ästhetisieren, also wahrnehmbar, greifbar und kreativ formbar zu machen. Da ist so etwas wie „Staat“ geradezu prädestiniert, ein sehr abstraktes Thema, aber entsprechend vielseitig interpretierbar, in Bilder übersetzbar, auf Personen übertragbar, bis hin zu aberwitzigen Konstruktionen; ob das der „Küchenstaat“ ist oder der Staat mit einem Parfüm gleichgesetzt, mit Cowboys, Tieren, Robotern – es ist sehr ergiebig.


„Ich würde sagen, dass ich auf einer Vorstufe von Kritik, der Distanznahme, arbeite.“


Zur Oper

„Mein Staat als Freund und geliebte“ ist eine Auftragskomposition der Oper Halle. Johannes Kreidlers Werk „für Chor, Video, einen Schauspieler, einen dramatischen Tenor, Ballett, Orchester und Elektronik“ wurde in der Spielzeit 2017/18 am halleschen Opernhaus uraufgeführt. Der Komponist bringt „eine Reflexion über Gemeinschaft, Massenbewegungen, Staatstheorien und Protest in eine Bühnenform“ und macht den Chor dabei zum Hauptprotagonisten.

„Das Werk macht gegenwärtige Gemeinschaftskonzepte vom Patriotismus bis zur bürgerlichen Kleinfamilie als politische Instrumente bestimmter Interessen erfahrbar, in denen libidinöse Bindungen instrumentalisiert und orchestriert werden: Brüderlichkeit, Liebe zur Nation, Opfer für die Gemeinschaft.“

Transit: Im Laufe des Stückes gibt es viele Stellen, die „den Staat“ in keinem guten Licht erscheinen lassen, bspw. sei er ein „Sortiersystem für Menschen“. Ist Ihre Oper Staatskritik oder eher Kritik an einer fehlenden kritischen Auseinandersetzung des Individuums mit seinem Staat?

Kreidler: Das Individuum ist ja Teil des Staates, insofern betreffen solche Aussagen den Staat als Ganzes wie auch das Individuum, das dazu gehört und zugleich sich aber auch kritisch dazu positionieren kann und soll. Ich würde aber eher sagen, dass ich auf einer Vorstufe von Kritik, der Distanznahme, arbeite. Das Thema wäre auch zu komplex, um an so einem Opernabend daraus eine direkte Kritik abzuleiten. Vielmehr geht es um eine Beleuchtung aus verschiedenen Winkeln; dafür muss man einen Schritt zurücktreten, um die Sache zu überschauen, das passiert hier; paradoxerweise aber gerade dadurch, dass dauernd besonders nah rangegangen wird, Oper ist ja Action, ständig passiert was, wird was gemacht. Durch die Menge, durch die Vielfalt im Laufe eines Abends relativiert sich das dann.

„Mein Staat als Freund und Geliebte“: stefanpaul, Chor und Extrachor der Oper Halle. © Theater-, Oper und Orchester GmbH Halle, Foto: Falk Wenzel

Zur Person

Johannes Kreidler, Jahrgang 1980, lebt in Berlin und studierte am Institut für Neue Musik der Musikhochschule Freiburg Komposition, Elektronische Musik sowie Musiktheorie Seine Arbeit ist der konzeptuellen Musik zugerechnet und bezieht meist multimediale Verfahren ein, wie auch in seinem aktuellen Werk „Mein Staat als Freund und Geliebte“.

2010 erhielt er den Deutschen Musikautorenpreis in der Kategorie „Nachwuchsförderpreis“. Als Dozent arbeitet er an verschiedenen Hochschulen. Mit seinen Werken erregte er mehrfach Aufmerksamkeit in der Musikwelt.

Johannes Kreidler (© Foto: Esther Kochte)

Transit: Welche Probleme, die man mit dem Staat haben kann, werden in der Oper angesprochen, und sind diese Kritikpunkte nicht eine notwendige Kehrseite hochkomplexer Gesellschaften, die unseren heutigen Lebensstil bzw. unsere Lebensentwürfe gewährleistet?

