Zerstörte Idyllen und geschwätzige Diskurse
Ein Theaterstück über das Tunguska-Ereignis
von Hauke Heidenreich | veröffentlicht am 11.12 2022
Beitragsbild: Silvio Beck
Am 25. November feierte das sehr gelungene Stück „Tunguska – Eine transsibirische Theaterexpedition“ des Theaterensembles Aggregate unter der Regie von Silvio Beck im WUK Theater Premiere. Das so genannte Tunguska-Ereignis war eine rätselhafte Explosion am 30. Juni 1908 in Sibirien. Trotz mannigfaltiger wissenschaftlicher und literarischer Erklärungsversuche konnte bisher keine zweifelsfreie Ursache festgestellt werden. Im geradezu zwanghaften Begehren, die Vorgänge rational zu erklären, entsteht eine „Art zweite Katastrophe“, in der das historische Ereignis plötzlich Ausgangspunkt einer eigenen Welt von Erklärungen, Deutungsangeboten und Sinnsuchen wird.
Ein historisches Ereignis, dessen Rätselhaftigkeit neben vielfältigen wissenschaftlichen – oder sich wissenschaftlich gebenden – Erklärungen bereits für allerlei literarische Auseinandersetzung Stoff lieferte. Berühmte Science-Fiction-Autoren wie Stanislaw Lem, die Brüder Strugatzki oder Wolfgang Hohlbein und bahnbrechende Regisseure wie Andrei Tarkowski nahmen die Vorgänge am 30. Juni 1908 zum Anlass, über einen tieferen (oder eher: höheren) Sinn dessen zu spekulieren. An diesem Tag kam es in der sibirischen Taiga zu einer gewaltigen Explosion, 20.000 Quadratkilometer Gelände wurden verwüstet und ca. 60 Millionen Bäume zerstört.
Es ist dabei nicht nur die vermeintliche Idylle einer angeblich ursprünglichen Natur, die durch dieses Ereignis erschüttert wurde. Das Stück zeigt eindrücklich, dass historische Ereignisse letztlich immer unvorhergesehen passieren und daher auch immer die Utopie eines rational und moralisch zureichend erklärten Alltags erodieren. Empirisch verfahrende Wissenschaften dienen in einem solchen Idyll vor allem der Prüfung und sachdienlichen Bestätigung des Status Quo, dem Messen des Gewesenen und folglich der Vermeidung des Unvorhergesehenen. Genau diese Wissenschaften geraten infolge des Tunguska-Ereignisses in eine schwere Krise. Trotz vielfältiger Datenerhebungen konnte die Ursache der Explosion nicht enttarnt werden.
Die Entstehung einer Katastrophe
„Tunguska“ beginnt mit dem Auftritt der fünf Hauptfiguren als ein 5-köpfiger Sprecher*innenchor, der die Fakten des Ereignisses aufzählt und verschiedene Eindrücke von Zeitzeug*innen schildert, die versuchen, das Erlebte einzuordnen. Übereinstimmend werden Berichte erzählt, dass alles seinen Gang gegangen sei, als plötzlich etwas Unheimliches geschehen sei, etwas, das sich wie verrückte Zeit, wie plötzlich einsetzende Furcht anfühlte. Eine Mathelehrerin wird zitiert, die angab, dass sie während der Explosion plötzlich nicht mehr habe rechnen können und den Weltuntergang erwartet habe. Eine andere Stimme sprach gar von einem Vorgeschmack des Gottes des Zorns. Das „Beben, Zischen, Blitzen, Knallen“ des Ereignisses wird durch den Figurenchor ständig wiederholt.
Dem folgend berichtet der Chor von dem Mineralogen Leonid Kulik, der im Auftrag der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften in den 20er Jahren Expeditionen nach Tunguska leitete, um den Grund der Explosionen zu erforschen. Bis auf den heutigen Tag habe es insgesamt 39 weitere Expeditionen gegeben. Eindrücklich wird Kuliks Verzweiflung geschildert, als er im Epizentrum des Vorfalls keinen Krater, sondern nur verkohlte Bäume entdecken konnte, die seine Theorie eines Meteoriteneinschlags in starke Zweifel zogen. Kulik habe sich dann im Zweiten Weltkrieg mit Ende 50 noch an die Front gemeldet.
