„Behinderte Menschen müssen mehr eingebunden werden!“

Corona und der Alltag als Risikoperson

von | veröffentlicht am 09.04 2020

Wer gehört eigentlich zur Risikogruppe von Covid-19 und welche Konsequenzen ergeben sich daraus - das bleibt aktuell oft etwas oberflächlich. Neben alten Menschen und Menschen mit chronischen Krankheiten, zählen auch manche behinderte Menschen dazu. Die Herausforderungen im Alltag durch Covid-19 sind sehr unterschiedlich und zum Teil ziemlich drastisch. Im öffentlichen Diskurs scheint die Perspektive behinderter Menschen im Vergleich zu anderen jedoch deutlich unterrepräsentiert, auch wenn viele von ihnen zur Risikogruppe von Covid-19 gehören.

Für Menschen mit Behinderungen kann das Corona-Virus lebensgefährlich sein. Rebecca Maskos schrieb bei Edition F darüber, wie sie als Risikoperson versucht mit dieser Angst und der derzeitigen Isolation umzugehen. Darüber sprach die freie Journalistin und Wissenschaftlerin mit Radio Corax.




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Radio Corax (RCO): Unser Anlass des Gesprächs ist die Situation in der Coronapandemie, die ergriffenen Maßnahmen und wie es damit Menschen geht, die zur Risikogruppe gehören und mit Beeinträchtigungen leben.

Zunächst eine persönliche Frage: Viele Menschen haben Covid-19 lange unterschätzt und erst spät die Dimensionen und die Gefahren des Virus entdeckt. Wie hast du das erste mal von dem Virus erfahren und was war deine Haltung dazu?

Rebecca Maskos (RM): Ich hab das schon Ende Dezember verfolgt, als das in China losging. Lungenentzündung kann für mich schon übel ausgehen. Gleichzeitig waren am Anfang auch noch Entwarnungen da: „Das springt nicht auf den Menschen über.“ Und: „Bei SARS blieb es ja auch regional begrenzt.“ Aber dann ist es in China relativ schnell epidemisch geworden und da hab ich gedacht, das könnte auch locker hierhin kommen. Habe das dann im Januar bei meinem Hausarzt erwähnt. Der hat abgewunken und meinte, mal gucken, ob es überhaupt hierher kommt, und wenn es so sein sollte, dann müsste ich halt mal ein paar Wochen zuhause bleiben. Diese ganze Dimension, wie ansteckend das ist und wie das exponentielle Wachstum läuft und dass es keine Impfung, keine Medikamente gibt, ist mir auch alles erst nach und nach klar geworden.

RCO: Inwiefern gehören behinderte Menschen der Risikogruppe von Covid-19 an?

RM: Das kann man so allgemein nicht sagen, weil behinderte Menschen kein festes Kollektiv sind, sondern ganz unterschiedliche Menschen mit ganz unterschiedlichen körperlichen Verfassungen sind. Jemand, der eine Sehbehinderung oder eine Hörbehinderung hat, wird wahrscheinlich nicht zur Risikogruppe gehören, es sei denn, die Person hat noch andere chronische Beeinträchtigungen, hat ein geschwächtes Immunsystem, hat Lungenerkrankungen, COPD zum Beispiel. Es gibt viele Menschen mit Körperbehinderungen – also zum Beispiel Muskeldystrophie – die das Skelettsystem beeinflussen, Ich habe zum Beispiel Glasknochen und dadurch einen Rücken, der verkrümmt ist, wo die Lunge sich nicht so gut entfalten kann und wo ganz schnell eine Bronchitis zu einer Lungenentzündung werden kann. Eine Lungenkrankheit wie SARS Covid kann ganz schnell gefährlich werden. Das heißt nicht, dass man sich schneller ansteckt, aber das heißt, wenn man es bekommt, können die Folgen schwerwiegender sein. Letztlich muss man aber auch sagen, dass wir natürlich noch nicht alles wissen. Vielleicht wird es für viele Leute in der Risikogruppe auch ganz milde verlaufen. Das ist alles unkalkulierbar und deswegen wissen wir auch nicht, für wen das eigentlich besonders gefährlich ist.

RCO: Wie hat sich dein Alltag verändert?

RM: Mein Alltag hat sich eigentlich komplett verändert. Ich bin seit drei Wochen fast ausschließlich zuhause. Wobei ich dazu sagen muss, ich habe auch früher schon öfter zu Hause gearbeitet, weil ich gerade an einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit sitze, und das kann ich auch zuhause machen. Insofern ist da kein großer Einschnitt, wobei ich eigentlich lieber außerhalb des Hauses arbeite. Das geht nicht mehr. Ich mache mir sehr große Sorgen und deswegen vermeide ich eigentlich jeden Kontakt mit Menschen momentan. Das Risiko will ich einfach nicht eingehen, angesichts der Bilder, die man sieht.

