‚Straßenkampfisierung‘ von Diskursräumen

Ein kritischer Kommentar zum Interview “Belehrend und unsolidarisch”

von | veröffentlicht am 27.09 2021

Beitragsbild: pixabay

In einem im Transit-Magazin erschienenen Gespräch kritisieren Organisator:innen des diesjährigen feministischen Kampftages das Verhalten studentischer Vertreter:innen im Zuge einer Antragsstellung. Der Lesekreis Berliner Brücke hat sich mit den dort geäußerten Vorwürfen beschäftigt und plädiert für eine politische Auseinandersetzung, die Raum für Differenzen und Dissens lässt.




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Vor einigen Wochen hat das Transit Debattenmagazin seinem Namen alle Ehre gemacht: Das dort am 01.06.21 veröffentlichte Interview mit dem Titel Belehrend und unsolidarisch hat in unseren Reihen eine Debatte ausgelöst. In dem Interview geht es um das Unbehagen bei einer Antragstellung in einer StuRa-Sitzung für eine queerfeministische Veranstaltung. Obwohl wir das Unwohlsein der Beteiligten sehr gut nachvollziehen können, irritieren uns doch die Schlussfolgerungen, die daraus für das Führen politischer Debatten gezogen werden. Wir haben uns für eine kritische Reaktion darauf entschieden, weil wir in der Argumentation des Interviews nicht nur eine Reflexion auf die konkrete Situation, sondern auch eine allgemeinere Tendenz aktueller politischer Auseinandersetzung wiedererkennen. Wir hoffen, dass dies daher weniger als Kritik am Verhalten Einzelner denn als Anlass zu weiterführenden Diskussionen und Reflexionen zu grundlegenden Fragen nach Schwierigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen politischer Debatten verstanden wird.

Institution und Verfahren der Antragsprüfung im StuRa

Geschildert wird im Interview zunächst ein normales, institutionalisiertes Prozedere im StuRa: Wer einen Antrag stellt, der den formalen und inhaltlichen Kriterien einer Förderung durch den StuRa genügt, wird für dessen Verteidigung zu einer StuRa-Sitzung eingeladen. Dort bringen die Antragsteller:innen ihr Anliegen noch einmal verbal vor und stellen sich eventuellen Nachfragen der StuRa-Mitglieder. Damit ist ein Machtverhältnis zwischen dem StuRa und den Antragsteller:innen bereits angelegt: Die eine Seite besitzt die Position, Geld zu vergeben, das die andere Seite benötigt. Das ist sicher nicht unproblematisch und kann einen stören, ist aber ein etabliertes repräsentatives Modell. Indem die interviewte Gruppe ihren Antrag beim StuRa eingereicht hat, lässt sie sich zumindest implizit auf dieses Verfahren ein.

Während der digitalen StuRa-Sitzung haben die Antragsteller:innen ihr Anliegen vorgetragen, mit dem beantragten Geld verschiedene Aktionen am diesjährigen feministischen Kampftag durchzuführen. Bevor sie damit fertig waren, kamen verschiedene Nachfragen zum Antrag über den Chat und verbal, unter anderem, ob die Antragsteller:innen den Begriff des Patriarchats definieren könnten, und ob nicht Anliegen und Reichweite der Demonstration abgeschwächt würden, wenn von einem erweiterten Verständnis weiblicher Subjektivität ausgegangen werde, da die Antragsteller:innen explizit “FLINTA* Frauen, Lesben, Inter*, Nicht-Binär, Trans* und A_gender”1 ansprechen möchten. Die Nachfragen wurden als Desinteresse am Inhalt des Antrages und unfaires Mittel der Machtdemonstration bewertet, was die Antragsteller:innen als “unfreiwillige Prüfungssituation” wahrnahmen. Die Interviewten charakterisieren ihre eigene Reaktion auf die Fragen dementsprechend als Rechtfertigungsversuche.

Die Frage nach dem Patriarchat und wie diese zurückgewiesen wird

Im Interview berichten die Antragsteller:innen, dass sie zunächst perplex waren, im studentisch besetzten StuRa ihren Begriff von Patriarchat definieren zu sollen. Sie verstehen die Frage als Aufforderung zur “soziologischen Abhandlung” und weisen sie sogleich als Ausdruck des Patriarchats mit folgender Argumentation zurück: Das männliche StuRa-Mitglied fordere von ihnen Care-Arbeit2, in diesem Fall im Gewand von Bildungsarbeit, die es nicht gewillt sei, selbstständig zu leisten. Überspitzt formuliert, liegt darin der Vorwurf, dass es eine Form der Versorgung Bedürftiger sei, diesen Männern, die den Ausgang aus der ‘selbst verschuldeten Unmündigkeit’ nicht eigenständig finden wollen, etwas zu erklären. Eine inhaltliche Antwort auf die Frage war den Antragsteller:innen in der Situation spontan nicht möglich, und wurde rückblickend auch abgelehnt.

