„Das bisschen Totschlag bringt uns nicht gleich um…“

Ein Beitrag zur überfälligen Diskussion zu Unterschieden zwischen „linker“ und „rechter“ Gewalt

von | veröffentlicht am 21.01 2021

Beitragsbild: Transit

In Deutschland wurde die Diskussion um die Frage nach linker Gewalt bzw. militanten Aktionen „der Antifa“ bis heute nicht geführt. Eine öffentliche oder wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Frage wurde vom Dogma der „Totalitarismus-" oder auch „Hufeisen-Ideologie“ verunmöglicht. Auch ein selbstkritischer Umgang linker und antifaschistischer Gruppen wurde dabei nahezu unmöglich gemacht. Dabei ist es gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung mit den „Baseballschlägerjahren“, dessen Opfer rechter Gewalt bis heute traumatisiert sind, unbedingt nötig sich zu fragen, wie reaktionäre Entwicklungen und Strukturen verhindert werden können. Doch wie umgehen mit dem Dilemma, dass die eigene Utopie eigentlich gewaltlos ist, sie bei der Verhinderung von Schlimmerem aber vielleicht notwendig ist?




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Ich bin vor ein paar Wochen gefragt worden, ob ich Lust hätte eine Rezension zum Film „Und morgen die ganze Welt“ zu schreiben. Der Film, vom dem bisher nur Trailer, Zeitungsartikel und diverse Interviews und Statements der Regisseurin existieren, thematisiert offenbar in ungewöhnlicher Art und Weise Fragen nach Legitimation und Grenzen politischer Gewalt gegen die extreme Rechte. Die Regisseurin betont stark den autobiographischen Hintergrund des Films, in dem sie Teile ihrer eigenen Sozialisation in den 1990er Jahren verarbeitet hat. Corona-bedingt gab es bisher nur wenige Aufführungen des Films und die eigentlich für den 31.12.2020 angekündigte Online-Premiere ist nochmal um weitere Monate verschoben worden. Wenn es so weit ist, dass der Film angeschaut werden kann, werde ich die Rezension gerne nachliefern.

Unabhängig von der Umsetzung des Films und dessen Glaubwürdigkeit wird aber eine überfällige Diskussion angestoßen, die bisher in Deutschland nicht öffentlich geführt werden konnte. Nämlich die Frage nach linker Gewalt bzw. militanten Aktionen „der Antifa“. Natürlich werden über „die Antifa“ (und deren angebliche Gewaltbereitschaft) viele bewusste oder unbewusste Lügen verbreitet, aber eine öffentliche oder gar wissenschaftliche Diskussion dazu wird seit langem vom Dogma der „Totalitarismus-Ideologie“ verunmöglicht, da hier nicht über menschenverachtende, mörderische Gewalt neuer oder alter Faschist*innen gesprochen werden kann, ohne reflexhaft die Gleichsetzung mit linker/antifaschistischer Gewalt zu propagieren. Es geht mir nicht darum linke Gewalt, oder was dafür gehalten wird zu verharmlosen oder schönzureden. Trotzdem gibt es unzählige Unterschiede und völlig verschiedene soziale Auswirkungen. Wer dazu trotz aller verfügbaren Informationen, immer wieder die Gleichsetzung von „linker“ und „rechter“ Gewalt predigt ist entweder ignorant oder er*sie versucht bewusst emanzipative Politikansätze zu diskreditieren.

Diese „Hufeisen-Ideologie“ verwischt nicht nur alle Unterschiede in Zielsetzung, Umsetzung und gesellschaftlicher Relevanz militanter Praxen. Sie schützt auch die imaginierte „Mitte der Gesellschaft“ vor einer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Verstrickung in extrem rechte Denkmuster und manifestiert dadurch eine Vorstellung von Gesellschaft, in der es bedrohliche Ränder und eine demokratische Mitte gibt. Dieses Gesellschaftsmodell war noch nie stimmig, wirkt aber angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre nur noch absurd.

Was aber ironischerweise auch durch die „Totalitarismus-Ideologie“ nahezu unmöglich gemacht wird, ist ein selbstkritischer Umgang mit militanten Aktionen linker und antifaschistischer Gruppen, für den es in den letzten 30 Jahren ausreichend Anlässe gegeben hätte. Nicht bei jeder Aktion gegen Neonazis wurde die Linie zwischen „berechtigter“ und „übertriebener“ Gewalt so beachtet wie es nötig gewesen wäre. Darüber wurde intern oft und lange gestritten. Wieso diese Gewalt aber in bestimmten Situationen alternativlos war, ist in der Öffentlichkeit allerdings ein Tabuthema. Ich komme später nochmal darauf zurück und würde genau diese Diskussion befürworten.

