Gegenöffentlichkeit oder dritte Säule?

Über Anspruch und Wirklichkeit der Praxis freier Radios

von | veröffentlicht am 10.10 2019

Freie Radios bezeichnen sich deshalb als „frei“, weil sie es sich herausnehmen, eigene Inhalte zu setzen. Ihre Arbeit und Berichterstattung ist nicht von Quoten, privatwirtschaftlichen Interessen oder einer Repräsentation des Meinungsspektrums bestimmt – sondern nur von den Redaktionsstatuten, die sie sich selber geben. Sie sind kollektiv organisiert, nichtkommerziell ausgerichtet und haben einen gesellschaftskritischen Anspruch – in diesem Sinne sind sie nicht „neutral“, sondern parteiisch und legen dies offen.




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In vielen Redaktionsstatuten von freien Radios wird der eigene Anspruch mit dem Begriff der „Gegenöffentlichkeit“ zusammengefasst. Doch es scheint, als kommt dieser Begriff aus einer anderen Zeit. Es fällt schwer zu bestimmen, was er konkret meint. Angesichts sozialer Medien und Web 2.0 ist es fraglich geworden, ob der Anspruch der Gegenöffentlichkeit noch aktuell ist. Potentiell jeder und jede kann doch eine Öffentlichkeit im Internet herstellen, es ist faktisch niemand mehr von der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Auf der anderen Seite lässt sich beobachten, dass reaktionäre Ideologien, Ressentiments und Fake News sich auch und gerade im Internet verbreiten. „Öffentlichkeit für Alle“ ist offensichtlich nicht identisch mit Aufklärung und Emanzipation. Aus diesem Grund kommt der Begriff der Gegenöffentlichkeit wieder in die Debatte – so etwa bei der Eröffnungsveranstaltung des Kongresses des Bundesverbands der freien Radios im letzten Jahr in Chemnitz.

Der Begriff der Gegenöffentlichkeit ist im Laufe der 70er-Jahre entstanden – im Zuge der „Neuen Sozialen Bewegungen“, aus deren Reihen heraus auch die ersten freien Radios gegründet wurden. Als Konzept war es bereits Teil der Protestbewegung der 60er-Jahre: Die provokanten Aktionen der „Subversiven Aktion“ setzten sich intensiv mit Mechanismen der herrschenden Öffentlichkeit auseinander und versuchten diese zu stören und zu irritieren. Die Springer-Kampagne des SDS im Jahr 1968 bemühte sich um eine Analyse der Ökonomie der Öffentlichkeit und versuchte eigene Formen der Öffentlichkeit zu etablieren.

Ähnlich wie die „68er“ erfuhren auch die Akteure der Neuen Sozialen Bewegungen, dass ihre Inhalte und ihre Kritik keine oder nur eine untergeordnete Position in der etablierten Öffentlichkeit fanden. Sie schufen sich eigene Medien, die dem Bedürfnis der Kommunikation und der Gegeninformation besser entsprechen sollten. Es entstanden zahlreiche Zeitschriften, Fanzines, Archive, Film- und Radiokollektive. Die Entstehung der freien Radios ist eng verbunden mit den Anti-AKW-Protesten. So kamen beispielsweise im Zuge der Proteste im Wendland immer wieder illegale Piratenradios zum Einsatz. Auf eigene Organe der Öffentlichkeit zurückgreifen zu können wurde noch einmal notwendiger, als im Zuge des „deutschen Herbstes“ eine Welle der Repression einsetzte, die auch das Klima der Öffentlichkeit bestimmte, in der jede unangepasste linke Opposition mit dem Vorwurf des Terrorismus konfrontiert wurde. Auch die Opposition in der DDR war auf Medien der Gegenöffentlichkeit angewiesen – hier waren Rundfunk und Presse staatlich kontrolliert. U.a. aus der linken und antifaschistischen Opposition in der DDR gingen illegale Zeitschriften und Piratenradios hervor, von denen viele auch nach der „Wende“ Bestand hatten. Dass nach dem Zusammenbruch der DDR Meinungsfreiheit galt, bedeutete nicht, dass diese Medien überflüssig wurden. Sie mussten sich im Zuge der Systemtransformation behaupten und waren mit neuen Problemen konfrontiert.