Das hat mich schon ein bisschen aus der Bahn geworfen: Zum einen die Besorgnis, dass ich es bekommen könnte, zum anderen aber auch die Perspektive. Wenn irgendwann die meisten anderen Leute wieder raus können aus der freiwilligen Selbstisolation, dann wird das für mich noch lange nicht heißen, dass ich wieder unter Leute gehen kann. Ich muss eigentlich, wenn ich ganz sichergehen will, warten, bis es eine Impfung gibt.

Kann ich dann die ganze Zeit mit meinem Partner weiter zusammenwohnen? Momentan ist der mit mir in Isolation. Der geht auch nicht mehr einkaufen. Wir lassen uns von Freunden die Lebensmittel bringen. Aber wie lange geht das so? Ich könnte mir gut vorstellen, dass es irgendwann im Verlauf des Jahres Zeiten gibt, wo ich alleine in der Wohnung bin. Das ist natürlich für mich eine ziemlich deprimierende Aussicht.

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„Es gibt Empfehlungen von verschiedenen intensiv- und notfallmedizinischen Fachgesellschaften zur Triage. Da sind Kriterien im Spiel, wo auch darauf geguckt wird, ob denn die Person nach der Behandlung ohne medizinische Geräte selbstbestimmt leben kann. Da würden viele behinderte Menschen jetzt schon nicht drunter fallen.“

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RCO: Wie sichtbar ist denn die Perspektive von Risikogruppen deiner Meinung nach derzeit in der Öffentlichkeit und inwiefern spielt bei politischen Entscheidungen die Perspektive von Risikogruppen auch eine Rolle? Erkennst du irgendwelche Entwicklungen?

RM: Ja, da gibt es schon Entwicklung. Am Anfang war die gar nicht so wirklich präsent und es gibt auch immer noch viele Beiträge, bei denen nur von den „Alten und Schwachen“ die Rede ist. Was genau „die Schwachen“ sein sollen, bleibt schwammig. Ich finde das auch einen ganz seltsamen Begriff. Ich komme mir – wenn ich damit gemeint sein sollte – nicht schwach vor. Ich finde, dass diese Rede von den Alten und Schwachen verschleiernd ist. Die macht es auch einfach, sich davon nicht betroffen zu fühlen und das schön von sich weit weg zu halten. Es gab eine Kampagne von Leuten mit Behinderung, die öffentlich gezeigt haben: Wir haben Namen und Gesichter. Die haben diesen #Risikogruppe auf Twitter ins Leben gerufen. Und es gibt mittlerweile eine Facebookgruppe, in der sich Leute austauschen, und es gibt immer wieder Berichte in den Medien. Da sehe ich schon, dass es da eine Sichtbarkeit gibt.

Aber aktuell, wo man nicht weiß, wie lange die Krankenhäuser noch genug Ressourcen haben, um Menschen intensivmedizinisch zu behandeln, gehen neue Debatten los, bei denen die Perspektive von Menschen aus der Risikogruppe sehr wichtig wäre, aber nicht gehört wird. Es gibt Empfehlungen von verschiedenen intensiv- und notfallmedizinischen Fachgesellschaften zur Triage, also zu den Entscheidungsmöglichkeiten, wenn medizinische Ressourcen begrenzt sind und ausgewählt werden muss, bei wem eine Behandlung aussichtsreich ist. Da sind Kriterien im Spiel, wo auch darauf geschaut wird, ob denn die Person nach der Behandlung ohne medizinische Geräte selbstbestimmt leben kann. Da würden viele behinderte Menschen jetzt schon nicht drunter fallen. Es gibt viele Leute, die ein Atemgerät haben. Ich zum Beispiel habe auch nachts ein Atemgerät. Da würde ich dann in diese Kategorie fallen. Oder es wird gefragt, ob eine Person sich ohne Hilfe versorgen kann. Da fallen ganz viel Leute mit Behinderungen drunter. Es werden sehr abstrakte Kriterien angelegt und überhaupt nicht überlegt, wen das eigentlich betrifft. Und was heißt das denn? Dass ein Leben mit Geräten, was nicht im Sinne nichtbehinderter Selbstständigkeit läuft, aussichtslos sei?