Es ist offensichtlich, dass Menschen, die für eine gewaltfreie, gleichberechtigte Gesellschaft eintreten, sich in einem Dilemma befinden, wenn sie Gewalt zur Bekämpfung reaktionärer, faschistischer Strukturen oder zur Durchsetzung eigener Ziele einsetzen müssen. Meine Position dazu ist klar: ich lehne Gewalt in jeder denkbaren Form ab und in meiner Utopie hat Gewalt in keiner Form Platz. Nicht als „staatliches Gewaltmonopol“, nicht als patriarchales Unterdrückungsinstrument, nicht als „Erziehungsmethode“ und auch nicht als politisches Werkzeug. Dennoch halte ich militante Aktionen zur Verhinderung reaktionärer Entwicklungen und Strukturen für legitim und das nicht nur historisch (das Dritte Reich wurde schließlich nicht am Verhandlungstisch bezwungen), sondern auch in der Gegenwart. Der Widerspruch ist mir bewusst und ich muss damit leben bzw. immer wieder versuchen, Anspruch und Wirklichkeit mit der politischen Praxis in Einklang zu bringen. Ich will hier nicht näher auf die theoretischen Fragen eingehen, würde mich aber freuen, einen Anstoß für Diskussionen hier oder in anderen Konstellationen zu liefern.

Lena Bohn kommt aus Halle und war hier Ende der 80er Jahre in der Antifa-Szene aktiv.

...verstehen kann ich die Absurdität dieser „Wendejahre“ dadurch aber nicht wirklich

Ich würde gerne ein paar Worte zur Gewalt in den 1990er Jahren loswerden und mich somit wieder etwas dem Thema des Films annähern. Eine zaghafte Diskussion dazu hatte sich seit einiger Zeit unter dem Hashtag #Baseballschlägerjahre entwickelt. Ich habe viele der verfügbaren Beiträge dazu gelesen und mich mit den Geschichten der damaligen Protagonisten*innen befasst. In den zahlreichen Texten, Videos, Interviews und Gesprächen zeichnen sich zwar bestimmte Muster ab, die sich in den meisten Erzählungen wiederfinden, verstehen kann ich die Absurdität dieser „Wendejahre“ dadurch aber nicht wirklich.

Wenn man sich die Mühe macht, den Opfern rechter Gewalt oder anderen Beteiligten aus dieser Zeit zuzuhören, bemerkt man schnell, wie traumatisiert diese Menschen häufig auch nach Zwanzig oder Dreißig Jahren noch sind. Viele haben bestimmte, negative „Highlights“ erlebt, bei denen nahestehende Personen angegriffen, verletzt oder sogar getötet wurden, ein Klub, ein besetztes Haus oder irgendein Aufenthaltsort angegriffen und verwüstet wurde. Zusätzlich wird meist noch ein Alltag beschrieben, in dem die hemmungslose, rechte Gewalt und Dominanz noch zermürbender waren und sich Gefühle wie Hilflosigkeit, Wut und Unverständnis gegenüber der Ignoranz der sonstigen Gesellschaft ausbreiteten. Die Mehrheitsgesellschaft – und damit auch die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ – ignorierte zum überwiegenden Teil die Dauerbedrohung durch rechte Schläger*innen gegenüber kleinen, marginalisierten Gruppen. So gab es in der Regel bei rechten Angriffen und Mord(-versuchen) keine Unterstützung für die Angegriffenen – weder von Eltern, Lehrer*innen, Nachbar*innen, Passant*innen, noch von den formal dafür zuständigen Polizei- oder Justizangehörigen. In Schulen sahen die Pädagog*innen genauso weg wie in zahlreichen Jugendklubs, in denen nahezu flächendeckend rechte Cliquen das Sagen hatten.

Hinzu kam die auf vielen Ebenen seit Jahrzehnten geprobte Verharmlosung der politischen Dimension des Terrors von Rechts. In Medienberichten sowie zahlreichen dokumentarischen Filmprojekten der 1990er Jahren wurde immer wieder Verständnis für die „brisante Lage der rechten Jugendlichen“ gezeigt und konsequent deren politische Agenda ignoriert. Mit dieser Logik wurde auch das „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG)“ ins Leben gerufen und umgesetzt. Flächendeckend wurden rechten Cliquen mit Hilfe dieses Programms Jugendklubs zur Verfügung gestellt, was ihnen viele Möglichkeiten gab, sich besser zu organisieren und z.B. ihre Angriffe zu planen. Die Opfer dieses rechten Organisierungsschubes konnten mit auffallend weniger Verständnis rechnen oder kamen in den Planungen der Jugendämter überhaupt nicht vor (zur Kritik am „AgAG“ Programm wurde 1998 die Broschüre „Rosen auf den Weg gestreut“ veröffentlicht). Die rechte Gewalt wurde in Folge des „AgAG“-Programms nicht weniger, wenn überhaupt wurde sie strategischer und somit fast noch gefährlicher als zuvor.

Wer in der damaligen Zeit nicht zum Opfer werden wollte, musste sich wehren

Den bedrohten Gruppen und Personen blieben dagegen nicht viele Möglichkeiten, mit der kontinuierlichen Bedrohung umzugehen. Eine Folge war eine Landflucht, die in vielen Regionen bis heute anhält. Während sich in den meisten größeren Städten relativ schnell alternative Strukturen entwickelten, gab es in den Kleinstädten oder ländlichen Regionen eigentlich nur die Flucht in die größeren Orte. Nur dort konnten sich mit mehr oder weniger Erfolg Gruppen zusammenfinden, die in der Lage waren, dem rechten Terror etwas entgegenzusetzen.