Kreidler: Ich kann das hier nicht alles aufzählen. Darum allgemeiner gesagt: Es geht darum, wie man zum Staat in Beziehung treten kann, was für Vorstellungen man davon hat. Es ist freilich ein Symptom der modernen Gesellschaft, dass wir diese riesige Menge an Eindrücken filtern müssen und zu Bildern und Geschichten vereinfachen. „Landesvater“ und „Mutti Merkel“, die Polizei als „Freund und Helfer“, die „Brüderlichkeit“, die in der Nationalhymne beschworen wird (dabei ist Familie doch überhaupt kein Hort nur von Friedlichkeit), usw. Aber es lohnt sich sehr, sich damit mal auseinanderzusetzen, ohne all das als falsch zu brandmarken, aber eben als menschengemachte, für Menschen derzeit wohl notwendige Dinge hin- und herzubewegen.


„Es gibt kaum eine freiheitsliebendere Einstellung als die satirische, und das ist auch eine Kunstform.“


Interview mit Radio CORAX

Radio CORAX sprach vor der Premiere des Stückes mit Johannes Kreidler über seine Oper. Außerdem zu hören ist das Mitglied der künstlerischen Leitung der Oper Halle, Michael von zu Mühlen.

Transit: Mitunter kann man den Eindruck bekommen, Ihre Oper macht sich über das – bisweilen libidinöse – Verhältnis der Einzelnen zum Staat lustig, stellt es zumindest bloß. Inwiefern ist das in einer Zeit, in der die Zuneigung zur Nation zu Forderungen nach Leitkultur, Grenzschließungen, Asylrechtsverschärfungen und Überwachung führt, eine angemessene Strategie im Umgang mit Patriotismus bzw. Nationalismus?

Kreidler: Das Stück hat öfter einen satirischen Tonfall, ja. Das halte ich als politische Ästhetik für erhellender denn bierernstes Pathos. In keiner Diktatur gibt es Satire, das schließt sich logischerweise aus, es gibt kaum eine freiheitsliebendere Einstellung als die satirische, und das ist auch eine Kunstform.

Transit: Im Pressetext zu Ihrem Stück heißt es über Sie und Ihre Werke: „Die Nöte, in denen man sich befindet, müssen in das Kunstwerk hinein geholt werden.“ Welchen Nöten verleihen Sie in Ihrem Stück Ausdruck? Und wessen Nöte sind das?

Kreidler: Im Stück geht es um das Verhältnis von Individuum und Masse. Das ist im Opernhaus beispielsweise Realität beim Chor, ein Kollektiv, das gerade in meinem Stück extrem genau, extrem diszipliniert lippensynchron zu den Videos sprechen und agieren muss. Und doch gibt es gegen später den Moment, in dem alle freigelassen werden, jeder und jede im Chor können frei drauflossprechen (und umhergehen). Da wird genau dieses Spannungsverhältnis Realität, denn dennoch summieren sich all diese individuellen Aktionen ja wieder zu einem Ganzen. Und zuletzt gibt es obligatorisch den Part des Publikums – so will es die Konvention –, das Klatschen, wiederum ein akustisches und performatives Massenverhalten. Das wird in dem Stück insofern einer Reflexion unterzogen, als den Leuten just der Applaus gewissermaßen ausgeredet wird am Ende. Manche folgen dem, andere nicht. Eine kuriose Situation!

Schon früher im Stück wird ein 20-Euro-Schein ins Publikum gegeben mit der Bitte, ihn weiterzureichen. Irgendjemand steckt ihn dann aber natürlich ein. Wiederum die Integration einer Frage von Individuum und kollektivem Verhalten, so, wie man doch immer wieder vor der Frage steht, soll man ein Busticket kaufen, sollte ich die Putzkraft anmelden, muss ich das Tempolimit auf der Autobahn einhalten?

„Mein Staat als Freund und Geliebte“: Chor und Extrachor der Oper Halle © Theater-, Oper und Orchester GmbH Halle, Foto: Falk Wenzel

Transit: „Denn die einen sind im Dunkeln. Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Diese Zeilen aus dem berühmten Mackie-Messer-Lied aus Brechts Dreigroschenoper lassen Sie in Ihrer Oper auf die Melodie des Deutschlandliedes singen – und es passt erstaunlich gut zusammen. Eine bewusste Transformation in die heutige Zeit?

Kreidler: In dem Stück werden mehr und mehr Bilder vom Staat dargelegt. Da das nun alles Vergleiche, Metaphern und Allegorien sind, gerät ein Bild auch mal schief, hinkt der Vergleich, was dann tatsächlich so weit getrieben wird, dass der ganze Chor und das Ballett auf der Bühne hinken. Da ist es nicht mehr weit zur Austauschbarkeit der Begriffe; siehe da, man kann Lieder wie die deutsche Nationalhymne und die Moritat von Mackie Messer in Text und Melodie vertauschen, so wie sich viele Hymnen strukturell ganz ähnlich sind, schließlich stammen sie alle aus der Zeit des aufkommenden Nationalismus.