Im Zusammenhang der freien Radios war der Begriff der Gegenöffentlichkeit auch mit Konflikten verbunden. Ähnlich wie in der Hausbesetzerszene bildeten sich in den 80er-Jahren ein „illegaler“ und ein Legalisierungs-Flügel heraus. Die Ursprünge der Praxis freier Radios waren zwangsläufig illegal. Die Radio-AktivistInnen erfuhren, wie stark der Zugang zu Radiofrequenzen reglementiert ist – im „dualen System“ des Rundfunks in Deutschland waren freie Radio-Initiativen nicht vorgesehen. Wer es trotzdem wagte, sich die Technik besorgte, um eigenmächtig auf Sendung zu gehen, hatte zum Teil mit hohen Strafen zu rechnen. Freie Radios stellten also auch insofern eine Gegenöffentlichkeit her, als dass sie damit gegen geltendes Recht verstießen. Ab den 80er-Jahren und vermehrt Anfang der 90er-Jahre bemühten sich freie Radio-Initiativen um eine Legalisierung ihres Sendebetriebs und begannen damit, Einfluss auf eine entsprechende Gesetzgebung zu nehmen. Dies war keineswegs unumstritten. GegnerInnen der Legalisierungs-Strategie – insbesondere aus dem autonomen Spektrum – warnten davor, dass die Legalisierung eine Anpassung an das bestehende System bedeuten und der Kritik der radikale Stachel genommen werden könnte. Sie verfolgten ihrerseits oft die Strategie, das Radio nur kurzfristig als Instrument einzusetzen – verbunden mit konkreten Aktionen, gebunden an konkrete Inhalte. Sie standen einem dauerhaften Sendebetrieb kritisch gegenüber, da dieser Strukturen erfordere, die zum Selbstzweck werden oder eine Eigenmacht gegenüber der Bewegung bekommen könnten.

Im Jahr 1993 haben mehrere freie Radio-Initiativen den „Bundesverband Freier Radios“ (BFR) gegründet. Er hat sich die Legalisierung freier Radios zum Ziel gesetzt. Er vertritt die freien Radios gegenüber den Landesmedienanstalten, versucht im Sinne der freien Radios Einfluss auf die jeweilige Landesmediengesetzgebung zu nehmen und unterstützt neue Radio-Initiativen bei ihrer Gründung. Im Grunde ist der BFR der Zusammenschluss des Legalisierungs-Flügels. Und er kann behaupten, in seiner Strategie Recht behalten zu haben: Die Legalisierungsbemühungen waren erfolgreich und diejenigen Initiativen, die sich zu diesem Weg entschieden hatten, haben noch heute Bestand. Die Praxis des Piratenradios ist hingegen weitestgehend als eine relevante Aktionsform verschwunden (was nicht heißt, dass es sie gar nicht gibt).

Aber haben nicht doch auch die „Illegalen“ Recht behalten? Einen dauerhaften Radio-Betrieb aufrecht zu erhalten bedeutet beispielsweise, auf Fördermittel angewiesen zu sein, was einen „sanften“ Anpassungsdruck impliziert – dies macht sich auch darin bemerkbar, dass im Zuge einer gewissen Professionalisierung und Institutionalisierung oftmals ein radikaler und wilder Geist der Anfangszeit merklos verloren gegangen ist. Freie Radios legen Wert darauf, partei-unabhängig zu sein – und sie müssen sich doch mit PolitikerInnen auf städtischer und Landesebene gut stellen. Statt sich als fundamentale Opposition zu verstehen, wollen freie Radios heute „die dritte Säule“ des dualen Systems sein. Statt Gegenöffentlichkeit zu sein, will man die bestehende Öffentlichkeit um eine Säule ergänzen. Die Landesmedienanstalten wachen darüber, dass dieser konstruktive Beitrag auch im Rahmen des Legalen bleibt. Subversion adieu?

