Mehr als nur Spektakel!

Die aktuelle Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie

von | veröffentlicht am 06.02 2018

Beitragsbild: Helmut Oelkers | CC-BY-NC 2.0

Gestern Abend kam die wohl spannendste Tarifrunde der letzten Jahre zu ihrem Abschluss. Erstmals setzte die IG Metall auf 24-Stunden-Warnstreiks. Erkämpft wurde nicht nur die obligatorische Entgelterhöhung, sondern auch ein urlinkes Thema, nämlich ein Anspruch auf Arbeitszeitverkürzung. Warum das alles mehr als nur ein Spektakel ist und viel mit Selbstermächtigung, Emanzipation und Bewegung zu tun hat, erklärt der folgende Text.




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Im Osten Sachsen-Anhalts, nahe der thüringischen Grenze, befindet sich in Berga das Werk eines Automobilzulieferers. Hier wurde vor gut zwei Jahren zum ersten Mal ein Betriebsrat gegründet. Zuvor waren die Arbeitsbedingungen kaum besser als die gesetzlichen Mindeststandards, mit einem Nettolohn von knapp über 1000 Euro, einer wöchentlichen Arbeitszeit von 42,5 Stunden und einem Urlaubsanspruch, der deutlich unterhalb der tariflichen Ansprüche lag. Die IG Metall Geschäftsstelle Halle-Dessau unterstützte einige Kolleg*innen bei der Betriebsratsgründung und die Belegschaft begann sich gewerkschaftlich zu organisieren. Seitdem hat sich vieles drastisch verbessert: Stück für Stück wurden die Arbeitsbedingungen an den Rahmentarifvertrag angeglichen. Es gilt nun eine 38-Stunden-Woche, die Kolleg*innen haben einen deutlich höheren Netto-Verdienst und einen Urlaubsanspruch von 30 Tagen. Zudem wurden einige Leiharbeiter*innen übernommen und erhielten feste Stellen.

Von der Betriebsratsgründung zum Flächentarifvertrag

Die Belegschaft dieses Betriebs beteiligte sich an den Warnstreiks der aktuellen Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie. Unter den beginnenden Böen des Sturmtiefs Friederike kam die Belegschaft der Früh- und Spätschicht vor dem Tor zusammen. Sogar große Teile der Nachtschicht haben sich aus dem Bett gequält, um dort mit den Kolleg*innen für einen Tarifvertrag zu kämpfen. Ohne das Engagement der Betriebsrät*innen wäre das wohl kaum möglich gewesen. Im Vorfeld haben sie alle Beschäftigten über Inhalte und Ziele des Warnstreik informiert und sich bei der Belegschaft bezüglich möglicher Fragen oder Bedenken erkundigt.

Dies ist nur eine Facette von Tausenden, die sich hinter der aktuellen Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie verbirgt. Große Teile der gesellschaftlichen Linken machen sich von Tarifrunden in etwa folgendes Bild: Gewerkschaften fordern eine Lohnerhöhung, es gibt ein ritualisiertes Kraftspiel (Warnstreiks) und am Ende einigen sich die Tarifvertragsparteien auf die Hälfte des ursprünglich geforderten Prozentsatzes. Allerdings trügt dieser Eindruck, da die Realität oft viel kämpferischer aussieht und für die Belegschaften einiges mehr auf dem Spiel steht, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Das zeigen nicht zuletzt die Erfahrungen aus Berga.

In der aktuellen Tarifrunde waren bereits über eine Million Menschen während der regulären Warnstreiks auf der Straße, noch einmal gut 500.000 beteiligten sich an den 24-Stunden-Streiks der letzten Tage. Der wirtschaftliche Schaden dieser eintägigen Aktionen wird vom arbeitgebernahen Institut für Wirtschaftsforschung auf knapp eine Milliarde Euro Umsatzeinbußen geschätzt – zum Vergleich: Der Sachschaden bei den Protesten gegen G20 in Hamburg betrug nach politisch motivierten Schätzungen der „Bild“ gerade mal 12 Millionen – und das trotz angeblicher “bürgerkriegsähnlicher Verhältnisse”.

Der Druck hat sich gelohnt. In der Nacht vom 5. zum 6. Februar haben sich Arbeitgeberverband und IG Metall Baden-Württemberg auf einen Tarifvertrag geeinigt, welcher Signalwirkung für die gesamte Branche hat. Auch hier ist sicher nicht alles Gold, was glänzt, aber der Abschluss kann sich sehen lassen: 4,3% Entgelterhöhung, ein Festbetrag von 400€, Einmalzahlungen von 100€, einen Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit auf 28 Stunden und zusätzliche freie Tage für besonders belastete Arbeitnehmer*innengruppen wie Schichtarbeiter*innen oder Beschäftigte, die Angehörige zu pflegen haben. Weitere Details zum Tarifabschluss können hier nachgelesen werden.

Und was geht mich das an?

Hier soll es nicht darum gehen, politischen Protest und Tarifpolitik gegeneinander aufzuwiegen – beides hat Grenzen der Wirksamkeit und beides hat auch seine Berechtigung. Es geht darum, die unglaublichen, realen Auswirkungen von Tarifpolitik deutlich zu machen. Die Arbeitskämpfe der Tarifrunden sind schließlich nur die Spitze des Eisbergs: In der aktuellen Tarifrunde werden die Arbeitsbedingungen von knapp zwei Millionen Menschen verhandelt, die direkt vom Flächentarifvertrag betroffenen sind, sowie indirekt von weiteren zwei Millionen Beschäftigten in Betrieben, die ihre Entlohnung an diesen Tarifvertrag anlehnen. Dies bedeutet eine stündliche Umverteilung aus Unternehmenshand zugunsten der Beschäftigten in Millionenhöhe. Jede Stunde möglicher Arbeitszeitverkürzung bedeutet eine Minderung des Gewinns auf Unternehmensseite, bedeutet für die Arbeitenden die Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe, Zeit für Care-Arbeit, Faulenzen, Freizeit und Hobbies oder zur individuellen Weiterbildung. All dies bedeutet eine gesellschaftliche Umverteilung, die unter den aktuellen politischen Rahmenbedingungen jede auch nur denkbare Vermögenssteuer weit links überholt. Aber damit noch nicht genug: ähnlich dem oben genannten Betrieb in Berga gibt es noch hunderte ähnliche Geschichten, in denen sich die Beschäftigten gewehrt und dafür eine ganz konkrete Verbesserung ihrer Lebenssituation erfahren haben, einerseits durch mehr Geld, Zeit und andere Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, andererseits durch die praktische Erfahrung von Solidarität und Selbstwirksamkeit.

Also: Was tun?

Diese Erfahrung stellt einen Ausgangspunkt für weitergehende politische Perspektiven dar: sie zeigt, dass wir gemeinsam eine bessere und gerechtere Welt verwirklichen können. Wenn wir als radikale Linke tatsächlich Mehrheiten erreichen wollen und nicht bloß von der Zuschauertribüne dem politischen Treiben zusehen wollen, dann sollten wir an diesen Erfahrungen ansetzen. Kommt zu den Gewerkschaften vor Ort, richtet als politische Gruppen solidarische Grüße an Streikende, bringt Euch in gewerkschaftliche Bildungsarbeit ein oder helft mit, Arbeitskämpfe in eurem Umfeld bekannt zu machen und zu führen. Wenn wir das nicht machen, dann bleibt dieses Feld übrigens der SPD und einigen versprengten MLPDler*innen überlassen – und was soll das schon für eine Politisierung der Arbeiter*innenklasse werden?!

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.