Julian Assange und das Märchen vom Rechtsstaat

von | veröffentlicht am 30.12 2022

Beitragsbild: Krabat Ernst

Seit der Intensivierung des Ukraine-Kriegs Anfang des Jahres, ist es zunehmend bis weit in linksliberale Milieus verbreitet, von der „freien westlichen Welt“ zu reden. Dabei ist es ein unumstößlicher Fakt, dass die USA – auch jetzt in diesem Moment – durch oder mit Hilfe ihrer Verbündeten, politische Dissident*innen foltert. Die westliche Freiheit gilt also nur, wenn sie bestimmten staatlichen oder nichtstaatlichen Interessen nicht im Wege steht. Ist es aber nicht in der Theorie ein zentrales Charakteristikum von demokratisch verfassten Rechtsstaaten, dass das Recht auch für die Mächtigen gilt?




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Am 5. April 2010 stellte Julian Assange ein Video vor, welches unter dem Namen Collateral Murder um die Welt gehen sollte. Es zeigt eine Gruppe Menschen in Baghdad, welche grundlos von einem Kampfhubschrauber der US-Army erschossen werden. Zu hören ist eine Stimme eine nun schwer verwundete Person anfeuert, sie möge eine Waffe aufheben, damit es einen Vorwand gibt, den sich kriechend durch den Sand quälenden Mann hinzurichten. Ein Familienvater, der zu Hilfe eilt, wird ebenfalls in Stücke gerissen. Seine zwei Kinder überleben schwer verletzt. Zwei Reuters-Journalisten, die mit in der Gruppe standen, sterben. Verschiedene Insider sagen später aus, dass solche Vorfälle keineswegs Einzelfälle, sondern grausamer Alltag waren. Bis heute ist für diese Kriegsverbrechen nicht eine Person zur Verantwortung gezogen worden.

Julian Assange hingegen wird auch die kommenden Feiertage, wegen seiner Arbeit für die Enthüllungsplattform Wikileaks, in Haft verbringen. Er war fast 7 Jahre faktisch in der equadorianischen Botschaft eingesperrt; zum Ende hin durchgehend videoüberwacht und bis auf die Toilette abgehört. Anschließend kam er in ein Hochsicherheitsgefängnis, wo er zunächst eine konstruierte Haftstrafe absaß und seitdem wegen angeblicher Fluchtgefahr für die Dauer des von den USA beantragten Auslieferungsverfahren eingesperrt bleibt. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide, er befindet sich 23 Stunden am Tag alleine in einer 6m2 großen Zelle (das Titelbild des Beitrages zeigt einen Nachbau der Zelle Assanges durch die Künstlerin Manja McCade), welche durchgehend videoüberwacht ist. Ein Haftregime, das auf längere Zeit – wie bei Assange – schon für sich betrachtet nach UN-Richtlinien Folter darstellt. Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, weist in seinem Buch „Der Fall Julian Assange“ auch darauf hin, dass der rechte Diktator Augusto Pinochet, als er in Großbritannien auf seine Auslieferung wartete, diese Zeit unter Hausarrest in einer Londoner Villa verbringen durfte.

Das ganze wurde begleitet von einer medialen und politischen Kampagne, in deren Verlauf Joe Biden Assange als Terroristen bezeichnete, Hillary Clinton sich „scherzhaft“ fragte, ob man ihn nicht einfach mit einer Drohne töten könnte, und ein BBC-Journalist der britischen Polizei öffentlich empfahl, den Wikileaks-Gründer einfach mitten in London hinzurichten. Möglich gemacht wurde der ganze, von Anfang an politisch konstruierte Prozess durch unzählige Rechtsbrüche und Verfahrensfehler, die in jeder Theorie von „Rechtstaatlichkeit“ längst zu sofortiger Einstellung und Entschädigung hätten führen müssen. In ausführlichen Berichten kommt Nils Melzer zu dem Ergebnis, dass die beteiligten Staaten Julian Assange nicht nur „grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung“, sondern explizit auch der Folter aussetzen. Wird Assange nicht bald in die Freiheit entlassen, was keineswegs abzusehen ist, wird es zunehmend wahrscheinlich, dass er die strenge Isolationshaft nicht mehr lange überlebt.

Natürlich ist Assange kein Einzelfall, die Liste von Missbrauch und Folter wäre quasi unendlich fortführbar: von Chelsea Manning, deren Folter durch Beugehaft, um eine Aussage zu Assange zu erpressen, erst endete, als sie versuchte sich umzubringen, über die Häftlinge, die auch heute noch in Guantanamo festgehalten werden ohne je angeklagt worden zu sein, bis zu den unzähligen Menschen, die überall auf der Welt von der CIA gefoltert wurden. Und selbstverständlich ließe sich eine solche Liste auch für andere Staaten wie China und Russland bilden, in denen der reale freie Handlungsspielraum der Bevölkerung noch  wesentlich kleiner ist. Natürlich haben weiße Menschen mit europäischem oder US-amerikanischem Pass in „liberalen Rechtsstaaten“ viele Privilegien, die hier kaum ein Mensch missen wollen würde.

