Cläre am Fenster

Fragment zu Frauen in der Revolution

von | veröffentlicht am 20.01 2020

Beitragsbild: Radio Corax

Ich lese die Erinnerungen von Cläre Jung: "Paradiesvögel". Die wenigsten kennen sie, wohl aber ihren Mann, Franz Jung, ein starker Revolutionär, der sich in einer Holzkiste in die Sowjetunion schiffen ließ, beinahe erstickend – aber wen interessierte die eigene Ohnmacht, denn ein starker Revolutionär ist auch bewusstlos noch in der Lage, eine Meuterei anzuzetteln.




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Nun lese ich die Erinnerungen von Cläre Jung, die sich aus ihrer kleinbürgerlichen Herkunft sprengt, aus Liebe zu armen Arbeiterinnen, die sich in expressionistischen Kreisen der 1910er herumtreibt, Gespräche belauscht zwischen raffinierten Künstlern und Intellektuellen, die ihren desertierten, der Kriegsneurose verfallenen Franz vor dem nächsten Frontruf bewahrt. Und dann kommt die Novemberrevolution. Cläre Jung ist zu Hause und bangt. Sie bangt um ihren Franz, der sich gerade um das Berliner Redaktionshaus des “Vorwärts” mit reaktionären Freikorps kloppt. Und Cläre steht hinterm Fenster und lauscht den dumpfen Geräuschen von Gewehr und Gebrüll und wartet, wartet auf Franz.

Ich möchte Cläre schütteln und ihr sagen, dass sie aufhören muss, an diesem Fenster zu stehen. Dass sie ein Gewehr nehmen muss: die Freikorps einfach abknallen, die auf den “Vorwärts” stieren. Dass sie all ihre Genossinnen zusammenrufen muss sie sich bewaffnen, die Revolution auch zu ihrer Revolution machen müssen – wenn Cläre es schon nicht für den Franz tun will, dann doch wenigstens für sich und für mich, denn wir wissen heute, dass die Revolution gelungen wäre, hätte man die Frauen daran teilhaben lassen, hätte man sie nicht aus den Arbeiterräten gedrängt, aus den Fabriken in die isolierte Hausarbeit zurück, hätte man sie nicht in bornierten Paarbeziehungen festgekettet und so von den Waffen ferngehalten.

In dem Moment, in dem ich Cläre Jung schütteln möchte, habe ich mich mit ihr verschwistert. Sich mit Geschichte zu befassen, ist persönlich und politisch in einem: Dieses Schüttelnwollen bedeutet, dass eine historische Figur mir nahe rückt, weil ich ihr näher rücke, und das hat etwas von einer menschlichen, weil historischen Gesellschaftlichkeit, wie sie die kapitalistische nicht kennt. Es ist ein Versuch, mich historisch und damit gesellschaftlich zu verorten.

Nun ist es natürlich faktisch nicht richtig, wenn ich behaupte, die Novemberrevolution wäre geglückt, wäre es auch eine der Frauen gewesen. Erstens, weil sie das doch auch war, denken wir an Luxemburg und Rabinowitz, an die unzähligen Krawallantinnen und Streikenden der Kriegsjahre; zweitens, fehlte es nicht nur den weiblichen, sondern auch den männlichen Proletariern an Selbstbewusstsein, um die Räte zu halten; und drittens drückte die staatliche Repression als objektive Übermacht alles nieder. Diese Behauptung ist aber auch nicht falsch, gesehen vom Standpunkt einer feministischen Kommunistin, die von der Vergangenheit etwas für die Zukunft fordert – die banale Einsicht, dass ohne die Frauen die Revolution nicht zu machen ist, denn Jung hätte die Freikorps womöglich tatsächlich überrumpeln können und der “Vorwärts” wäre womöglich tatsächlich nicht gefallen. So trägt das Bangen am Fenster der Cläre Jung etwas Unabgegoltenes und Unverarbeitetes, das auf zukünftige Verwirklichung drängt. Das ist nun ein Aspekt einer materialistischen Geschichtsauffassung, dass sie keine Sammlung toter Fakta ist. Es geht darum, dass ich von der Gegenwart aus mit historisch gewachsenen Begriffen an eine geschichtliche Bewegung herantrete und ihren Gehalt nachträglich ausmachen will. Das bedeutet nicht, in der Vielfalt der Begriffsmöglichkeiten unterzugehen, weil dem historischen Stoff nicht Beliebiges übergestülpt werden kann. Diese Geschichtsauffassung kritisiert aber auch einen vermeintlichen Objektivismus, der vertuscht, dass es immer ein Subjekt braucht, das Geschichte unter den spezifischen Bedingungen seiner Gegenwart betrachtet. Das ist ein konstruierendes Prinzip, mit dem ich Geschichte auffasse.

Einen bestimmten historischen Gehalt herauszustellen, bedeutet auch, Cläre Jung als Einzelne von dem Bangen am Fenster wegzuholen, sie in einem gesellschaftlichen Zusammenhang zu begreifen, in dem die Novemberrevolution nicht draußen bleibt. So lässt sich sagen: Was für den Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft im Allgemeinen gilt dass ihnen ihre Geschichte passiert, statt sie bewusst zu machen –, gilt für die Frau oft im Besonderen. Die patriarchalen Strukturen können sich als zäher und träger erweisen, als die Blockierungen der kapitalistischen Strukturen, mit denen das Patriarchat Hand in Hand ging. Das Patriarchat kann sich als so zäh erweisen, dass es selbst den revolutionären Moment überdauert. Der revolutionäre Moment aber will eigentlich das historisch Mögliche in die Wirklichkeit sprengen, das heißt, die Unterdrückung und Ausbeutung abschaffen.

Zur Autorin

Lilli ist organisiert in der translib Leipzig. Diesen Text schrieb sie für eine Ausgabe der Sendereihe “Wutpilger-Streifzüge”, die hier nachgehört werden kann:

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

Der Beitrag erschien erstmalig in der Radio Corax Programmzeitung Ausgabe Dezember 2019/ Januar 2020.