Um ihre Strukturen dauerhaft sichern zu können, müssen freie Radios Personal ausbilden und finanziell absichern – sind dies nicht tatsächlich Faktoren, die Interessen entstehen lassen, die sich gegenüber der Bewegung, aus der die freien Radios einmal hervorgingen, verselbständigen (können)? Freie Radios bilden – obwohl sie in der Regel von einem Verein getragen werden – oft Strukturen heraus, die mit denen eines mittelständigen Unternehmens vergleichbar sind. Es sind Strukturen, in denen Ehrenamt und bezahlte Arbeit ineinander übergehen, die oft nur mit enormer Selbstausbeutung aufrecht erhalten werden können und die enorm konfliktanfällig sind. Und dennoch: Gäbe es sie nicht, würden die freien Radios einer linksradikalen Bewegung als enorm wichtiges Kommunikationsmittel fehlen. Anders, als oben beschrieben, erscheint die Organisation freier Radios im gegenwärtigen historischen Stand nicht möglich – es ist sinnvoll die bestehenden Möglichkeiten auszunutzen.

Die oben geschilderte Entwicklung mag ein Grund sein, warum dieser Begriff in den Debatten freier Radio-Zusammenhänge seltener geworden ist, er selten mit konkreten Inhalten gefüllt wird oder seltsam unzeitgemäß erscheint. Freie Radios und radikale Linke sollten sich Debatten aus den 60er- und 70er-Jahren vergegenwärtigen. Sie können vielleicht dabei helfen, die Frage zu beantworten, ob es heute immer noch sinnvoll ist, am Anspruch der Gegenöffentlichkeit festzuhalten.

Bürgerliche MedientheoretikerInnen argumentieren, dass eine Gegenöffentlichkeit dort besteht und legitim ist, wo Öffentlichkeit von einem Machtblock monopolisiert wird und andere Formen der Öffentlichkeit ausgeschlossen sind (wie es etwa in der DDR der Fall war). Existiert kein derartig ausschließendes Monopol über die Öffentlichkeit, ist auch eine Gegenöffentlichkeit obsolet. Und dies soll heute der Fall sein: Wir haben eine pluralistische Öffentlichkeit und außerdem das Internet. Diese Argumentation ist formal richtig. Aber sie ist auch eine formalistische Argumentation, die vom Inhalt der jeweiligen Öffentlichkeit(en) absieht. Wer den Anspruch der Gegenöffentlichkeit formuliert, muss inhaltlich bestimmen, wogegen sie sich richtet. Wer gegen Herrschaft, Ausbeutung, patriarchale Strukturen, Unterordnung gesellschaftlicher Bedürfnisse unter die Ansprüche der Kapitalakkumulation, das globale Nord-Süd-Gefälle und Staatenkonkurrenz ist, und begründen kann, dass diese Erscheinungen keine Zufälle, sondern wesenhafte Eigenschaften der bestehenden Gesellschaftsordnung sind – dessen Kritik ist in der etablierten Öffentlichkeit marginalisiert. Die wirksame und wahrnehmbare Artikulation solcher Inhalte bedeutet, Gegenöffentlichkeit herzustellen.

Oskar Negt und Alexander Kluge sprechen in ihrem 1973 erschienenen Buch „Erfahrung und Öffentlichkeit“ von „proletarischer Öffentlichkeit“ – ein Begriff, der analog zu dem der Gegenöffentlichkeit verstanden werden kann. Sie schreiben darin:


„Das Adjektiv ‚proletarisch‘ leiten wir nicht von einem Substanzbegriff oder einem historischen Bild des Industrieproletariats ab. Das Adjektiv ‚proletarisch‘ bezeichnet in unserem Buch eine Summe von Eigenschaften. Sie entstehen durch oder anlässlich geschichtlicher Enteignungsprozesse, die insbesondere mit jeder Industrialisierung verbunden sind und permanent mit jedem neuen der großen industriellen Schübe neu entstehen. In den Menschen, vor allem auch in der in ihnen arbeitenden subjektiven Welt, entstehen erfahrungsgemäß Antworten auf die vorangegangenen Enteignungen. Es bilden sich Auswege, neue Fähigkeiten zur Autonomie. Diese Antworten nennen wir im Zusammenhang mit der Herstellung von Öffentlichkeit ‚proletarisch‘.“

