aktiv(istisch) be_hindert!

eine be_hinderte perspektive auf aktivistische zusammenhänge

von | veröffentlicht am 05.05 2021

Beitragsbild: Patrick Haermeyer

Ableismus ist wirkmächtig. Ableismus tötet. Ableismus wird bekämpft! Heute am Protesttag für die Gleichstellung von be_hinderten Menschen und jeden Tag!
Der Text begibt sich aus einer be_hinderten Perspektive auf die Suche nach persönlichen Verinnerlichungs- und Widerstandsstrategien gegen Ableismus. Er ist ein Aufruf, Ableismus im Aktivismus zu thematisieren, Ableismus zu bekämpfen, be_hinderte Selbstorganisationen zu stärken und solidarisch mit der nicht-be_hinderten Dominanzgesellschaft den Normalzustand zu überwinden.




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Dieser Text ist meinen vier be_hinderten Geschwistern gewidmet, die am 28. April 2021 in Potsdam aufgrund von Ableismus getötet wurden. Ich werde euch in Erinnerung halten!

In Gedenken an Martina W. 1990-2021, Christian S. 1985-2021, Lucille H. 1978-2021, Andreas K. 1964-2021.

Ableismus ist ein Machtverhältnis, welches alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt und die Einstellungen sowie Haltungen Aller prägt. Bei Ableismus geht es um die Nicht-Erfüllung von Normalitätsanforderungen in Bezug auf bestimmte geistige und körperliche Fähigkeiten, die als „typisch menschlich“ und „natürlich gegeben“ angesehen werden. Ableismus existiert, ist wirkmächtig und geht mit unterschiedlichen Ein- sowie Ausschlüssen einher. Wie wir Be_hinderten[¹] durch die Gesellschaft be_hindert werden, ist vielfältig. Deswegen ist dieser Text explizit aus m_einer be_hinderten Perspektive geschrieben. Dass ich aktiv(istisch) be_hindert werde, wird aufgrund der teilweisen Unsichtbarkeit meiner Be_Hinderung vielen Personen erstmal nicht auffallen. Trotzdem ist Ableismus für mich Alltag. Ein Punkt, der die letzten Jahre für mich von besonderer Bedeutung in der eigenen verstärkten Auseinandersetzung mit Ableismus war, ist Be_Hinderung im politischen Aktivismus.

Ableismus im politischen Aktivismus

Aktivismus hat viele Formen, es gibt unterschiedliche Wege und Ziele. Oftmals finden Demonstrationen, Blockaden oder anderen Aktionen statt, bei denen wir linke Aktivist*innen uns immer wieder mit ähnlichen Fragen auseinandersetzen müssen: Welche Sicherheiten brauche ich dafür? Möchte ich mich Polizeigewalt aussetzen? Was passiert in der Gefangenensammelstelle mit mir? Was kann ich planen, was nicht? Für mich als be_hinderte Person stellen sich die Fragen in spezifischer Weise, andere be_hinderte Menschen sind teilweise von Beginn an von diesen spezifischen Formen des Aktivismus ausgeschlossen. Habe ich alle Medikamente dabei? Weiß meine Bezugsgruppe eigentlich über meine Be_Hinderung Bescheid? (Wann) sage ich ihnen etwas darüber? Wie gehe ich damit um, dass ich in bestimmten Situationen nicht auf mich vertrauen kann? Ab wann bin ich wohl der Andere, der Be_Hinderte, der ein Hindernis für die nicht-be_hindert dominierte Gruppe ist? Der, der gerade nicht rennen kann, obwohl es dringend notwendig wäre?