Die Handlung macht daraufhin einen Zeitsprung ins Heute und der Chor „verwandelt“ sich in ein fünfköpfiges Forschungsteam, das versucht, die Arbeit Kuliks erfolgreich abzuschließen. Das Team besucht die alte Hütte von Kulik und zeigt dabei das Verhalten von Tourist*innen, die sich gierig auf banale Tagebuchnotizen des sowjetischen Forschers stürzen und als sensationell wahrnehmen; eine beiläufige Hommage an den Film Schtonk! von Helmut Dietl, in dem die von Götz George, Ulrich Mühe und Harald Juhnke gespielten Pressevertreter die Hitlertagebücher für große Sensation halten, selbst wenn der vermeintliche „Führer“ nur seine Verdauungsprobleme beschreibt. Die Wissenschaft versichert sich hier stolz der Monumentalität und Bedeutsamkeit ihrer eigenen Geschichte, bevor sie mit der empirischen Feldforschung beginnt. Eine Art methodischer Ahnenbeschwörung, um mithilfe der Autorität der Vorgänger die nun folgende Empirie auf den richtigen Gegenstand einzuordnen und das Rätsel zu lösen. Doch recht schnell macht sich im Team Ernüchterung breit: „Wir haben ein gigantisches Ereignis, aber kein Drama“, wie eine der Figuren resigniert feststellt. Man müsse die alltäglichen Geschichten nun hinter sich lassen. Die fünf Forscher*innen mühen sich ab, mit immer ausgefeilteren Messmethoden und abstruseren Theorien die Wahrheit zu erkennen. Eindrücklich heben die Schauspieler*innen Astrid Kohlhoff, Maria Steurich, Jörg Petzold, Jan Uplegger und David Jeker diesen allmählichen Übergang von der faktengestützten Empirie zur haltlosen Spekulation hervor, die sich aber nach wie vor auf dem Boden der Empirie wähnt: ein Ufo müsse abgestürzt, eine Atombombe explodiert sein.
Doch 1908 gab es noch keine Atombombe und zu einem abgestürzten extraterrestrischen Gegenstand fehlt der Krater. Immer wieder mischen sich Fakten ein, die die Wissenschaftler*innen zwingen, auch die hochtrabendste evidenzbasierte These zu Fall zu bringen. Es wird spekuliert, ob ein von dem Physiker Nikola Tesla entworfener Apparat zum Einwerben wissenschaftlicher Fördermittel versehentlich in Sibirien abgestürzt sei und dort die Explosion verursacht habe. Tesla hatte übrigens um 1900 die These aufgestellt, „dass nur ein mit absoluter Blindheit Geschlagener die Erde für den einzigen von intelligenten Wesen bewohnten Planeten halten kann“ [Psychische Studien 28 (1901), Heft 2, S. 120 f.]. Es kommt im Strudel der Versuche der Wissenschaftler*innen, sich gegenseitig in Allerklärungsansätzen zu überbieten, zu dem, was der Semiotiker und Autor Umberto Eco in seinem Roman „Das Foucaultsche Pendel“ mal die „Psychose der Analogien“ genannt hat: plötzlich muss alles mit allem zusammenhängen und diesem Drang wird die konkrete Logik untergeordnet. Um absurde Theorien zum Schweigen zu bringen, werden im Namen der Empirie noch abwegigere vorgeführt, der Glaube an eine hängt mit dem Verwerfen der anderen zusammen. Einmal beschwören die fünf Figuren sogar ein Weiterforschen, indem sie sich in neoliberaler Manier die Rätselhaftigkeit des Ereignisses nicht mehr als echtes Problem, sondern nur noch als zu bewältigende Herausforderung verkaufen, die mit dem jetzigen Stand der Wissenschaft bei noch genaueren Messergebnissen lösbar sei. Wissenschaft, die sich nützlich machen muss. Perfekt inszeniert das Stück das heutige neoliberale Verständnis von Wissenschaft und Kunst, die ihren Wert in der Verwertbarkeit erweisen müssen.
Dabei hängt in dem Requisit, das das Basislager der fünf Wissenschaftler*innen in der Hütte Kuliks darstellt, die ganze Zeit eine vertikal ausgerichtete Neonröhre, die das sprichwörtlich penetrante Licht liefert, mit der die Wissenschaft versucht, in die Geheimnisse dessen einzudringen, was sie für die Natur hält.
