„In Buchenwald hat er nicht geniest“

Nachtrag zum 77. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald

von | veröffentlicht am 11.05 2022

Beitragsbild: Wanda Kilias

Alljährlich, pandemiebedingt nun aber das erste Mal seit drei Jahren, kommen in Weimar Überlebende des KZ Buchenwald mit ihren Angehörigen, Mitarbeiter*innen der Gedenkstätte und weiteren Betreuer*innen zusammen, um gemeinsam der Befreiung des Konzentrationslagers am 11. April 1945 durch die US-Army zu gedenken. Was sich während der sechs Tage rund um dieses Jubiläum abspielt, ist derart bemerkenswert, dass es verdient, zu Papier gebracht zu werden. Ein Bericht.




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Tag 1 

 

Ich spreche hebräisch und bin zum dritten Mal eine der Betreuerinnen für die israelischen Gäste. Am Donnerstag, den 7. April, mache ich mich aus Halle auf den Weg nach Weimar. Es stürmt, ich werde nass bis auf die Knochen, der Zug bleibt auf halber Strecke stehen und insgeheim hoffe ich, dass er umkehrt. Die absehbare, da schon bekannte emotionale Wucht der Begegnungen macht mir kalte Füße. Wie wohl die Überlebenden empfinden? Hochbetagt reisen sie an aus Kanada, Frankreich, Polen, Ungarn, Rumänien, der Schweiz und Israel. 15 von ihnen sind es. 2020 noch wollten 40 Überlebende anreisen. Zwei Jahre Corona-Pandemie haben auch hier ein Loch gerissen. Die Dankbarkeit über ihre Anwesenheit und die Nervosität, dass ihnen ja nichts zustoßen möge, legen sich über die kommenden Tage.

 

Abends endlich fährt der Shuttle vom Flughafen Frankfurt vor. Sofort erspähe ich Zeev Nuzbaum[1], dem ich in den nächsten Tagen kaum von der Stelle weichen werde. Er sitzt, anders als vor drei Jahren, im Rollstuhl. Die Freude über das Wiedersehen ist groß. Uns verbindet spätestens, seitdem er mir vor vier Jahren während der Schweigeminute der offiziellen Gedenkveranstaltung auf dem ehemaligen Lagergelände das Angebot einer gemeinsamen ‚schönen Nacht‘ ins Ohr geraunt hat, eine herzliche Freundschaft. Damals war ich vollkommen fassungslos, hatte ihn aber schon längst ins Herz geschlossen. Ich konnte es ihm nicht übel nehmen, war letztlich auch beeindruckt von dieser offenkundigen Verachtung von Alter und Zeit. Zeev ist diesmal in Begleitung seiner Schwiegertochter Smadar, die mich sogleich an sich drückt. Sie ist die Ehefrau von Zeevs Sohn und ohne familiäre Verbindung zum Holocaust – ihre Eltern sind irakische und tunesische Juden.

 

Weiterhin angereist ist Moshe Laszlo Goldblum mit seiner Tochter Esther. Seit der Befreiung 1945 war er nie wieder hier. Am Tel Aviver Flughafen bereits stellte sich heraus, dass Moshe, der gern Lozi genannt werden möchte, und Zeev mit dem gleichen Transport Buchenwald erreichten. Am 10. Februar 1945. Vorangegangen war ein zweiwöchiger Todesmarsch vom KZ Auschwitz ins KZ Großrosen, bei dem zwei Drittel der 4.000 Häftlinge an Hunger, Kälte und Erschöpfung starben, erschossen oder erschlagen wurden. Von dort nach kurzem Aufenthalt in Viehwaggons weiter bis Weimar. Hoch auf den Ettersberg, auf dessen zugiger Nordseite 1937 das KZ Buchenwald errichtet worden war, zu Fuß durch Schnee und Nacht, angetrieben von der sie begleitenden SS. Beide waren damals gerade 17 Jahre alt. Davon erzählen Lozi und Zevele, wie ihn Lozi vertraulich nennt, bei jeder Fahrt, die wir in den kommenden Tagen hoch in die Gedenkstätte unternehmen. Heute sitzen wir in einem schwarzen Minivan mit Chauffeur. Eine merkwürdige Szene.

