Bürokratie und Schwerkraft

Eine Reportage zu den bürokratischen Hindernissen, die einer Familie in Halle beim Nachzug der minderjährigen Tochter in den Weg gestellt werden.

von | veröffentlicht am 01.04 2022

Beitragsbild: Nora Böhme

Das Recht auf Familie ist in Artikel 6 des Grundgesetzes geregelt, na und? Deutsche Behörden verzögern die Familienzusammenführung aus Eritrea nach Deutschland um Jahre, wenn Dokumente fehlen, die in ländlichen Regionen nicht ausgestellt werden.




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Sarah (Name von Autorin geändert) hält eine Waffel mit zwei Eiskugeln. Eine zu instabile Konstruktion für einen so heißen Tag, Eiskugelgrößen sollten unbedingt an Außentemperaturen angepasst werden. Sie ärgert sich fürchterlich, die leere Waffel in ihrer Hand, das Eis am Boden. Eis sollte sich immer wieder auffüllen in allen Geschmackssorten und Farben und stets von Sahne und bunten Streuseln getoppt sein. Erst vor wenigen Tagen ist Sarah in Halle (Saale) bei ihrer Familie angekommen. Sie hatte in den vergangenen sieben Jahren ausschließlich über ihr Smartphone Kontakt zu ihren Eltern und wartete jahrelang in einem Flüchtlingscamp.

Sarahs Vater hat eine Narbe um seinen linken Oberarm. Auch im Sommer ist sie verdeckt durch einen langen Ärmel. Er spricht leise und mit gesenktem Blick. Seine Frau zeigt seine Narbe, erzählt wie er mit einem Drahtseil an einen Stuhl gebunden wurde. Nach ihrer Hochzeit wurde er zum Militärdienst eingezogen – auf unbefristete Zeit. Sarah wurde geboren. Zwei Jahre hatte er versucht Urlaub zu beantragen, um seine Frau und seine Tochter zu sehen. Er wurde ihm nicht genehmigt. Dann floh er zu ihnen, wurde zurückgeholt, gefoltert. Nach einer erneuten Flucht suchte die Geheimpolizei seine Frau und ihre Eltern auf und bedrohte sie. Sie fassten augenblicklich den Entschluss das Land zu verlassen. Für die 3-jährige Sarah barg die Flucht zu große Gefahren und sie wäre den körperlichen Strapazen nicht gewachsen gewesen. Sarah blieb daher bei den Großeltern und sollte über die Landesgrenze gebracht werden, sobald sich die Eltern in Sicherheit befinden. Ihre Mutter erzählt davon, wie es sich anfühlt sein Kind zurückzulassen. Sie wusste, dass Sarah in ein Flugzeug steigen kann, wenn die Eltern die Familienzusammenführung beantragen und ihr die gefährliche Flucht erspart bleiben würde. In einem Jahr würden sie sich wiedersehen.

Sarahs Eltern kamen fast ein Jahr später im Oktober 2015 nach Deutschland. Sie haben sofort den Familiennachzug für ihre damals 4-jährige Tochter beantragt und über eine Beratungsstelle Kontakt mit dem UNHCR Flüchtlingscamp, mit der Internationalen Organisation für Migration und der Deutschen Botschaft in Addis Abeba aufgenommen. Die Eltern organisieren jemanden, der Sarah bei ihren Großeltern abholt und über die eritreische Grenze in ein Flüchtlingscamp nach Äthiopien bringen soll, wo alle weiteren Schritte für die Reise zu ihren Eltern geregelt werden. Mit einer Gruppe ihr fremder Menschen legt sie zu Fuß zwei Wochen enorme Strecken zurück. Beim Grenzübertritt wird die Gruppe von Soldaten aufgegriffen. Ohne ihr vertraute Bezugspersonen verbringt Sarah im Alter von fünf Jahren zwei Monate in einem eritreischen Gefängnis.

Ein erneuter Grenzübertritt ist im September 2018 geglückt, da ist sie inzwischen 7 Jahre alt und in Begleitung eines 13-jährigen Mädchens. Zwei Wochen sind sie allein über die Grenze in das Flüchtlingscamp Endabaguna in Äthiopien gelaufen. Die Mädchen sind zu diesem Zeitpunkt nur erreichbar, wenn sie sich an andere Erwachsene mit einem Telefon wenden. Oft haben die Eltern wochenlang keinen Kontakt und keine Information, wo sich ihre Tochter aufhält. Im Dezember 2018 kontaktiert der Anwalt der Eltern die Dt. Botschaft in Addis Abeba und das Auswärtiges Amt erneut, mit Bitte um beschleunigte Terminvergabe bei der Botschaft, da sich die 7-jährige Sarah unbegleitet im Flüchtlingscamp aufhält.