In einer Vorstellung haben wir zusätzlich eine Aktion mit Laienchören aus der Umgebung gemacht, da wurde dann noch, mitten im Stück, die BRD- und die DDR-Hymne im Text vertauscht, passt auch. „Auferstanden aus Ruinen“ geht problemlos auf der BRD-Melodie, und umgekehrt. Die Chöre im Publikum haben’s gesungen.


„Es bleibt dem Publikum kaum etwas anderes übrig, als irgendwann auch mal aufzustehen, rauszugehen und vielleicht wiederzukommen – es wird ermächtigt, sich zu erheben.“


Transit: Der Chor wird in „Mein Staat als Freund und Geliebte“ zur Hauptdarstellerin – für Oper eher selten. Sie bezeichnen das selbst im Interview mit Radio Corax als „emanzipatorischen Akt“. Was heißt das für Sie und welche emanzipatorischen Ziele verfolgen Sie darüber hinaus mit Ihrem Werk bzw. mit Ihren Werken?

Kreidler: Der Chor ist in der Oper sonst im Hintergrund, hinter den Solisten-Protagonisten, er tritt hie und da hinzu, er ist das Fußvolk der Oper, als Pöbel oder Heer. Dieses Volk möchte ich gerne in die erste Reihe bringen! Um noch andere Beispiele aus anderen Stücken zu geben: In meinem Orchesterstück „Minusbolero“ wird der „Boléro“ von Maurice Ravel gespielt, aber ohne seine Melodie, stattdessen nur die Begleitung, man hört also nicht die ersten Geigen, ersten Trompeten, ersten Flöten im Orchester, sondern fast immer die zweiten Geigen usw. Die Hierarchie des Orchesters wird umgedreht. Oder mein Musiktheater „Audioguide“ geht sieben Stunden lang, ohne Pause, das heißt, es bleibt dem Publikum kaum etwas anderes übrig, als irgendwann auch mal aufzustehen, rauszugehen und vielleicht wiederzukommen – es wird ermächtigt, sich zu erheben.


„Niemand kann widerlegen, dass selbst ein so unbekanntes, so gut wie nie gespieltes Stück wie Anton Weberns Quartett Opus 22 zum Fall der Mauer beigetragen hat.“


Transit: Angekündigt wurde Ihre Oper unter anderem mit folgenden Worten: „Johannes Kreidler bringt in seinem neuen Musiktheaterwerk angesichts des weltweit erstarkenden Nationalismus eine Reflexion über Gemeinschaft, Massenbewegung, Staatstheorien und Protest in eine Bühnenform.“ Sie stößt damit in eine Debatte, die so alt ist wie die Kunst selbst: Soll Kunst politisch sein? Ist sie immer politisch? Oder soll sie sich im Gegenteil aus Politik heraushalten? – Ist es an der Zeit, dass Kunst sich (noch) mehr einmischt?

Kreidler: Als einzelner Künstler formuliere ich keine Forderungen an andere Künstler, an >die Kunst<. Für meine eigene Arbeit aber ist es mir ein Bedürfnis, immer wieder politische Themen zu verarbeiten, zum Ausdruck zu bringen, und Kunst ist ja Teil der demokratischen Gesellschaft und hat auch ihre eigene Politik, also Hierarchien, geschriebene und ungeschriebene Gesetze, Geld- und Aufmerksamkeitsfragen.

Das ist erst mal, wie gesagt, ein Ausdrucksbedürfnis, eine andere Frage wäre die politische Wirksamkeit von Kunst. Es wäre ein Irrtum zu sagen, man solle doch, wenn man etwas ändern will, Politik machen und nicht Kunst. Die Effekte von Kunst sind fast nie messbar, man sieht nicht in die Köpfe hinein. Aber niemand kann widerlegen, dass selbst ein so unbekanntes, so gut wie nie gespieltes Stück wie Anton Weberns Quartett Opus 22 zum Fall der Mauer beigetragen hat.

„Mein Staat als Freund und Geliebte“: stefanpaul, Chor und Extrachor der Oper Halle, Ensemble Ballett Rossa © Theater-, Oper und Orchester GmbH Halle, Foto: Falk Wenzel

Das Interview wurde im Juni 2018 auf dem Schriftwege geführt.