 

Esther, Lozis Tochter, hat blondiertes Haar, trägt erstaunlicherweise immer, wenn sie die FFP2-Maske abnimmt, einwandfreien Lippenstift und legt ihr zu Laptopmaßen ausklappbares Smartphone quasi nie aus der Hand. Was sie und ihren 94jährigen Vater verbindet, ist eine gewisse Hyperaktivität. Verliert man sie für eine Minute aus dem Blick, sind sie schon um eine Ecke gehuscht, bzw. Esther in einen Videocall nach Israel. Lozi und Zeev sind seit ihrem Kennenlernen am Flughafen in Tel Aviv unzertrennlich, sodass wir ab sofort, mit einer weiteren Betreuer:in, stets mindestens zu sechst unterwegs sind. Beim Abendessen startet Esther einen Videocall zu ihrer Mutter, Lozis Frau, nach Israel. Auch sie ist 94 Jahre alt und hat den Holocaust in ihrem Heimatland Polen in einem Versteck unter der Erde überlebt. Lautes Durcheinander auf Hebräisch, die alte Frau ist kaum zu verstehen, auf dem riesigen Bildschirm von Esthers Smartphone dafür aber einwandfrei zu erkennen. Während wir Putenrollbraten aufspießen, zeigt Esther Fotos ihres Vaters aus den Tagen nach der Befreiung in gestreifter Häftlingsuniform („Schaut mal, wie gut er aussieht!“) und erzählt anekdotenhaft von Erlebnissen ihrer Mutter im Versteck: „Da war ein Baby mit in der Erdgrube, und als draußen einmal die SS vorbeiging, hat es angefangen zu schreien. Da hat die Mutter es erwürgt. Einer tot oder alle tot. Schrecklich! So schrecklich!“ Sie wirft ihr blondes Haar zurück, weiter geht es mit Alltäglichem.

 

Tag 2

 

Am nächsten Vormittag steigen wir in den besagten Minivan, der uns auf den Ettersberg fährt. Ich stehe unter Hochspannung. Wie wird Lozi die erste Begegnung mit diesem Ort seit 77 Jahren verkraften? Ich mache mich auf alles gefasst, die Bedeutung dieser Szene, von der ich ein Teil bin, drückt mir schwer auf die Brust. Zunächst gehen wir nur ins Archiv. Das Archiv der Gedenkstätten Buchenwald – Mittelbau-Dora ist in einem der ehemaligen SS-Gebäude untergebracht. Den Kern der Sammlung zum KZ Buchenwald bilden Dokumente, die der Gedenkstätte von ehemaligen Häftlingen oder ihren Angehörigen übergeben wurden. Hinzu kommen zahlreiche Reproduktionen von Unterlagen aus anderen Archiven. Was uns interessiert, sind die Kopien der Dokumente, die während Lozis und Zeevs Internierung im KZ Buchenwald über sie angefertigt wurden: Häftlingskarteikarten, Vermerke aus dem Krankenbau, Transportlisten. Im Original lagern sie im hessischen Bad Arolsen. Dort befindet sich das internationale Zentrum über NS-Opfer .

 

Im Gebäudeinneren treffen wir auf Anita, die im Archiv arbeitet. Sie hat alles vorbereitet, für jeden der beiden eine Mappe mit den Kopien ihrer Dokumente, und nimmt sich viel Zeit, alles zu erklären. Während sie die Ruhe und Freundlichkeit in Person ist, herrscht im Raum ein wildes Geschrei. Smadar und Esther springen um den Tisch herum, reden durcheinander und haben Fragen über Fragen. Mit dabei ist stets das Smartphone, alles wird gefilmt. Ich habe schon auf Deutsch Mühe, die Bedeutung der Dokumente und das Vokabular (Häftlingskarteikarte, Krankenbauakte, Schreibstubenführer, etc.) zu verstehen und soll sogleich übersetzen. Ich tue mein Bestes. Eingeklemmt zwischen dem Archivmaterial, zwei Sprachen und in rasendem

Schweinsgalopp durch die Zeit, wird mir die Luft immer dünner. Als Einlieferungsdatum findet sich der 9. und der 10. Februar 1945. Wir stutzen. Anita erklärt: Zeev und Lozi erreichten Buchenwald in der Nacht des 9. Februar mit einem sehr großen Häftlingstransport, sodass die Funktionshäftlinge, die der SS in großen Teilen die Verwaltung des riesigen Lagers abnahmen, die ganze Nacht mit der Registrierung der Neuankömmlinge beschäftigt waren. Akkurat trugen sie den 10. Februar auf den Dokumenten ein, die erst nach Mitternacht ausgestellt wurden. Die schmucklose Differenz der beiden Zahlen holt jene Nacht in den hell beleuchteten Raum und verleiht ihr ein Gesicht. Ein Kosmos von Bildern drängt ins Bewusstsein. Lozi ist fassungslos, dass diese Dokumente existieren und wie sorgfältig sie ausgefertigt sind. Er wusste davon nichts, wiederholt er aufgeregt immer wieder und wirft dabei die Arme in die Luft. Währenddessen beginnt Zeev zu schmollen. Es schmeckt ihm nicht, dass die Aufmerksamkeit so lange bei Lozi verweilt. „Wann sprechen wir endlich über mich?“, begehrt er missmutig auf. Smadar fährt ihn an, er solle sich nicht wie ein Dreijähriger benehmen, schließlich sei Lozis Geschichte auch seine Geschichte.