Wir, als in der Situation nicht Anwesende, können die Frage allerdings gut nachvollziehen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Studierende qua ihrer Mitgliedschaft in der Universität mit linken Diskursen vertraut sind. Darüber hinaus ignoriert die Forderung, das StuRa-Mitglied hätte sich im Vorfeld der Sitzung eigenständig informieren sollen, die Vieldeutigkeit des Begriffs und die vielfältigen und kontroversen Auseinandersetzungen in den eigenen (queer)feministischen Reihen. Schließlich ist es nicht so, als gebe es nur ein Verständnis von Patriarchat. Genau das suggerieren aber die Antragsteller:innen. Was außerdem irritiert, ist die Setzung, die hier gemacht wird: Die Nachfrage wird als Ausdruck des herrschenden Patriarchats verstanden. Die Klärung der Frage wird dann von den nicht-männlichen Care-Worker:innen gefordert, die doch selbst unter den patriarchalen Verhältnissen leiden. Aber nur angenommen, das betreffende StuRa-Mitglied hätte einen spezifischen Begriff von Patriarchat vorausgesetzt oder in seiner Nachfrage auf einen solchen referiert, wäre dies vermutlich ebenso unerwünscht gewesen und vielleicht als ein anderer Ausdruck von Patriarchat, diesmal im Gewand von Mansplaining3, verstanden worden. Wir fragen uns daher, was wäre als eine moralisch integre Nachfrage oder auch Kritik der männlichen StuRa-Mitglieder empfunden worden?

Inklusiver Anspruch und exklusive Praxis

Eine weitere Problematik neben der Zurückweisung inhaltlicher Erklärungen ist die von exklusivem versus inklusivem politischem Sprechen. Die Antragsteller:innen verwehren sich auch gegen eine Erklärung ihres Begriffs von Patriarchat als intellektuelle Leistung explizit mit Verweis darauf, dass sie keine rein akademische Gruppe seien. Dies meint den Anspruch, Menschen “unabhängig ihres akademischen Levels” in feministische Kämpfe einzubinden. Auf der anderen Seite aber tritt die Gruppe in ihrem Sprechen exklusiv auf. Es werden Begrifflichkeiten verwendet (etwa “cis Männer” oder “Menstruationsarmut”), die nicht selbsterklärend sind, schon gar nicht für Menschen, die sich mit queeren Themen noch nicht beschäftigt haben. Dies deutet sich auch in der im Interview zum Ausdruck kommenden Reflexion der Erfahrungen im StuRa an. Die Schlussfolgerung, dass hier ein “Paradebeispiel” für das nicht überwundene Patriarchat vorliege und die “weißen alten Männer von morgen”, mit denen man es im StuRa zu tun hätte, ihren Anteil an der Reproduktion patriarchaler Verhältnisse nicht reflektieren, ist selbst voraussetzungsreich. Denn sie verweist auf akademische Theoriebestände und Debatten, die sich wiederum erst angeeignet werden müssen. Wenn die Antragsteller:innen davon ausgehen, dass diese theoretisch aufgeladene Sprache notwendig ist, um die problematischen gesellschaftlichen Verhältnisse zu benennen, dann scheint sie jedoch wenig dazu im Stande, politische Bündnisse und einen inklusiven solidarischen Zusammenhalt über einzelne Gruppenzugehörigkeiten und theoretische Standpunkte hinaus schließen zu können.