Den Höhepunkt bildet die Szene, in der eine der Figuren sich auf das Paradox von Schrödingers Katze beruft, um das Ereignis zu erklären: solange man nicht in den Kasten guckt, in dem die Katze sitzt, könnte sie gleichzeitig tot und lebendig, also das Ereignis geschehen oder nicht eingetreten sein. Die Szene endet mit einer Kakophonie elektronischer und metallischer Geräusche, in der alles gleichzeitig und folglich nichts mehr gesagt wird. Am Ende hilft den Figuren nur noch das Eingeständnis, dass es „Kompost statt Theorie“ brauche und man am liebsten in die Natur selbst eintauchen würde, um die Geheimnisse zu lösen. Doch vor dem auch gerade in neurechten Kreisen äußerst geläufigen Topos des „Zurück zur Natur“ retten sich die Wissenschafler*innen, indem sie schweren Herzens zugeben müssen, dass dieser Weg versperrt ist. Das Stück endet nach der Darbietung von Eichendorffs „Abschied vom Walde“ in plötzlicher Dunkelheit.
Faktizität und Deutung
Die Produktion der Katastrophe, wie es die Literaturwissenschaftlerin Solvejg Nitzke genannt hat, beginnt bereits in der Wahrnehmung des Ereignisses. Ein Ereignis ist immer erst dann Katastrophe, wenn es so artikuliert wird. Apokalyptische Szenarien werden beschworen, das Ende der Mathematik, das Ende der Welt und das Wirken eines außerweltlichen Gottes. Das große „Jetzt ist es aus“ ist paradoxerweise der Beginn einer Flut von Geschichten, Narrativen und Erzählungen wissenschaftlicher, pseudowissenschaftlicher oder literarischer Couleur zur Beschreibung des Ereignisses. Das Verschwinden des Ereignisses unter seiner Erzählung ist, so könnte man sagen, die notwendige Vorbedingung zu seiner Deutung, der Entstehung eines Diskurses. Einem, in dem das Ereignis selbst eingebettet, in dem sein Auftauchen immer wieder neu inszeniert werden muss, um sich den Denkkategorien der Wissenschaft oder der Literatur unterordnen zu lassen. Das Ereignis ist keine für sich stehende Erscheinung, sondern immer der Effekt eines Diskurses zu seiner Deutung. Dies zeigt sich daran, dass empirische Betrachtung in der Inszenierung eben weit davon entfernt ist, eine unbefangene oder ideologiefreie, bloße Wiedergabe des Ereignisses zu sein. Im Gegenteil: je genauer die Wissenschaftler*innen im Stück die empirischen Daten erheben, desto weiter rückt das Ereignis selbst in die Ferne und entzieht sich jeder empirischen Greifbarkeit. Der Positivismus versagt an seiner eigenen Voraussetzung. Die Wissenschaft sammelt, ordnet und wertet aus, doch sie sieht oder versteht nichts. Um das Ereignis in seiner Ursprünglichkeit durchscheinen zu lassen, müsste die Wissenschaft die einzige Methode wählen, zu der sie unfähig ist und die ihr selbst völlig fremd ist: Schweigen.
Die Negation des faktischen Ereignisses in dem Verweis auf Schrödingers Katze (das Ereignis kann geschehen oder nicht geschehen sein) ist insofern nur das konsequente Zu-sich-selbst-Führen dieser Gemengelage, in der die Ursprünglichkeit des Ereignisses selbst durch genaueste Beobachtung nicht wiederhergestellt werden kann. Es bleibt verschwunden und gerade die immer grotesker werdende Suche nach dem ursprünglichen und wahren Ereignis vergräbt es nur noch tiefer.
Die Geschwätzigkeit des Diskurses
Am Anfang war die Zerstreuung. Es gibt kein souveränes, vor aller Diskussion für sich stehendes Ereignis, das in der Geschichte verweilt und das man sich unbefangen angucken kann. Im Moment seines „Aufblitzens“ (Michel Foucault) wird das Unvorhergesehene bereits gedeutet und in den Bedeutungskanon der Gegenwart eingeordnet. Doch diese Einordnung hat ihre Grenzen. Immer wieder tauchen Fakten, also Spuren des verschwundenen Ereignisses, auf, die den Kanon herausfordern und den Gesamtzusammenhang infrage zu stellen drohen, sich ihm nicht unterordnen lassen. Doch statt den Kanon an sich in Zweifel zu ziehen, also eine wissenschaftliche Revolution zu vertreten, werden die Spuren erneut vermessen, katalogisiert und in einen Kanon gezwängt. Damit meinen die Protagonist*innen, den Kanon gerettet zu haben. Doch die Fakten „spuken“ sozusagen im Inneren des Kanons weiter und zeigen immer wieder die Unzulänglichkeit aller Erklärversuche, die meinen, die Welt vermessen zu können.