 

Als wir uns dann über Zeev und seine Dokumente beugen, ist die Situation eine ganz andere. Er kennt die Dokumente bereits von vergangenen Besuchen in der Gedenkstätte und nimmt sie nun als Aufhänger, in getragenem Ton seine Geschichte zu erzählen. Wieder so eine verzwickte Situation, weil er hier einerseits im Grunde zu Eingeweihten spricht – wir kennen seine Geschichte und die Geschichte des Holocaust – und andererseits die Zeit nicht da ist für ein eigentliches Zeitzeugengespräch. Sollen wir ihn unterbrechen, und wenn ja, wie? Sein Vortrag wird verschoben, behutsam, nicht aufgehoben. Vor der Tür wartet Holm Kirsten, Leiter der museologischen Sammlung. Wir nehmen vor einem Computer Platz, er zeigt Fotos von Kindern und Jugendlichen nach der Befreiung. Es geht darum, Namen der Unbekannten zu identifizieren. Erkennen sich Zeev und Lozi irgendwo wieder, oder erkennen sie einen ihrer Mithäftlinge? Wieder reden alle laut durcheinander, ich kämpfe mich durch den Dschungel der Übersetzung und kann mich der Wirkung der Bilder nicht entziehen. Ertappe mich dabei, den einen oder anderen Jungen besonders „hübsch“ zu finden oder festzustellen, dass er „so ausgemergelt“ ja gar nicht aussieht. Dazwischen immer wieder Leichenberge, nackte Leiber, achtlos übereinander geworfen, und Schrumpfköpfe, die die SS aus den Schädeln verstorbener Häftlinge angefertigt hat.

 

Die Zeit drängt, schon befinden wir uns auf dem Rückweg nach Weimar. Vor dem Hotel soll das alljährliche Gruppenfoto aufgenommen werden. 50 Leute drängen sich um die kleine Gruppe der Überlebenden. Der Rollstuhl von Monsieur Richard verliert auf dem abschüssigen Platz plötzlich seinen Halt und droht, mitsamt Herrn Richard rückwärts davon zu rollen, ein winziger Überlebender aus Polen ist mit seinem Smartphone beschäftigt und verpasst den Blick in die Kamera. Danach opulentes Abendessen im Speisesaal des Hotels. Was als Festessen angekündigt ist, erlebe ich als Zumutung. Der Lärmpegel, verursacht von den zig geladenen Gästen, setzt mir zu, auf diverse Reden öffentlicher Persönlichkeiten folgt Live-Musik. Weder Reden noch Musik sind aufgrund der schlechten Akustik als solche vernehmbar. Trotzdem versuche ich zu übersetzen. Direkt neben unserem Tisch schlagen die Musiker ihre Instrumente, während Smadar und Esther mich von zwei Seiten zu Shoppingmöglichkeiten in Weimar bestürmen. Ein Typ, der nicht vorgestellt wurde, läuft durch die Reihen und hält ungefragt sein graues Plüsch-Mikro und Kamera zwischen die Köpfe, vorzugsweise vor die Nasen der Überlebenden. Derweil tobt der Lärm. Ich blicke mich um, versuche krampfhaft, Ordnung in meinem Kopf herzustellen. Auf die verschiedenen Tische verteilt sitzen die Überlebenden, still  und in sich versunken. Für Zeev, weiß ich, ist es in dieser Atmosphäre unmöglich, sich an Gesprächen zu beteiligen. Die Hörgeräte senden nur undifferenzierten Schall, viel zu laut. Kurz macht es mich melancholisch, dieses Festessen, dieser Aufwand, all diese Menschen, die nur wegen der Überlebenden hier sind, und sich am Ende auch gut ohne sie zu amüsieren scheinen.