Die Botschaft antwortet:

„Für solche Fälle gibt es keine Sondertermine. (…) Jede Bevorzugung eines Einzelnen bedeutet die Benachteiligung anderer Familien.Mit freundlichen Grüßen / Best regards Im Auftrag /(…) Head of Passport Office and Visa Section Leiter der Pass- und Visastelle German Embassy Addis Abeba“

Sarah hat inzwischen ein Handy und telefoniert täglich mit ihren Eltern. Sie weint und fragt, wann sie zu ihnen kommen darf. Alle rechnen damit, dass der Familienzusammenführung jeden Moment zugestimmt werden wird. Zu diesem Zeitpunkt würden die Eltern ihren Aufenthaltstitel verlieren, wenn sie Deutschland verlassen. Im Februar 2019 wird eine Frau im UNHCR-Camp als Bevollmächtigte auf dem Flüchtlingsausweis eingetragen. Sie soll Sarah in allen behördlichen Angelegenheiten vertreten und begleiten. Alle Dokumente für die Familienzusammenführung werden beglaubigt, Vollmachten erstellt und übermittelt. Plötzlich ist die Frau nicht mehr im Camp. Ein neuer Bevollmächtigter muss gefunden, der Ausweis erneuert werden. Wochen vergehen. Im April 2019 wird die Botschaft erneut kontaktiert. Ende Mai 2019 fordert die Botschaft ein DNA-Abstammungsgutachten. Die Blutentnahme erfolgt in Äthiopien, die Proben werden nach Deutschland geschickt und mit denen der Eltern abgeglichen.

Die Eltern erfahren wenig über Sarahs Situation im Camp. Ihre Mutter ist in dieser Zeit immer in Sorge, ob Sarah genügend Essen bekommt. Sarah wird zu zwei weiteren Camps gebracht. Die Eltern wissen manchmal mehrere Tage nicht, wo sie sich gerade aufhält. Schließlich gibt es im UNHCR- Flüchtlingscamp, in dem sie sich nun befindet, eine Child Protection Area. Die Kinder bekommen regelmäßig etwas zu essen, müssen sich nicht mehr allein im Camp orientieren und haben nun Ansprechpersonen, die sie auch bei den behördlichen Dingen unterstützen können.

Im Dezember 2019 ist die inzwischen 8-jährige Sarah nach einer Beinverletzung schwer erkrankt und liegt im Krankenhaus. Das DNA-Gutachten, das die Elternschaft belegt, wird der Botschaft übermittelt, mit der wiederholten Bitte um ein beschleunigtes Verfahren. Sarah ist inzwischen über ein Jahr im Flüchtlingscamp. Zu diesem Zeitpunkt brechen im Camp bewaffnete Unruhen aus und es kommt regelmäßig zu Übergriffen. Die beiden Mädchen wurden zwei Mal überfallen. Ihnen wurde das Telefon abgenommen und Sarah hatte wochenlang keinen Kontakt zu ihren Eltern.

Ihre Eltern organisieren eine Wohnung außerhalb des Flüchtlingscamps für die beiden Mädchen. Sie verlassen die Wohnung nur, um das Nötigste zu besorgen. Sarah berichtet ihrer Mutter am Telefon, dass sie Angst hat. In der Nacht klopfen Menschen an die verschlossene Tür und wollen sich Zutritt verschaffen. All dies wird der Kontaktperson der Deutschen Botschaft geschildert. Die Behörde geht nie auf Sarahs Situation ein und fordert eine standesamtliche Heiratsurkunde der Eltern. Es gibt ein Dokument der kirchlichen Hochzeit, eine eidesstattliche Erklärung der Eltern, Zeugenaussagen und Fotos der Hochzeit, auch das wird von der Botschaft nicht als Beleg der Ehe anerkannt. Das Fehlen eines Dokuments, das in ländlichen Regionen schlicht nicht ausgestellt wird, wird von der deutschen Behörde als Grund genannt, den Familiennachzug der unbegleiteten 8-Jährigen zu ihren Eltern zu verwehren. Obwohl ein DNA-Gutachten die Elternschaft belegt und Sarah sich in einer unzumutbar gefährlichen Situation befindet, geht es in dem Verfahren ohne dieses Ehe-Papier nicht voran.