Ich finde, es müssen Leute aus der Risikogruppe, behinderte Menschen, aber natürlich auch Vertreter von älteren Menschen, chronisch Kranken und so weiter beteiligt sein an diesen Debatten.

RCO: Während es etwa für Altenheime Schutzkonzepte gibt, werden Behinderteneinrichtungen im Moment überwiegend sich selbst überlassen. Wie würdest du bewerten, inwiefern bislang behinderte Menschen berücksichtigt wurden im Rahmen von Schutzkonzepten und von Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie?

RM: Gerade Menschen, die in Einrichtungen leben, wurden bisher nicht besonders berücksichtigt. Das liegt natürlich auch an der allgemein schlechten Ausstattung von Altenheimen und Wohneinrichtungen für behinderte Menschen. Die sind über lange Zeit runtergespart worden.

Was Einrichtungen für behinderte Menschen anbelangt, gibt es das Problem, dass vorgesehen ist, dass sie tagsüber in der Werkstatt sind und gar nicht in den Wohnheimen. Deswegen gibt es tagsüber auch gar nicht so viel Betreuung. Die sind jetzt halt alle in den Wohnheimen. Es wird dann geguckt, ob die Angehörigen da mithelfen.

Bei den momentanen Hilfsmaßnahmen wurden immer nur medizinische und pflegerische Einrichtungen beachtet, und darunter fallen dann eben auch Altenheime, und Behindertenwohnheime. Wohngruppen, WGs und so weiter fallen nicht unter den Pflegebereich, weil da in erster Linie Pädagogen unterwegs sind. Da muss man natürlich sagen, Pädagogen brauchen genauso Unterstützung.

Und behinderte Menschen brauchen vor allen Dingen Schutz. Es ist allgemein ein Problem in Gruppeneinrichtungen, dass die Leute sich nicht separieren können. Es ist der Behindertenhilfe inhärent, dass alles in Gruppen gemacht wird. Individualismus von Leuten mit Behinderung, die in solchen Betreuungsverhältnissen stehen, ist gar nicht vorgesehen. Die hätten zum Beispiel auch vorher schon gar nicht sagen können, ich will jetzt nicht in die Werkstatt gehen, das ist mir zu gefährlich. Die mussten in den Einrichtungen bleiben, in die Werkstätten gehen, so zumindest ist das regulär vorgesehen. Das sind versicherungsrechtliche Gründe und so weiter. Da zeigen sich ganz grundlegende Probleme, die es in der Behindertenhilfe gibt. Die werden jetzt durch Corona einfach offensichtlich.

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„Was ich gerade sehr, sehr wichtig finde, ist, dass behinderte Menschen in diese ethischen Debatten eingebunden werden um die Anwendung von Triage.“

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RCO: Du hast jetzt schon viel benannt, was es eigentlich noch bräuchte, um inklusiver zu denken. Gibt es noch weitere Maßnahmen oder Angebote, die dir fehlen, die jetzt wichtig wären, um behinderte Menschen besser mitzudenken und zu schützen?

RM: Was ich gerade sehr, sehr wichtig finde, ist, dass behinderte Menschen in diese ethischen Debatten eingebunden werden um die Anwendung von Triage. Ich vermute auch, dass in ein paar Wochen dann Debatten darüber kommen, wer jetzt raus darf und wer nicht. In anderen Ländern gibt es ja Überlegungen, dass die Risikogruppen monatelang drinbleiben müssen und der Rest schon wieder raus kann. Das wäre natürlich auch auf eine Art diskriminierend, wenn von oben verordnet wird: Du bist ein Mensch mit Behinderung, also hast du jetzt monatelang drin zu bleiben.

Und vielleicht noch eine letzte Sache, die mir noch einfällt. Es gibt sowieso ein ganz großes Problem, Personal zu finden für Assistenzen, weil die ein viel zu niedriges Gehalt bekommen. Das müsste jetzt akut aufgestockt werden, damit Assistenz attraktiver wird. Es gibt viele Assistententeams, die gerade wegen Covid-19 wegbrechen, und es gibt natürlich auch die ganz reale Gefahr, dass sich Leute durch Assistenz anstecken. Deswegen ist dieser ganze Bereich Assistenz wirklich schwierig, und eine bessere finanzielle Ausstattung wäre wirklich eine große akute Hilfe für viele Leute.

Der Artikel wurde vom Transit-Magazin redaktionell angepasst und basiert auf einem Interview, das Radio Corax am 31.03.20 geführt hat. Die Transkription besorgte Gudrun Kellermann. Beides kann hier nachgehört bzw. -gelesen werden.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.