Die Corona-Pandemie verschärft meine Unsicherheiten und Fragen in Bezug auf Aktivismus: Gewaltbereite Querdenker_innen laufen ohne Maske herum, reißen anderen diese herunter und leugnen Corona. Aktivistischer Protest ist oftmals nur in direkter Konfrontation möglich, was mit erhöhtem Infektionsrisiko und realen Gefahren für mich verbunden ist. Doch sollte ich zuhause bleiben? Vermutlich nicht! Schließlich sind die Querdenker_innen in ihrem bürgerlichen, rechten Aktivismus und durch ihre sozialdarwinistische Einstellung (explizit) ableistisch. Corona-Leugner_innen ist mein Leben als be_hinderter Antifaschist reichlich egal. Corona-Leugner_innen nehmen Tote in Kauf.

Aktiv be_hindert werden ist für mich normal

Eigene Unsicherheiten sind für mich als be_hinderte Person sowohl vor als auch während Corona-Pandemie normal in linkem Aktivismus. Aktiv be_hindert werden ist für mich normal, denn ableistisches Verhalten führt mir gegenüber zu Unsicherheiten, Bevormundungen und Ausschlüsse. Ableismus ist Teil aktivistischer linker Zusammenhänge. Und nicht nur im Aktivismus bin ich mit Ableismus konfrontiert, sondern alltäglich. Denn ich lebe in einem ableistischen Normalzustand.

Dabei bin ich selbst Teil dieses Normalzustandes. Ich habe selbst den ableistischen Normalzustand verinnerlicht. Ich will immer normal sein, dazugehören zu einer wie auch immer aussehenden gesunden Norm. Ich will alles machen und können, was auch gesunde Menschen machen können. Ich will ja nicht darüber reden, wie meine Be_Hinderung mich 24 Stunden am Tag prägt und was es mit mir macht. Maximal will ich kurz die medizinischen Fakten zusammenfassen. Mehr interessiert die Menschen meistens eh nicht, denke ich. Meine Be_Hinderung, das ist meine private Sache: Ich denke, je weniger ich darüber rede, desto weniger Raum nimmt es ein, desto mehr gehöre ich zur Normalität dazu.

Ich würde gerne den kompletten letzten Absatz in der Vergangenheit schreiben, aber beim Schreiben fällt mir auf, dass das falsch wäre. Denn ich denke all das (manchmal) immer noch. Aber ich begreife langsam auch: Trotz dieser (un-)bewussten Versuche, nicht-be_hindert zu werden und dadurch scheinbar normal zu sein, bin ich nie normal gewesen und werde es nicht sein. Rückblickend verfolgt mich der schmale Grat zwischen solidarischer Unterstützung und Kontrolle, Mitleid sowie Bevormundung mein Leben lang. Ich habe keine klaren Antworten darauf, wie ich mit dem scheinbaren Anders-Sein umgehen will und wie ich will, dass meine Umgebung damit umgeht.

Der ableistische Normalzustand wird schon lange Zeit herausgefordert

Demgegenüber weiß ich, dass es die von mir angestrebte Normalität nicht gibt. Ich weiß, dass die scheinbare Normalität auf so vielen Ebenen gewalttätig ist und dass wir diese gemeinsam bekämpfen müssen. Ich weiß auch, dass diese scheinbare Normalität in verschiedenen Formen bekämpft wird. Der ableistische Normalzustand wird schon lange Zeit herausgefordert, wie z.B. durch die Krüppelbewegungen der 1970er Jahre. Dass ich meine Gedanken aufschreibe, dass ich Wörter – möglicherweise unkonkret und falsch – dafür finden kann, dass ich mich selbst besser verstehen kann, habe ich selbstorganisierten Be_hinderten-Bewegungen zu verdanken. Denn wir be_hinderten Aktivist*innen sind da! Wir sind Teil linker, linksradikaler, antikapitalistischer und emanzipatorischer Bewegungen. Wir haben unsere selbstorganisierten Bewegungen. Egal, ob ihr nicht-be_hinderten Aktivist*innen das wollt oder nicht. Egal, ob ihr uns seht oder nicht.