 

Als sich der Speisesaal leert, blüht Lozi noch mal auf. Zeev hat gerade das zweite Mal Wein bestellt. „Hat keinen Einfluss auf mich“, versichert er, Smadar zwinkert mir zu. Lozi reißt nun einen Witz nach dem anderen und erzählt von seinem Kamel, das in Israel auf ihn wartet. Nähert er sich in seinem Auto (beide Herren besitzen mit ihren 94 Jahren ein eigenes Auto und fahren weiterhin damit), kommt es angaloppiert und wartet auf seine Ration Brot. Vorher, so ist es Gang und Gäbe, küsst es Lozi auf den Mund. Ich glaube, mich verhört zu haben. Zeugenschaft per Video. Das Kamel ist sehr süß und küsst also wirklich. Es soll beim nächsten Mal mitkommen und mit uns auf dem Theaterplatz vor Goethe und Schiller posieren, so will es Lozi. Ich finde alles nur noch irre, etwas in mir kapituliert und ich beginne, mich zu betrinken.

 

Tag 3

 

Am nächsten Morgen verlässt der schwarze Minivan wieder mit uns sechs Insass*innen   das Hotel in Richtung Gedenkstätte. Wieder lebhafte Berichte von der Nacht der Ankunft im Februar 1945. Als wir durch das Lagertor treten, setzt Hagel ein. Hier oben herrscht in mehrfacher Hinsicht ein anderes Klima. Immer um mehrere Grade kälter als unten in Weimar, weht zudem stets ein kräftiger Wind. Die Vegetation ist, von den mächtigen Buchen rund um den Stacheldrahtzaun abgesehen, karg. Zwischen den ehemaligen SS-Gebäuden alles voller Himmelschlüssel, das Lagergelände öd und grau. Heute wie damals wächst hier kein Kraut. Lozi ist vollkommen außer sich, gestikuliert und saust über den Appellplatz. „Das sah alles ganz anders aus! Wo sind die ganzen Baracken?“ Am Ende des Krieges war Buchenwald das größte KZ im Deutschen Reich.

Noch im Februar 1945 umfassten das Stammlager und seine 88 Außenlager 112.000 Menschen. Seit seiner Errichtung starben hier 56.000 Menschen an Folter, medizinischen Experimenten und Auszehrung. Von dem einstmals dichten Netz der Holzbaracken zeugen heute nur ihre Umrisse auf dem Schotterboden.

 

Esther startet erst mal einen Videocall nach Israel, die Familie drängt sich vorm Bildschirm, um die Live-Übertragung ins ehemalige KZ nicht zu verpassen. Der Wind heult. Schon ist Lozi am Krematorium angelangt. Er kennt den Weg, hat hier mehrfach Leichen vom Appellplatz zur Verbrennung abgeliefert. Vorm Tor des Krematoriums ist eine Schulklasse zum Stehen gekommen. Er wirft ihnen diese Sätze ins Gesicht, die Jugendlichen blicken neugierig und verständnislos. Soll ich übersetzen? Ich bin, mal wieder, überfordert. Schon ist Lozi im Gebäudeinneren verschwunden, Esther und ihr Videocall im Schlepptau. Ich erkläre ihnen, Flucht in die Sachebene, den damaligen Verwendungszweck der verschiedenen Räume: „Hier haben sie den Leichen die Goldzähne gezogen“, „Das sind die Urnen, in die die Asche gefüllt wurde“. Stimmgewirr, die Israelis vorm Bildschirm reden auch mit. Plötzlich ein ohrenbetäubendes Quietschen, wir fahren herum. Beherzt bedient Lozi die vermutlich seit 77 Jahren nicht mehr bewegte Apparatur, mit der die Leichen in die Verbrennungsöfen geschoben wurden. „Nicht berühren“, steht in großen roten Lettern darauf. Damals hat er sie berühren müssen.