Diese letztliche Unmöglichkeit der abschließenden Erklärung und das ständige Veto des weiterspukenden Ereignisses erzeugt ein Stimmengewirr, in dem jede Deutung versucht, die Oberhand zu gewinnen. Eine gewisse oberflächliche Einigkeit scheint noch in der Präsentation der Fakten zu bestehen, der Chor spricht anfangs mit einer Stimme. Doch in dem Vorhandensein des Chors zeigt sich bereits, dass diese eine Stimme aus fünf Stimmen zusammengesetzt ist, die nicht immer synchron sind und sich schon in der vermeintlichen Darstellung des bloß Objektiven gegenseitig zu unterbrechen drohen. Das Stimmengewirr, das dann die Deutungsversuche begleiten wird, deutet sich schon in der bloßen Nennung des faktischen Rahmens an.
Im Stück „Explosion“ der Band Tocotronic heißt es an zentraler Stelle, wenn das Lied sich passend dazu zur Gitarrenmauer verdichtet:
Kannst du vor deinen Augen
Die Explosionen sehen?
Ein Feuerwerk in der Nacht
Kannst du in den Pfützen
Die Wolkenfetzen sehen?
Spiegel in der Innenstadt
Kannst du in den Bäumen
Die Tonbandfetzen sehen?
Wer hat sie dorthin gebracht?
Alles gehört dir
Eine Welt aus Papier
Alles explodiert
Kein Wille triumphiert
Der Ort der Wahrheit ist nicht das vorläufige Messergebnis, das nur noch weitere Fragen aufwirft, sondern die Kakophonie, das völlige weiße Rauschen, also das Ende des konkreten Diskurses, der Ort, an dem eben kein Wille triumphiert. Im Lauf der Feldforschung wird aus der Analyse konkreter Maßeinheiten eine „Psychose der Analogien“, in der alles mit allem zusammenhängt. Das Ereignis selbst taucht hier nur als Nebeneffekt eines umfassenden wissenschaftlichen Diskurses auf, der mit seiner geschäftigen Geschwätzigkeit alles zum Schweigen bringt. Das Vorkommnis wird zum spukenden Gespinst. Doch diese Geschwätzigkeit bringt auch ungewollt den Ort hervor, an dem das Ereignis immer wieder neu Gegenstand von Forschung, Literatur und Kunst werden kann. Denn die Stimmen werden irgendwann so laut, dass sie nicht mehr unterschieden werden können. So entsteht auch die Möglichkeit eines erneuten differenzierten Sprechens, das eine neue Stimme gegen das Rauschen erhebt. Die Figuren im Stück sind keine Querdenker*innen. Sie erkennen immer wieder selbst die Absurdität neuer Theorien und Methoden und verzweifeln daran. Das Wissen darum, dass ihre Experimente alles erklären wollen, aber nicht können, treibt ihre Arbeit an, anstatt sich in querdenkender Selbstgefälligkeit einzureden, mit einer abstrusen Theorie alles bereits erklärt zu haben; oder sich einem pragmatischen liberal-wissenschaftlichen Agnostizismus hinzugeben, der die letzten Probleme einfach ad acta legt. Gerade das neoliberale Wachstumsmantra, die Suche nach der Nützlichkeit, treibt die empirischen Ergebnisse schließlich in die vollendete Nutzlosigkeit.
Denn das eigentliche Thema von „Tunguska“ ist die Suche nach Wahrheit. Sie taucht in der Inszenierung als absurd, komisch, tragisch oder faul auf, doch letztlich immer wieder als Antrieb zu einer Tätigkeit, die sich dem Nützlichkeitsdiskurs entzieht. Nicht die letztgültige Kategorisierung des Ereignisses zum Nutzen seiner Verwertung ist jetzt gefragt, sondern es ist der Diskurs selbst, der „Wert“ erhält. Die Wahrheit an sich lässt sich immer wieder in die Verwertungslogik integrieren, doch die Suche nach ihr lässt sich nicht auf diese Weise kontrollieren. Denn die Suche nach Wahrheit produziert Absurditäten und Vorläufigkeiten, die der neoliberalen Nützlichkeitskontrolle oder der querdenkenden Selbstgefälligkeit zuwiderlaufen. Immer wieder zwingt der Anspruch auf Suche nach Wahrheit die Figuren dazu, selbst ihre aufwändigsten Konstruktionen über den Haufen zu werfen und sich erneut in das Stimmengewirr zu begeben.
Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.