Die Frage aber, die abseits eines – von liberalen Verteidigern von US-Kriegsverbrechen gern angeführtem – „andere sind doch viel schlimmer“ bleibt, ist: Bei allen bestehenden riesigen Ungerechtigkeiten, ob von „westlichen“ Staaten geduldet oder verursacht. Von Hungersnöten ohne eine reale Knappheit an Essen, über die Klimakrise, brutale Grenzregime und Kriege. Was kann im Kampf gegen diese Ungerechtigkeiten von Staaten erwartet werden, die Menschen foltern, wenn diese Kriegsverbrechen aufdecken? Was kann von „liberalen Rechtsstaaten“ im Großen wie im Kleinen erwartet werden, wenn deren Geheimdienste lieber den Mord politischer Dissidenten erwägen, als anzufangen, sich an grundlegende Menschenrechte zu halten. Die sich aktiv dagegen entscheiden, Kriegsverbrechen, bei denen tausende Menschen umgebracht und misshandelt wurden, aufzuklären. Was kann man von einer deutschen Außenministerin erwarten, die sich Menschenrechte auf die Stirn schreibt, aber nicht einmal bei einem so offensichtlichen Fall wie dem Assanges gegen die US-amerikanische Hegemonialmacht Partei ergreift? Und was bedeutet das für die unzähligen anderen Opfer staatlicher Willkür in aller Welt, die gar keine mediale Aufmerksamkeit und kein riesiges Anwaltsteam auf ihrer Seite wissen?

Im Verfassungsrecht heißt es, ein konstituierendes Merkmal einer funktionierenden Demokratie sei die Trennung der Gewalten: Legislative, Exekutive und Judikative. Zu Deutsch: Parlament, Regierung und Justiz. Außerdem gilt es als in verschiedenen Revolutionen und Kriegen erkämpfter „zivilisatorischer“ Fortschritt, dass, im Gegensatz zur Zeit absolutistischer Herrschaft von Kaisern und Königen, auch die Herrschenden selbst an Recht und Gesetz gebunden seien. Fakten, die zumindest im Bildungsbürgertum früh vermittelt werden und als common sense gelten.

Der Fall Assange zeigt ein dem diametral entgegengesetztes Bild politischer Justiz, die gegen Recht und Gesetz, unter Einsatz menschenunwürdiger Methoden, die Interessen der US-Regierung verteidigt und deren Verbrechen ungeahndet akzeptiert. Trotzdem ist die Wahrnehmung „westlicher“ Staaten als „Rechtsstaaten“ gesamtgesellschaftlich uneingeschränkt hegemonial. Auch wenn bei Politiker*innen oder Journalist*innen von einem „Versagen des Rechtsstaats“ die Rede ist, wird dessen Hegemonie keineswegs in Frage gestellt. Vielmehr wird diese reproduziert, indem „Rechtstaatlichkeit“ als etwas dargestellt wird, was an einem Tag gegeben sein kann und am nächsten Tag eben mal nicht. Der springende Punkt aber ist, dass natürlich einzelne oder mehrere Amtsträger*innen Fehlverhalten – teils auch mit dramatischen Auswirkungen – an den Tag legen können, diese aber in einem „Rechtsstaat“ theoretisch aufgeklärt und aufgearbeitet werden müssten. Im vorliegenden Fall aber, wie in vielen anderen, wird aktiv und strukturell die Straffreiheit einer bestimmten Gruppe Menschen zur Verteidigung bestimmter ungesetzlicher Interessen forciert.

Warum aber, fragt man sich, akzeptiert die „freie“ Bevölkerung, dass so mit ihren angeblichen Errungenschaften umgegangen wird? Während sich darüber ganze Bücher schreiben lassen würden, lässt sich ein Aspekt mit Antonio Gramsci und noch einmal dem Begriff der Hegemonie betrachten. Danach muss ein Staat, um herrschen zu können, nicht nur physische Gewaltmittel monopolisieren, sondern auch Zustimmung in der Gesellschaft organisieren. Der italienische Marxist schrieb: „Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft.“ Damit lässt sich erklären warum – wie von Clinton vorgeschlagen und ja durchaus möglich – die USA Assange nicht einfach erschießen, sondern die größte militärische Macht der Welt es für sinnvoll hält, einem Journalisten auf der anderen Seite des Atlantiks in einer Botschaft in London den Rasierer zu klauen, um ihn dann bei seiner Festnahme einige Wochen später als verwahrlosten Gewalttäter darstellen zu können (darüber berichtet Nils Melzer in seinem Buch). So wird es mithilfe von privaten marktförmigen Medienkonzernen, einem über Jahre konstruiertem Image und einem allgemeinem Gefühl der Machtlosigkeit in der Bevölkerung möglich, mitten in Europa einen Journalisten (beinahe) zu Tode zu foltern.

Es fällt schwer, einen anderen Schluss zu ziehen als den, welchen viele nicht hören möchten: Wenn innerhalb der viel beschworenen „freien westlichen Welt“ drei verschiedene „unabhängige“ Justizsysteme sich bereitwillig auf Linie bringen lassen, um einen Menschen, der nichts anderes gemacht hat, als Kriegsverbrechen zu veröffentlichen, über Jahre hinweg systematisch zu foltern (wie vom zuständigen UNO-Kommissar bestätigt), dann ist das weder nur ein „schwerer Schlag gegen die Pressefreiheit“ noch ein „Debakel für den liberalen Rechtsstaat“, sondern ein Beweis dafür, dass „liberale Rechtsstaaten“ weder existieren, noch je existiert haben.

Krabat Ernst

…studiert in Halle Wirtschaft und Soziologie, beschäftigt sich als freier Journalist mit Demokratie, Wirtschaft und globaler Gerechtigkeit und ist auch bei Twitter und Instagram zu finden.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.