Laut sein” als Mittel der Selbstbehauptung im politischen Kampf

Nachdem wir uns der Verwendung der Sprache zugewendet haben, möchten wir als nächstes genauer herausarbeiten, auf welche Mittel der politischen Auseinandersetzung im Interview referiert wird. Es erscheint uns so, als ob weniger das Argument als vielmehr ein bestimmtes Auftreten im Fokus steht: Es geht um Durchsetzungsfähigkeit auf der Grundlage von “laut sein” und einem Auftreten als Gruppe. Es wird moniert, dass sich die kritisierenden “cis Männer” des StuRas durch dominantes und lautes Auftreten hervortaten und so die Sitzung dominierten. Zudem wird bedauert, dass die den Antrag unterstützende Mehrheit im StuRa ihrer Zustimmung nicht laut genug Ausdruck verliehen habe. Da die Aussagen der kritisch nachfragenden StuRa-Mitglieder auf dahinterliegende patriarchale Motive reduziert und als Ausdruck einer queer- und transfeindlichen Gesinnung verstanden werden, erscheint es falsch und zwecklos, inhaltlich darauf einzugehen. Falsch, weil eine Erklärung zu geben, einer Unterordnung gleichkäme, und zwecklos, weil in Gesinnungsfragen die andere Seite Argumenten nicht zugänglich ist. Für zukünftige Auseinandersetzungen bleibt damit nur, laut zu sein [“werden wir laut sein!”] und als Gruppe aufzutreten. Jedenfalls wird “laut sein” nicht als Form der inhaltlichen Auseinandersetzung mit anderen politischen Positionen verstanden, wenn die Antragsteller:innen davon sprechen, dass sie sich nicht “anbiedern” wollen, “inhaltliche Debatten zu führen”. Aber was heißt dann eigentlich “laut sein” als Taktik in politischen Auseinandersetzungen, so fragen wir uns, wenn man sich dem argumentativen Austausch verweigert?

Psychologisierung und Individualisierung des politischen Streits

Die Antragsteller:innen beschreiben die Situation außerdem als Wiederholung der alltäglichen Diskriminierung und ultimative Infragestellung ihres Rechts auf Selbstvertretung (“Wir mussten uns dafür rechtfertigen, dass wir für unsere eigenen Rechte einstehen. Wir sollten erklären, warum wir diskriminiert seien, damit dann Andere entscheiden, ob wir berechtigt seien, dagegen zu kämpfen.”). Tatsächlich ist der StuRa als studentisches Gremium gar nicht in der Lage, den wie auch immer gearteten Anspruch politischer Gruppen durch inhaltliche Nachfragen oder Ablehnung von Anträgen einfach wegzuwischen, selbst dann, wenn beantragte Gelder nicht bewilligt werden. Dies zu imaginieren, überschätzt die Macht des StuRa und dramatisiert die Situation, zumal über das beantragte Geld ja positiv entschieden wurde. Aus unserer Sicht hat man es hier mit zwei Ebenen zu tun, die im Interview durcheinander gehen. Zum einen wird der StuRa als Vergabegremium von Geldern adressiert, indem ein Antrag gestellt wird. Zum anderen wird die Erwartung nach umfassender Solidaritätsbekundung an den StuRa gestellt, die sich nicht erfüllt. Wir fragen uns: Ist diese Erwartung an ein gewähltes Gremium in dem Maße angemessen?

Die im Interview angedeutete eigene Verunsicherung in der Situation habe kurz zu dem Zweifel geführt, ob man sich auf Nachfragen hätte besser vorbereiten sollen. Dies wird dann sogleich zurückgewiesen, indem die Nachfragen als patriarchales Machtgebaren der “weißen alten Männer von morgen” identifiziert werden, motiviert durch die Angst vor dem Verlust der eigenen Privilegien. Damit werden jene zuerst übermächtig erscheinenden StuRa-Mitglieder in der Vorstellung zu einer eingeschüchterten und von den Antragsteller:innen durchschauten Gruppe von cis Männern, die letztlich ohnmächtig versuchen, die patriarchale Ordnung zu verteidigen. Denn: Die Mehrheit der StuRa-Mitglieder steht hinter dem Anliegen der Antragsteller:innen, sodass das Geld am Ende zur Verfügung gestellt wird. Durch die beschriebene argumentative Umkodierung der Situation rückt der Fokus von der eigenen Unsicherheit auf die Unsicherheit der Anderen, die man durchschaut und der man moralisch überlegen ist.

Fazit zum Interview

Es stellt sich uns die Frage, ob vor dem Hintergrund dieser Frontstellung überhaupt noch die Möglichkeit besteht, in eine kontroverse Diskussion zu treten, in der inhaltlich gestritten wird. Wie überzeugt man Andere von der eigenen Position, wenn schon nach wenigen Erwiderungen klar ist, dass man mit ihnen nicht diskutieren möchte, weil sie auf der anderen Seite stehen? Queere und queerfeministische Personen werden immer wieder die Erfahrung der Ablehnung und Diskriminierung bei vielen Menschen in der Mehrheitsgesellschaft machen. In solchen Situationen kann es sehr sinnvoll und auch notwendig sein, Anderen die eigenen “Grenzen auf[zu]zeigen”, ohne sich weiter zu erklären, sowie als Gruppe aufzutreten. Beides sind plausible Formen des Selbstschutzes und der Selbstbehauptung. Die Absicht, in zukünftigen Situationen wie der beschriebenen “laut sein” zu wollen, erinnert aber auch an Demonstrationen, wo es darum geht, die Straße als politischen Raum zu dominieren. Wir meinen aber, nicht alle Konflikte und progressiven Anliegen lassen sich in diesem Modus bearbeiten, da es verschiedene gesellschaftliche Orte der Auseinandersetzung gibt, in denen unterschiedliche Mittel sinnvoll sind. Eine ‚Straßenkampfisierung‘ von Räumen, die stärker diskursorientiert sind, ist unserer Meinung nach problematisch, weil man damit schnell zu einer Oppositionsbildung kommt, nach dem Motto ‘Wer nicht für mich ist, ist gegen mich’ und sich in der Konsequenz die Möglichkeit eines inhaltlichen Diskurses vergibt. Die Gründe für die politische Auseinandersetzung verschieben sich damit von möglichen Einsichten des Gegenübers hin zu individuellen psychischen Vorteilen: dem Gefühl moralischer Überlegenheit, der Selbstvergewisserung und der richtigen Gruppenzugehörigkeit.