Diese Gegenwehr nämlich war in den 1990er Jahren meist die einzige Möglichkeit „in Frieden“ zu leben. Nicht die staatlichen Strukturen mit ihrem Gewaltmonopol wollten oder konnten die angegriffenen Personen und Gruppen schützen. Wer in der damaligen Zeit nicht zum Opfer werden wollte, musste sich wehren. Das ging in der Regel nur, wenn er*sie sich mit anderen Personen zusammenschloss. Im Klartext: In der „Nachwendezeit“ – und in zahlreichen Regionen noch viele Jahre später – war Gewalt (neben Flucht) die einzige Möglichkeit, um nicht auf Dauer Opfer zu werden. Diese Gegengewalt hat paradoxerweise den Menschen, die in der Lage waren sie einzusetzen, Stück für Stück die Möglichkeit zurückgegeben, ihr eigenes Leben zu leben, also ein Leben ohne permanente Gewalt und Bedrohung durch Nazis zu führen. In den Orten oder Regionen, in denen militante, antifaschistische Gegenwehr schnell und effektiv war, wurde es für Nazis schwieriger sich zu treffen, sich zu organisieren und ihre mörderische Ideologie umzusetzen.

In vielen ostdeutschen Städten fand diese Entwicklung statt, in einigen früher, in anderen später. Halle (Saale) ist dafür ein gutes Beispiel. Auch hier gab es gut organisierte Nazistrukturen, die u. a. von 1991/92 ein Haus am Rande von Halle-Neustadt „besetzten“. Auch hier gab es das völlig entpolitisierte Vorgehen des städtischen Jugendamtes, das seine Aufgabe vor allem darin sah, die Nazi-Hausbesetzer gegen Widerstände aus der Regionalpolitik zu verteidigen. Allerdings hatten sich in Halle mit den Erfahrungen der letzten Jahre der DDR und unter dem Eindruck der rassistischen und rechtsextremen Gewalt in der „Wendezeit“ frühzeitig antifaschistische Strukturen entwickelt, die sich relativ schnell mit militanten Aktionen gegen entstehende Nazistrukturen wehren konnten. Diese Aktionen haben dazu beigetragen, dass organisierte Nazis sich zumindest aus der halleschen Innenstadt zurückzogen und große Probleme hatten junge Leute an sich binden zu können. Gleichzeitig haben sich linksalternative Strukturen entwickelt in denen sich Menschen ohne Angst vor Gewalt durch Neonazis treffen konnten.

Trotzdem gab und gibt es immer wieder auch in Halle Versuche der extremen Rechten sich zu organisieren, diese waren aber über die letzten drei Jahrzehnte immer von entschlossenem Widerstand linker Strukturen begleitet und somit nie besonders nachhaltig. Auch hierüber kann noch viel geschrieben und diskutiert werden.

„manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein illtum“ (Ernst Jandl)

Ich komme nochmal auf die Gleichsetzung „rechter“ und „linker“ Gewalt zurück. Es ist bekannt, dass seit 1990 über 200 Menschen aus rechten Motiven ermordet wurden. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer noch deutlich höher ist. Wie auch immer gezählt wird, es gibt bis auf wenige Ausnahmen nicht mal annähernd vergleichbare Opferzahlen, die im gleichen Zeitraum durch „linke“ Gewalt entstanden sind. (Fußnote: Ich zähle hier ganz bewusst nicht die letzten Opfer der RAF hinzu, darüber ließe sich streiten, aber hier geht es neben der trotzdem überdeutlich geringeren Opferanzahl vor allem um den Unterschied zwischen rechtem Terror, dem die absolute Mehrzahl der Getöteten zum Opfer fielen und organisiertem Terrorismus.)

Eine dieser Ausnahmen ist der „Fall Kaindl“. Gerhard Kaindl war ein Parteifunktionär der „Deutschen Liga“ und wurde 1992 bei einer militanten Auseinandersetzung in einer Berliner Kneipe getötet. Diese Aktion wurde u. a. im Buch „friss und stirb trotzdem“ thematisiert. Das Buch war wiederum Grundlage des gleichnamigen Theaterstücks, das 2010 am halleschen „Thalia Theater“ inszeniert wurde. Die Auseinandersetzung um den „Fall Kaindl“ und dessen tödlicher Ausgang wurden über Jahre intensiv in Antifa-Strukturen diskutiert. Der Tenor war klar: Die Tötung von Menschen kann und darf nicht Ziel antifaschistischer und emanzipativer Politik sein. Das klingt banal. Aber es verdeutlicht die Diskrepanz zum Umgang mit den über 200 Todesopfern rechter Gewalt und der Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft. Die permanente Diskussion über Linke Gewalt ist eindeutig politisch und ideologisch motiviert, deren Gleichsetzung ist vollkommen unverhältnismäßig.

Dass diese Erkenntnis und die eindeutigen Positionen nahezu aller linker/ antifaschistischer Strukturen damals wie heute öffentlich nicht wahrgenommen werden, sollte nicht länger hingenommen werden.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.