Sarahs Vater kauft sich ein Flugticket. Von der äthiopischen Botschaft in Bonn erhält er die Auskunft, dass er ein Visum bekomme. Er fährt mit dem Zug von Halle nach Bonn, wird von der Botschaft aber abgewiesen. Die telefonische Auskunft war falsch. Mit dem Flugticket und ohne Visum steht er am Leipziger Flughafen und muss Sarah anrufen, um ihr zu erklären, dass er nicht in das Flugzeug steigen darf. Sarah ist nun davon überzeugt, dass ihre Eltern sie nie nachholen wollten und weint bei jedem Telefonat. Seit viereinhalb Jahren stehen die Eltern im Austausch mit den deutschen Behörden und versuchen ihre Tochter nach Deutschland zu holen.

Donnerstag, 11. Juni 2020, Auswärtiges Amt an Anwalt:

“(…) Aus diesem Grund wird in Visumverfahren eritreischer Antragsteller zum Nachweis einer rechtswirksamen Eheschließung regelmäßig auf der Vorlage eines durch das eritreische Außenministerium überbeglaubigten Auszugs aus dem eritreischen Eheregister bestanden (…). Es tut mir leid, dass ich Ihnen keine erfreulichere Rückmeldung hierzu geben kann. Ich hoffe, ich konnte Ihnen dennoch mit diesen Informationen behilflich sein.
(…) Mit freundlichen Grüßen (…)“

Dienstag, 6. Oktober 2020, Anwalt an Auswärtiges Amt:

„Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte Sie noch einmal mit aller Höflichkeit und Dringlichkeit an die untenstehenden Nachrichten erinnern. Seit mehr als zwei Monaten erfolgt keine Rückmeldung von Ihrer Behörde. Es wird nochmals darauf hingewiesen, dass die Antragstellerin erst 9 Jahre alt ist und sich alleine in Äthiopien befindet.
Mit freundlichen Grüßen (…)“

Sarah ist seit der Flucht vor über zwei Jahre allein mit dem älteren Mädchen in Addis Abeba, das auf die Familienzusammenführung zu ihren in Schweden lebenden Eltern wartet. Ein von Pro Asyl in Auftrag gegebenes Gutachten zeigt, dass es oft weder rechtlich noch praktisch möglich ist, die von der Deutschen Botschaft geforderten Dokumente zu beschaffen. Dennoch hat Deutschland das bislang verlangt – und fährt damit einen restriktiveren Kurs als andere europäische Staaten. Zwei Bundestagsabgeordnete wenden sich an das Auswärtiges Amt und weisen daraufhin, dass es mehrere Verwaltungsgerichtsurteile zu vergleichbaren Fällen gibt und Sarah zu ihren Eltern kommen dürfe.

Dienstag, 13. Oktober 2020, MdB an Auswärtiges Amt:

„(…§§§…) Die Ablehnung eines Antrags darf nicht ausschließlich mit dem Fehlen von Belegen begründet werden. (…)“

Mittwoch, 14. Oktober 2020, Auswärtiges Amt an MdB:

„Sehr geehrter Herr Abgeordneter, sehr geehrte Frau (…) Ein DNA- Testverfahren wurde in diesem besonderen Fall ausnahmsweise zur Beurteilung der biologischen Abstammung des Kindes von seinen Eltern herangezogen. Die Visastelle wird daher die Zustimmung der Ausländerbehörde Halle so schnell wie möglich einholen. (…)”

Trotz der Zusage, sich schnellstmöglich um den Fall zu kümmern, dauert es noch mehrere Wochen, bis die Zustimmung der Ausländerbehörde eingeholt wird.

Einen Monat später, am 12. November 2020, schreibt der Anwalt an die Dt. Botschaft in Addis Abeba und das Auswärtige Amt:

“(…) Nachdem Ihre Behörde offiziell dem Visumantrag zugestimmt hat, wurde auf die (bisher) fehlende Zustimmung der Ausländerbehörde Halle verwiesen. Diese teilte nun jedoch mit, dass eine erneute Anfrage seitens Ihrer Behörde nicht erfolgt ist. (…)”

In den Nachrichten wird über die Ausweitung des Bürgerkriegs berichtet. Inzwischen hat sich Sarah nach mehreren Wochen bei ihrer Mutter gemeldet. Sarah sagt, sie hätte Angst vor Überfällen, die in ihrem Umfeld stattfinden. Die beiden Mädchen schließen sich ein und verlassen das Zimmer nur, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Sarah berichtet wiederholt, dass Menschen nachts versuchen sich Zugang zu ihrem Zimmer zu verschaffen. Sie möchte von ihrer Mutter wissen, wie lang sie noch warten muss. Sie zweifelt, ob ihre Eltern sie überhaupt bei sich haben möchten. Für Sarah aber auch für ihre Eltern, die täglich mit ihr telefonieren stellt diese Situation eine unvorstellbare Belastung dar. Laut Auswärtigem Amt liege der Botschaft kein positiver Bescheid der Ausländerbehörde Halle vor. Es sei im Visasystem vielmehr deren Ablehnung vermerkt.