 

Auch auf dem ehemaligen Gelände des berüchtigten ‚Kleinen Lagers‘, in dem sich der Block 66, der Kinderblock, befand, alles voller Himmelschlüssel. Die Lieblichkeit des erwachenden Frühlings will zu diesem Ort nicht passen. Ich lasse mich zurückfallen, um einen Moment für mich zu haben. Der Text der Gedenktafel, die hier in mehreren Sprachen als Teil eines Mahnmals erst nach der deutschen Wiedervereinigung errichtet worden ist, erschüttert mich wie jedes Mal zutiefst. Ein Ausschnitt:

 

„1945 waren etwa 20.000 Menschen gleichzeitig im Kleinen Lager untergebracht, menschenunwürdige Zustände führten dazu, dass hier die höchste Sterblichkeit im gesamten Lager herrschte. Als Unterkünfte dienten fensterlose Pferdeställe ohne Fußboden, ursprünglich für 50 Pferde bestimmt, in denen zeitweise bis zu 2.000 Menschen zusammengepfercht wurden. Es gab kein fließendes Wasser, keine sanitären Einrichtungen und kaum Heizung. Manche Häftlinge wohnten in Zelten. Das gesamte Gelände war von dickem Schlamm bedeckt. Die Lebensmittelrationen betrugen nur einen Bruchteil von denen im Hauptlager, oft gab es nicht mal Trinkwasser. Da es nur eine Latrine gab, sahen sich viele Häftlinge gezwungen, ihr Essgeschirr auch als Nachttopf zu verwenden. Seit Anfang 1945 lag ständig der Gestank menschlicher Exkremente über dem Lager. Als immer mehr Menschen starben, blieben die Leichen im Freien liegen.“

 

Es ist einer der Momente, in denen ich die Unwahrscheinlichkeit der Situation realisiere, heute mit Zeev und Lozi an diesem Ort zu stehen, an den sich aus Angst vor den grassierenden Seuchen nicht einmal die SS mehr traute. Und dennoch sagt Zeev, das Ghetto sei schlimmer gewesen als das KZ, weil es dort keine zugeteilten Essensrationen gab. Von seiner Familie überlebte nur er Auschwitz und das Ghetto, vier kleinere Geschwister und der Vater wurden ermordet, die Mutter war schon vor Kriegsbeginn verstorben. Über die Krautsuppe im KZ scherzt er: „Du hättest in Badehose an den Schüsselgrund tauchen müssen, um ein, zwei Fäden Kraut zu entdecken!“

 

Ich reiße mich zusammen und gehe den Anderen nach, die an der Gedenktafel zum Block 66 stehen. Um die Kinder im ‚Kleinen Lager‘ vor dem sicheren Tod zu retten, wurden sie auf Entscheid der Häftlingsverwaltung gemeinsam in der Baracke Nr. 66 untergebracht, die dem Blockältesten Antonin Kalina unterstand. Er organisierte Decken gegen die Kälte und tauschte die auf die Uniformen genähten gelben Winkel der jüdischen Häftlinge gegen die roten der politischen aus. Als die SS in den letzten Tagen vor der Befreiung begann, das Lager zu evakuieren, wurden die jüdischen Häftlinge als erste auf Todesmärsche geschickt. Der rote Winkel rettete ihnen das Leben. „Sind hier noch Juden?“ „Nein, hier sind keine Juden mehr!“ 904 Kinder und Jugendliche aus Block 66 erlebten die Befreiung. Neben uns steht plötzlich ein Pärchen, Besucher*innen der Gedenkstätte. Smadar spricht sie unvermittelt an und zeigt auf Zeev und Lozi: „They were both here, in Block 66. They survived it.“ Die beiden nicken stumm, betrachten die Gedenktafel. Als sie sich zum Gehen wenden, bricht der junge Mann in Tränen aus. Smadar und Esther bemerken es nicht, sie sind mit ihren Smartphones beschäftigt. Alles wird fotografiert und gefilmt. Lozi und Zeev sollen dies und jenes sagen, damit es auf Video aufgenommen werden kann. Um ehrlich zu sein, strengt mich ihre Aufregung an. Sie ist mir fremd. Ich wundere mich über die ausbleibende Betroffenheit und verurteile mich sogleich dafür, ihr Verhalten zu bewerten. Vielleicht artikulieren sich hier unterschiedliche Kulturen der Erinnerung. Vielleicht.

 

In der Dokumentation über den Kinderblock 66, die wir abends im gut besuchten Kino Mon Ami sehen, sagt Naftali Fürst, der heute bekannteste Überlebende des Kinderblocks und Ehrenbürger von Weimar, er bezeichne sich selbst nicht als Überlebender: „Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns das KZ überlebt hat. Wir sind die Glut, die im Feuer nicht verbrannt ist“. Am Ende des Films entschuldigt er sich bei jenen, die im Lager umgekommen sind, dafür, Worte zu suchen für das Unsagbare. Im Anschluss in der Hotelbar sehr herzliche Begegnung mit einem weiteren israelischen Überlebenden des Block 66. Lozi lädt ihn ein, ab sofort entweder mit Zeev fünf Uhr morgens das Schwimmbad aufzusuchen, oder ihn, Lozi, zu diversen Tanzveranstaltungen zu begleiten. Noch immer tanzt er mehrmals pro Woche, noch immer zieht Zeev täglich seine Bahnen. Dazwischen erzählt er, wie er und Zeev während des Transports vom KZ Großrosen nach Buchenwald auf Leichen saßen, die den Boden der Viehwaggons bedeckten. Dazu Latte Macchiato und Weimarer Plätzchen. So unterschiedlich sind die Umgangsweisen.