Ausblick: Zur Frage der Solidarität

Zum Abschluss wollen wir versuchen, die verschiedenen angedeuteten Problematiken in der Frage nach der Solidarität zu bündeln. Das Verhalten der kritisierenden StuRa-Mitglieder gegenüber den Antragsteller:innen wird als grundlegend unsolidarisch beschrieben. Ist ihr Verhalten deshalb unsolidarisch, weil das beantragte Anliegen nicht unhinterfragt unterstützt wird? Verbirgt sich hinter der Einforderung von Solidarität und eines feministischen Selbstverständnisses des StuRa (“Ziel muss es jedoch sein, dass dies zukünftig zum Selbstverständnis des gesamten StuRa gehört.”) die Erwartung, dass der StuRa als studentisches Gremium queerfeministische Anliegen per se unterstützt? Meint Solidarität oder eine solidarische Gemeinschaft dann so etwas wie einen Verbund von Gesinnungsgenoss:innen, die genau die gleichen Ansichten und politischen Anliegen besitzen und diese ohne Streit oder Differenz gemeinschaftlich verfolgen? Uns erscheint es so, als liege den Aussagen im Interview implizit ein Begriff von solidarischem Miteinander zu Grunde, bei dem nicht nur queerfeministische Anliegen allgemein unterstützt werden, sondern wo auch Kritik, Erklärungen der eigenen Position oder diskursive Auseinandersetzungen nicht mehr notwendig sind. Dies wäre ein Zustand der harmonischen Gemeinschaft der Gleichgesinnten.


Wir finden diese Vorstellung von Solidarität problematisch. Mit der Theoretikerin Bini Adamczak
4 wollen wir darauf hinweisen, dass politische Auseinandersetzungen „ein Ensemble vielfältiger Missverständnisse [sind], die aber überlagert werden von dem einen Missverständnis – dass alle einander verstehen“ (2019: 59). Aus diesem Grund müssen „solidarische Beziehungsweisen“ die “Möglichkeiten zu Differenz und Dissens, zu Aggression und Aufbruch enthalten.“ (ebd.: 274). Aus unserer Sicht wäre ein solidarisches Verstehen dann das einander Zugewandtsein, das Differenzen und Dissens zulässt und dennoch den Dialog sucht. Die im Interview implizierte Forderung nach gesellschaftlicher Solidarität als Echokammer lässt dies nicht zu. Doch auch das angriffslustige Verhalten einiger StuRa-Mitglieder erfüllt diesen Anspruch nicht, da es verkennt, dass manchmal das eigene politische Begehren nur schwerlich in Worten auszudrücken ist oder bestehende – beispielsweise ökonomische – Machtstrukturen ein wechselseitiges Verständnis erschweren.

1 Textstellen in doppelten Anführungszeichen haben wir wörtlich dem Interview entnommen.
2 Im Interview wird Care-Arbeit folgendermaßen definiert: Care-Arbeit meint hier u.a. Haushalt machen, pflegebedürftige Personen versorgen, Kinder betreuen, emotionale Arbeit für andere Personen leisten.
3 Der Begriff bezeichnet herablassende (und ungebetene) Erklärungen eines Mannes, der davon ausgeht, er wisse mehr über den Gesprächsgegenstand als die – meist weibliche – Person, mit der er spricht.
4 Wir beziehen uns auf folgendes Werk von Adamczak: “Beziehungsweise Revolution”. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2019.

Der Lesekreis Berliner Brücke trifft sich seit Frühjahr 2019, um Texte und Bücher zu den Themen Psychoanalyse, Poststrukturalismus und Kritische Theorie gemeinsam zu lesen und zu diskutieren. Der vorliegende Beitrag ist das erste Produkt gemeinsamen Schreibens.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.