Ich würde die letzten Sätze gerne mutig und laut herausschreien. Aber ich bin unsicher beim Schreiben: Die Sätze konfrontieren mich mit meiner eigenen Individualisierung und meiner fehlenden Einbindung in be_hinderte Selbstorganisationsstrukturen. Sie konfrontieren mich mit meiner eigenen Zustimmung zum ableistischen Normalzustand. Sie konfrontieren mich mit meinen Unsicherheiten, über meine Be_Hinderung zu schreiben. Sie konfrontieren mich mit meiner Sorge, andere Be_Hinderungen unsichtbar zu machen. Und trotzdem machen sie mir auch Mut, meine eigene Individualisierung als be_hinderte Person überwinden zu können. Sie machen mir Mut, dass gesellschaftliche Veränderungen möglich sind. Sie machen mir Mut, weiterzumachen.

An meine be_hinderten, ver_rückten Geschwister: Danke, dass ihr da seid! Wir sind unterschiedlich. Unsere Sichtbarkeit, unsere Beeinträchtigungen und Diagnosen sind unterschiedlich. Wie wir von dieser Gesellschaft be_hindert werden, ist unterschiedlich. Wir sind unterschiedlich positioniert und unterschiedlich von verschiedenen weiteren Machtverhältnissen betroffen. Doch uns verbindet auch viel. Lasst uns zusammen schreiben, reden, schweigen, lernen, füreinander da sein, an die durch Ableismus ermordeten Menschen erinnern und gemeinsam kämpfen.

An meine nicht-be_hinderten Freund*innen und Genoss*innen: Danke, dass ihr da seid! Lasst uns das doch mal wieder ernster nehmen, vor Aktionen über Sorgen, Ängste und Erfahrungen zu reden. Überlegt euch, wo ihr für Bevormundung und Ausschlüsse von be_hinderten Personen verantwortlich seid und geht das aktiv(istisch) an. Redet mit euren be_hinderten Freud*innen – wenn sie mögen – über ihre Themen, nicht nur über die medizinischen Diagnosen oder Beeinträchtigungen. Auch wenn wir uns an diesem konkreten Punkt unterscheiden, verbindet uns darüber hinaus viel. Lasst uns zusammen schreiben, reden, schweigen, lernen, füreinander da sein, an die durch Ableismus ermordeten Menschen erinnern und gemeinsam kämpfen.

In dem Sinne:

Aktivistisch(en) Ableismus bekämpfen!
Selbstorganisierten be_hinderten Aktivismus stärken!
Kämpfe solidarisch verbinden!
Normalzustand überwinden!

 

[¹] Ich schreibe be_hindert mit einem Unterstrich, um zum einen den sozial hergestellten Charakter von Be_Hinderung sichtbar zu machen. Zum anderen möchte ich damit die implizite Wortbedeutung betonen, denn im Wort Be_Hinderung steckt der Begriff hindern/Hindernis. In dem Sinne ließe sich formulieren: ich bin nicht be_hindert, sondern ich werde be_hindert.

Autor*inneninfo

Flippa [er] ist in verschiedenen linken Kontexten und Gruppen aktiv. Flippa freut sich über Feedback, Kritik und insbesondere über Vernetzung:

Mehr Infos zum Thema:

Wenn du dich mehr mit Ableismus auseinander setzen willst, hier einige Buch-Tipps:

  • Ableismus von Tanja Kollodzieyski;
  • beHindert & verRückt: Worte_Gebärden_Bilder finden herausgegeben von Eliah Lüthi;
  • Dominanzkultur reloaded: Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen herausgegeben von Iman Attia, Swantje Köbsell und Nivedita Prasad;
  • I’m a queerfeminist cyborg, that’s okay von Mika Murstein.
  • Unverbindliche Twitter-Vorschläge: @RolliFraeulein @SchwarzRund @SchoeneAndrea @saytine @ _fl_Ash @outerspace_girl @QueerCripPain

 

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

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