 

Tag 4

 

Ich stehe mit Smadar in der Hotellobby. Sie erzählt mir lachend von diversen Fettnäpfchen, in die sie sich durch ihr holpriges Englisch gesetzt hat, als Herr Richard, 99jähriger Überlebender aus Frankreich, hinter mir von einer Traube Menschen umringt wird. Ich merke, dass etwas nicht stimmt, mir bricht der Schweiß aus. Als er von den herbei eilenden Sanitätern auf eine Trage gehoben und ins Krankenhaus gebracht wird, kumuliert die allgegenwärtige Nervosität und lässt allen den Atem stocken: Dass ihm bloß nichts zustoßen möge! Die Nacht verbringt er, der spindeldürre und blitzgescheite Herr im Rollstuhl, im Krankenhaus. Allein und des Deutschen nicht mächtig. Ich halte den Gedanken kaum aus und sende, meinen Atheismus kurzerhand über Bord werfend, beim Schlafengehen ein Stoßgebet gen Himmel. Sicher ist sicher. Als er am folgenden Tag zurück ist, greift ein merkliches Aufatmen um sich. Das Geschenk an die Gedenkstätte Buchenwald, das er während eines Zeitzeugengespräches übergeben wollte, wird nun in der Hotellobby überreicht. Es ist ein Holzei in der Größe eines Straußeneis. Handwerklich meisterhaft ausgeführt, muss er daran viele Stunden gearbeitet haben. Die verschiedenen verarbeiteten Holzarten stehen für die Nationalitäten der KZ-Häftlinge, den Dreifuß, auf dem es ruht, schmücken rote Winkel mit den entsprechenden Kürzeln. Das Ei ist ein Dank an die helfende Zivilbevölkerung, die ihm und seinen Kameraden damals einmal heimlich rohe Eier zusteckte, und soll, das ist ihm wichtig, die Sammlung der Gedenkstätte ergänzen. Ich finde, es gehört menschliche Größe dazu, ausgerechnet diesem Ausschnitt der Ereignisse ein solches Gewicht zu verleihen. Vielleicht hat es auch etwas mit Heilung zu tun. Bestimmt hat es etwas mit Heilung zu tun. Und trotzdem.

 

Offizielle Zeremonie zum Gedenken an die Befreiung des KZ Buchenwald am 11. April vor 77 Jahren auf dem ehemaligen Appellplatz. Denkwürdiges Wetter. Sonne, Sturm, Schnee, Regenbogen und wieder Sonne. Als wollten die Gezeiten den Lauf der Geschichte untermalen. In den Reden ist der Krieg in der Ukraine viel Thema, ich finde manchmal zu viel, droht er doch vom eigentlichen Anlass der Gedenkzeremonie abzulenken. Die Position der Gedenkstätte Buchenwald ist seit dem gewaltsamen Tod des Buchenwald-Überlebenden Boris Romantschenko, dessen Wohnhaus in Charkiv am 18. März von einer russischen Rakete getroffen wurde. Unter den Gästen ist heute auch eine ukrainische Überlebende des KZ Buchenwald, die vor wenigen Wochen nach Sachsen-Anhalt geflohen ist. Eine würdevolle Erscheinung mit goldbezahntem Lächeln. Die BILD-Zeitung titelt noch am selben Tag: „Buchenwald-Überlebende flüchtet vor Putins Krieg“. So schrecklich der Krieg auch ist und so unerträglich es ist, dass Überlebende des Holocaust ein weiteres Mal Opfer von Krieg und Gewalt werden: Mir ist der Eindruck zuwider, dass auch dieser Anlass medial ausgebeutet wird, um die vorherrschende Perspektive auf Russland und seinen Angriff auf die Ukraine zu untermauern.

