Modėrn mo̍dern, zeitgenössisch faulen.

Eine Polemik über das Wort "modern" anlässlich des Bauhaus-Jubiläumsjahres

von | veröffentlicht am 10.04 2019

Beitragsbild: Corax

Die Karriere des Wortes „modern“ (Betonung auf 2. Silbe): fast ohne Vergleich. Es kursiert in allen Sphären. Jetzt ist ein Jubiläum ausgerufen. Oje.




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I – Das Wörtchen „modern“ hat sich ausgebreitet. 1880, im ersten Duden steht „mo|dėrn“ allein neben „mo̍|dern“ (dialektischer Zufall?). „Neu“ das eine, „faulen“ das andere. Das war’s. 2006, im Duden „modėrn“ ist eine Großfamilie geworden: „modern“ bedeutet nun der Mode und dem Zeitgeschmack gemäß, „Moderne“ die entsprechende Zeit, „modernisieren“ nimmt sich der zeitgemäßen Erneuerung an, „Modernisierer“ ist ihr Subjekt, „Modernisierung“ ihr Prozess usw. Aber wie wurde ein Attribut (!), das bloß die Ergänzung eines (zeitlichen) Verhältnisses ist, selbst zur Sache (!), zum Geschmack, ja zur Geisteshaltung und Selbstbeschreibung einer Epoche? Was ist der Sinn, aus „X ist neu“ die Aussage „Neuigkeit ist X’s ästhetischer Wert“ zu machen, „Neues“ als Handlung zu wollen, ja alles Denken und alle Handlungen mindestens eines Jahrhunderts darunter zu versammeln?

II – Im 19. Jahrhundert belustigte sich Engels über den Denker Alexander Jung, weil dieser aus Autoren, denen das Attribut „neu“ aber aus verschiedensten Gründen gegeben worden war, Wesensgleiches zimmerte. [1] Natürlich!“ seien absonderlichste Volten nötig, schreibt Engels, um an diesen ästhetisch, weltanschaulich und politisch gegensätzlichen Positionen das „Moderne“ zu identifizieren: Als ob das ’Moderne‘ jemals ’in den Begriff erhoben werden‘ könne!Jemals!? Engels hat sich getäuscht. Aus anderen Gründen. Jung drängte es nie nach theoretischer Klärung, er trat stattdessen mit dem praktischen Willen an, gärendes Politisches in fragloses Recht zu setzen. Dies sollte im deutschen Denker, immer schon auf Tuchfühlung mit dem Weltgeist, zur Anschauung kommen und so Legitimität und Dignität erheischen. Ernst Nolte, Provokateur des deutschen Historikerstreits in den 1980ern und Engels’ politischer Antipode, pflichtet bei: Der Begriff der Moderne sei lediglich „theorieförmig“ und fuße auf „impliziten Prämissen“ [2]. „Moderne“ – ein in Theorie gekleidetes, ganz untheoretisches Interesse … woran genau?

III – Dass sich der Wunsch nach dem Begriff „des“ Modernen durchsetzte, hat auch konkret mit dem 19. Jahrhundert zu tun. Das „Zeitgemäße“ war einerseits der Abgrenzungsbegriff zu den feudalen Verhältnissen, die mit bürgerlichen Revolutionen bzw. mit Industrialisierung überwunden wurden. Das erkämpfte Neue galt als „nüchtern“ und „entzaubert“, weil das gelebte Miteinander endlich durch weltliche, politische und ökonomische Selbstbestimmung und -verantwortung gestaltet sein wollte und sollte. Andererseits, dabei keineswegs notwendig: Diese neuen Verhältnisse blieben im Kern revolutionär, schon die Zeitgenossen sprachen von der andauernden „industriellen Revolution“. Denn Selbstbestimmung innerhalb der kapitalistischen Ökonomie machte sich vom Erfolg in der nun losgetretenen allumfassenden Konkurrenz um Rentabilität abhängig. Um fortwährend „den Anschluss nicht zu verpassen“, „in der Gegenwart“ anzukommen und „die Zukunft zu sichern“ waren sich gegeneinander veraltende technische Innovationen fällig, die im „freien Wettbewerb“ den Konkurrenten ausstachen.

Diese Innovation, am Goldmaß der technisch eingesparten Arbeitskraft bemessen, trieb nicht nur die konkurrierenden Privatkapitale und ihre abhängigen kleinen Löhner vor sich her, sondern ein großes soziales Milieu und gar das ’Schicksal‘ der modernisierten Standorte inkl. modernisierter Einwohner. – Das alles beschreibt die Geschichtsschreibung als „Moderne“, die hierzulande um 1840 einsetzte und bis heute voranschreitet, indem sie immerzu Übergänge und Zuspitzungen zeitigt, sei es „Post-“, „zweite Moderne“ oder „Industrialisierung 4.0“; zum einen. Zum anderen begann in dieser Zeit die (künstlerische) Öffentlichkeit, ihre neuen gesellschaftlichen Umstände auf erstaunliche Weise zu thematisieren: Moderne Literatur reflektiert das neue und sich immer wieder wandelnde Selbstbewußtsein der Menschen zwischen den Extremen der Autonomie und der völligen Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Umständen. Die Moderne wird als eine Krisensituation dargestellt, in der alle Traditionen und Sicherheiten verloren sind und der Mensch häufig unbehaust, im Exil, auf Wanderschaft, vereinsamt und entfremdet ist. Neben der Problematisierung des menschlichen Selbstverständnisses steht dabei die Infragestellung aller Wahrnehmungsformen im Vordergrund.[3].