7. Dezember 2020, Ausländerbehörde Halle an Auswärtiges Amt:

„Sehr geehrte Frau (…), Frau В. bat mich Ihnen unsere Zustimmung zum Visum zu senden. (…)”

Tatsächlich erhält Sarah über das Handy ihrer Freundin von der Deutschen Botschaft eine Nachricht und wird beauftragt, ihre Eltern in Deutschland zu bitten, einen Termin in der Deutschen Botschaft zu buchen (I). Außerdem soll sie sich einen Pass von einem „anderen Büro“ ausstellen lassen und ihn in die Botschaft bringen. Sarahs Mutter kontaktiert eine Frau vor Ort, die mit Sarah dieses andere Büro aufsucht. Dort wird ihr jedoch mitgeteilt, dass aufgrund der Unruhen die Arbeit auf unbestimmte Zeit eingestellt wurde. Sarah sucht das Büro trotzdem zehn Tage in Folge auf. Beim Termin in der Deutschen Botschaft erhält sie einen Zettel, den sie dort im Büro vorzeigen soll. „Aber das hat nicht funktioniert.“, berichtet Sarah am Telefon. Bald schließen alle Behörden, es ist Weihnachten.

Dezember 2020, Sarahs 10. Geburtstag:

„Dear Mrs. B., Please be informed that we have no involvement in applicants’ cases once their files have been sent to the embassy. Please contact the German embassy to get information on how you can get the missing documents.
Best regards, Family Assistance Programme (FAP), International Organization for Migration ADDIS ABABA – Ethiopia,,

Sie wartet noch immer auf ihre äthiopischen Ausreisedokumente. In Halle werden dafür Vollmachten erstellt, zur Beglaubigung zum Notar geschickt, vom Landgericht überbeglaubigt, ins Amharische übersetzt und zur Beglaubigung zur Äthiopische Botschaft nach Berlin geschickt. Es ist nun Mitte Januar 2021. Die Vollmacht hatte die Ausreisebehörde in Äthiopien angefordert. Auf deren Website ist keine Email- oder Postadresse, lediglich eine Telefonnummer angegeben. Auf die schriftliche Anfrage bei der Äthiopischen Botschaft Berlin, ob sie die Vollmacht direkt der Behörde übermitteln können, antwortet diese:

„Please send us the right payment. It is 85.50 euro, so please send 5.40 euro also regards (…)
Second Secretary Embassy of the Federal Democratic Republic of Ethiopia Berlin.“

Auf der Website steht eine andere Bearbeitungsgebühr. Restbetrag überwiesen. Überweisungsbeleg übermittelt. Adressierter frankierter Rückumschlag. Antwort:

„Its ok. Thank you. I can try to get you the email of ARRA on Monday. Regards (Vorname) – Ähtiopische Botschaft Berlin“

Die Kontaktdaten der Ausreisebehörde in Äthiopien kamen auch auf Nachfrage nicht. Es dauert noch bis zum 2. Juli 2021 bis die 10-jährige Sarah allein am Frankfurter Flughafen ankommt. Fast ein Jahr nachdem die Deutsche Botschaft der Familienzusammenführung zugestimmt hat und sechs Jahre nachdem ihre Eltern den Familiennachzug beantragt hatten. Es gibt eine große Willkommensfeier. Sie wird ständig gedrückt, sie lacht, sie spielt mit Kindern. An einem der ersten Tage nach ihrer Ankunft läuft sie allein aus der Wohnung auf die Straße. Ihrer Mutter erzählt sie später, dass sie draußen andere Kinder zum Spielen gesucht hat.

Auf Wunsch des Schulamts wird sie, ohne je eine Schule besucht zu haben nach den Sommerferien direkt in die 4. Klasse eingeschult. Sie kann es kaum erwarten und freut sich wahnsinnig darauf. Bis September wird sie die Zeit wohl mit Eisessen überbrücken müssen! Mit ein bisschen Übung lässt sich Schwerkraft an einem heißen Tag bestimmt auch mit fünf Eiskugeln überlisten.

 

Nora Böhme

lebt in Halle und hat in einer Beratungsstelle für Geflüchtete und in der Stadtverwaltung gearbeitet. Derzeit berät sie Kommunen zu Bildung für nachhaltige Entwicklung.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.