 

Nach der Zeremonie lässt die Anspannung nach: Der Hauptakt dieser Tage liegt hinter uns, ohne dass es zu Zwischenfällen kam. Anders als etwa 2019, als die jugendlichen Fahnenträger:innen, die normalerweise den Hintergrund der Zeremonie bilden und zwei Stunden reglos im Schneetreiben verharrten, einer nach dem anderen zusammenbrachen und von den eigentlich für die Überlebenden bestellten Sanitätern behandelt werden mussten. Diesmal standen die Fahnen auf Sockeln. Eine weise Entscheidung. Beim Abendessen ausgelassene Stimmung. Lozi spielt lässig mit einem Kreisel, den er in seiner Hosentasche gefunden hat, balanciert ihn auf der Nase und imitiert, auf diese Weise wie Karlsson vom Dach davon zu fliegen. Nach dem Essen kann er nicht aufhören zu niesen. Esther lacht: „Ich weiß jetzt endlich, woher mein Sohn und ich unsere Sättigungsallergie haben!“ Fragende Blicke. Sättigungsallergie? „Wenn wir uns richtig voll gegessen haben, müssen wir die ganze Zeit niesen.“ Just geht es los, auch sie niest um die 20 Mal. Gelächter auf allen Seiten, dann Esther über ihren Vater: „In Buchenwald hat er nicht geniest!“ Ich halte kurz die Luft an, schon biegt sich der Tisch vor Gelächter. Die Szene dominiert längst die Akustik des Speisesaals, Lozi und Zeev schmunzeln vergnügt. Lozi erzählt vom KZ, Esther hantiert an ihrem Smartphone und ruft Lozis Bruder an, der 96jährig in einem israelischen Altersheim lebt, sofort abnimmt und sehr lieb in die Kamera lächelt. „Hi Mika, Lozi erzählt gerade von Auschwitz! In welchem KZ warst du noch mal?“ Wildes Durcheinander, Kusshände, tschau. Stimmung wie am letzten Abend einer Klassenfahrt. Form und Inhalt scheinen nicht mehr zusammenzupassen, und doch fühlt es sich stimmig an, was hier passiert. Alle sind dabei und allen scheint es gut zu gehen.

 

Tag 5

 

Ein wunderschöner letzter Tag. Das Wetter jetzt lieblich, wir schlendern durch die Weimarer Innenstadt. Zeev genießt es sichtlich, nach anfänglichem Widerstand nun mit dem Rollstuhl durch die sonnigen Gassen gefahren zu werden. Während Esther und Lozi voran eilen, lassen wir uns Zeit, um geeignete Mitbringsel auszuwählen. Wieder berührt mich Zeevs Wesen. Die Brutalität und Verluste seiner ersten 17 Lebensjahre haben ihn nicht hart gemacht. Ganz weich ist er, eine gute Seele. Er sucht etwas für seine Freundin Ella, betrachtet die Angebote in den Läden mit Bedacht, wählt am Ende ein funkelndes kleines Tier für sie aus. Es ist ein rot-goldener Stoffoktopus, gefüllt mit Sand. Ein Spielzeug für Kinder für erschwingliche drei Euro. Smadar ermuntert ihn, zwei oder drei der Tiere zu kaufen und sie Ella als eine Art Set zu schenken. Ein einzelnes, das sei irgendwie nicht genug, und außerdem koste es nur drei Euro. Er denkt nach, lässt sich von der Verkäuferin die anderen Tiere zeigen, wendet sie hin und her und bleibt am Ende bei seiner Entscheidung. Es sei unwichtig, wie viel etwas koste, und zwei oder drei seien nicht besser als eines, wenn ihm doch dieses eine besonders gefalle. Der Oktopus wandert in die Papiertüte. Mich berührt auch, wie er die Dinge ansieht und auswählt. In einem anderen Geschäft sind es filigrane Szenen aus Holz, nicht höher als fünf Zentimeter und ummantelt von einer Kuppel aus Glas, die er ausgiebig betrachtet. Jede nimmt er in die Hand, staunt, schaut genau hin. Für sich selbst kauft er eine dieser kleinen Glaskuppeln, unter der sich zwei Menschen, an einem Tisch sitzend, zuprosten. Zwischen ihnen steht eine Flasche Wein. Smadar ist überglücklich. In Israel, erzählt sie, verlässt Zeev mittlerweile selten das Haus, Einkaufen geht er gar nicht, Bummeln undenkbar. Es sei von unschätzbarem Wert, was hier passiert.