Dieser Lexikoneintrag benennt eine Geisteshaltung, die die Zumutungen der modernen Verhältnisse ausspricht, es jedoch als Aufgabe versteht, sich dieser anzunehmen. Demnach seien die neuen Verhältnisse, in denen sich der Mensch nicht als Subjekt erfährt und ihnen ausgeliefert ist, ’seine‘ Verhältnisse. Gesetzt ist und zum Dogma wird, was sich zum modernen Menschenbild verdichtet: Mensch kann von seiner freien Gesellschaft nur Ausgeliefertsein erwarten, aber das sei nicht praktischer Gegensatz, maximal denkbare Ambivalenz, welche, wenn selbst dem hohen Geist uneinsichtig, nur und zuallererst „alle“ Wahrnehmung und das Urteilen blamiert. Weil nicht sein kann, was nicht sein soll? In die moderne Lebens- und Arbeitswelt geworfen ärgert sich der Mensch nicht, dass ihm diese keine Sicherheit bietet, dass sie zu endloser Qualifizierung zwingt, zum Umzug nötigt und familiäres Miteinander vereitelt; im Gegenteil, er freue sich über die Chance auf soziale Mobilität, Leistungbeweisenmüssen und lebenslanges Lernen. Modernes Denken: die kriecherische Haltung, sich als kleine abhängige Größe mit Opportunismus zu begnügen und zwar nicht als Notlösung, sondern aus Stolz und Selbstbewusstsein?

IV – Das moderne Diesseits entsprang bekanntlich weder dunklen noch wolkigen Quellen. Keine Könige und Kaiser mehr, aber ebensowenig sind unpersönliche „Institutionen“ und Gesetzbücher, diese sogenannte abstrakte Herrschaft naturgegeben. Sie ist eingerichtet und fassbar. Doch wo bleibt bei aller grundsätzlichen Kritik gegenüber dem Geist der den Verhältnissen sich Ausliefernden die Kritik an den Einrichtern und deren Raison? Komisch, erscheinen die politischen und ökonomischen Subjekte selbst als Abhängige ihrer (!) Verhältnisse, für deren Ermöglichung sie wieder gelobt werden? Affirmiert die Feier der Moderne ihre Verhältnisse?

V – Der moderne Geist ist von der Wohleingerichtetheit seiner ambivalenten Welt so überzeugt und versteht sie als historisches Gesetz und somit als notwendig Bestes, dass er dies nolens volens zu Maß und Norm seiner Weltschau macht: Andere Gesellschaft(sidee)en erscheinen in Entsprechung zur Moderne als Mangel an ihr oder als Verstoß gegen sie – allein weil sie sich im Kleinen und Großen mit ihrem Denken nicht auf sie von vornherein verpflichten, so der Faschismus und der Ostblock von anno dazumal: „Alle Versuche, die Widersprüchlichkeit … der Moderne zu überwinden, erscheinen als verzweifelte Bemühungen, das Leiden an der modernen Vielfalt … zu beseitigen, das Leben weniger komplex und widersprüchlich zu machen. … z.B. der Faschismus. Auch der Kommunismus …“ [3 u. vgl. 2]. So auch das Sein und Werden der „Entwicklungs“-Länder, die Politik des „vor-modernen“ Trumps, das Brexit-Projekt als Fall von „Vormoderne“, der „antimodernen“ Identitären [4].

VI – Selten ein Begriff so positiv und durchgesetzt. Selten ein Begriff, der, wenngleich das Gegenteil ausstrahlend, so dezidiert parteilich, begriffs- und kritikfeindlich.


[1] Friedrich Engels: „Alexander Jung, Vorlesungen über die moderne Literatur der Deutschen“. MEW Band 1, 1972, S. 433-445, hier S. 435.

[2] Ernst Nolte: „Modernisierungstheorien“ in: „Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe.“ Hg. von Stefan Jordan, 2007, S. 218-222, hier S. 218 f.

[3] „Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie.“ Hg. von Ansgar Nünning u.a., 2004, S. 647-469, hier S. 467.

[4] Alles neuere Artikel aus dem Internet.

Bauhaus und Gegenwart

100 Jahre Bauhaus – schon wieder ein Jubiläum. Dass eine Sache bereits 100 Jahre alt ist, sagt nichts darüber aus, ob diese Sache gut oder schlecht ist. Unsere Ausgabe macht deshalb klar: Das bloße Lob würde dem Bauhaus nicht gerecht werden. Es war selbst kontrovers, und innerhalb dieser Kontroverse versuchen die Beiträge der aktuellen Programmzeitung von Radio Corax Position zu beziehen.

Kurzfassung eines Beitrags zum „Moderne“-Abend, Diskussionsreihe „Beste aller Welten“, Literaturhaus Halle, 7.2.2019. Dazu ein Gespräch mit CORAX: lokal.radiocorax.de/was-ist-die-moderne/.

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