 

Abends besuchen wir eine Veranstaltung zu Jazz im KZ Buchenwald. Seit 1943 existierte mit Unterstützung des geheimen Internationalen Lagerkommitees eine Jazzband, der es auf verschlungenen Wegen gelang, Instrumente zu organisieren und im Schutz des von der SS gemiedenen Kleinen Lagers zu proben. Das Programm mehrerer Konzerte ist überliefert und wird von Studierenden der Musikhochschule Weimar live dargeboten. Dazwischen Nachvollzug der Biografien der Musiker. Zeev nickt kurz ein. Als die Big Band den nächsten Titel anspielt, schreckt er auf und Lozi kommentiert: „Schade, jetzt kann Zevele nicht weiter schlafen!“ Dem Publikum wurden wir als Gäste der Gedenkstätte Buchenwald vorgestellt, leise Neugierde an Lozi, Zeev und der fremden Sprache ist deutlich zu spüren. Einen aus dem Publikum hält es im Anschluss nicht länger auf dem Stuhl. Ich sortiere ihn innerlich in die Schublade der Menschen, deren Lider sich weiten, wenn sie das Wort „Überlebende“ hören und die sich nicht scheuen, sich wie Kletten an sie zu heften. Er macht Fotos mit Zeev und Lozi und ich kann ihn nur mit Mühe davon abhalten, uns ins Hotel zu folgen. Lozi ist begeistert und erstaunt über das offenkundige Interesse an ihm. Ich überlege, woher meine Ablehnung rührt. Ist es nicht auch schön, den Kontakt zu suchen und nicht auf einer Distanz zu beharren, die die Überlebenden ein zweites Mal absondert von uns, der breiten Masse, die das alles nicht erleben musste? Zugleich werden sie eben nicht als Zeev und Lozi angesprochen, sondern als Zeugen des Schrecklichen. Es ist dieses  Merkmal, das, so empfinde ich es, eine gewisse Sensationslust weckt und bei manchen das dringende Bedürfnis nach Versöhnung. So gut ich das nachvollziehen kann, so wenig kann ich es akzeptieren.

 

Ich erinnere mich an eine Situation vor vier Jahren, als ich mit Zeev über das Gelände des ehemaligen KZ lief und sich uns plötzlich eine Frau näherte. Die Lehrerin hatte ihre Schulklasse für einen Moment stehen gelassen, als sie Zeev gewahr wurde. Mit erstickter Stimme fragte sie ihn, ob sie ihn umarmen dürfe. Ich schaute sie entgeistert an, Zeev breitete strahlend die Arme aus: „Aber natürlich!“ Sie warf sich ihm an die Brust und klebte uns dann mit tränenüberströmtem Gesicht Herzchen-Sticker ans Revers. Meine spätere Frage, ob ihm das unangenehm gewesen sei, verneinte er entschieden. Es sei doch nicht unangenehm, wenn eine junge Frau seine Nähe suche.

 

Sehr herzliche Verabschiedung und gegenseitige Dankesworte vorm Schlafengehen in der Hotelbar. Noch einmal setze ich Zeev auseinander, dass 64 Jahre Altersdifferenz ein hinreichender Grund sind, keine Intimbeziehung miteinander einzugehen. Er zeigt sich nicht überzeugt. Dafür versichere ich ihm, noch dieses Jahr zu Besuch zu kommen. Als Zeev und Lozi mit Smadar und Esther in ihren Zimmern verschwunden sind, wundert sich einer der Betreuer*innen, die unser Gespann in den vergangenen Tagen begleitet haben, dass er die ganze Zeit entweder aufgedreht oder total platt, nie aber emotional berührt war. Das Ganze habe ihn emotional nicht wirklich abgeholt, sagt er, verhaspelt sich dabei und entschuldigt sich umständlich für die Formulierung. Wir müssen beide lachen, ich verstehe ihn so gut, und sage: „Der Holocaust hat mich emotional irgendwie nicht abgeholt“. Darauf können wir uns einigen.

 

Tag 6

 

Im Morgengrauen verlässt der Bus mit den Überlebenden das Hotel in Richtung Flughafen. Ich winke, prüfe den Asphalt unter meinen Füßen, verlagere das Gewicht. Das erwartete Nachbeben bleibt aus.

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[1] Die Namen von Zeev Nuzbaum und Moshe Laszlo Goldblum, genannt Lozi, entsprechen nicht ihren wirklichen Namen.

Wanda Kilias

lebt und studiert in Halle. Das Judaistikstudium hat sie abgebrochen, aber das Interesse am Hebräischen, an deutsch-jüdischer Geschichte und Fragen der Erinnerungskultur ist geblieben.

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