Diese Bestimmung von proletarischer Öffentlichkeit ist immer noch aktuell, wenn man den Begriff des Proletariats nicht im Bild vom männlichen Fabrikarbeiter in Blauhose fixiert, sondern als einen Prozess der Enteignung versteht, der u.a. die gesellschaftlichen Sphären von Produktion, Reproduktion, geschlechtlicher Arbeitsteilung, Verfügbarkeit über Zeit, urbanem Leben, Ideologieproduktion und die Artikulation von Bedürfnissen sowie die damit verbundenen Konflikte umfasst. Die Artikulation der Erfahrungen von Enteignung und der systematischen Beschränkung von Bedürfnissen, die immer wieder neu notwendig wird, ist in den etablierten Medien verstellt – es bedarf zu dieser Artikulation der Herstellung einer Gegenöffentlichkeit.

Helke Sander hat in ihrem Film „Brecht die Macht der Manipulateure“, der die Springer-Kampagne des SDS begleitete, darauf hingewiesen, dass Gegenöffentlichkeit nicht ohne eine gesellschaftsverändernde Praxis denkbar ist:

„Wir haben gelernt, dass die Umwandlung von Springers Eigenkapital in gemeinnütziges Kapital, die Umwandlung seiner Zeitungen von Instrumenten der Verschleierung in Instrumente der Aufklärung, selbst wenn dies realisierbar wäre, diese Gesellschaft in dem bestehenden Herrschaftszusammenhang belassen würde. Durch die Erfahrungen in der Springer-Kampagne wissen wir, dass die Umwandlungsprozesse am Überbau nicht die notwendigen Veränderungen an der Basis, das heißt in unseren eigenen unmittelbaren Lebensbedingungen, ersetzen können. (…) Während durch die Springerpresse der Verdummungsprozess in den Massen fortschreitet, haben wir gelernt, dass diese Verdummung nicht nur von Springer erzeugt wird, sondern aus der Situation der Massen unmittelbar entsteht.“

Damit erteilt Helke Sander einer einfachen Manipulationsthese eine Absage. Dass die u.a. in der Springerpresse verbreitete Ideologie auch von der Bevölkerung angenommen wird, geschieht nicht durch eine geheimnisvolle Medienmacht, die man sich als große Verschwörung vorstellen soll, sondern entspringt der Ohnmacht der Menschen in ihrem Alltagsleben. Ohnmacht macht dumm – dies zu erkennen macht den Unterschied einer emanzipatorischen Medienkritik gegenüber dem rechten Vorwurf der „Lügenpresse“ aus. Aber Helke Sander geht in ihrer Argumentation noch weiter: Eine Gegenöffentlichkeit herzustellen muss dementsprechend auch bedeuten, gleichzeitig damit zu beginnen, die eigenen (Re)Produktionsverhältnisse zu verändern. Gegenöffentlichkeit geht einher mit Selbstaufklärung – und die hat ihrerseits eine Selbstermächtigung zur Voraussetzung. Dieser Anspruch wäre zu aktualisieren – auch und vor allem innerhalb der freien Radios.

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Zum Weiterhören und -schauen:

Diskussionsrunde auf der „Zukunftswerkstatt Community Media“ in Chemnitz 2018: https://www.freie-radios.net/93109
Zur Geschichte und Gegenwart Freier Radios: https://www.freie-radios.net/74388
Helke Sander – Brecht die Macht der Manipulateure: https://dffb-archiv.de/dffb/brecht-die-macht-der-manipulateure

Die CX-Zeitung August/September 2019 mit Themenschwerpunkt zu Freien Radios

1932 schrieb eine unbekannte Arbeiterin:

» Ich möcht’ einmal am Sender stehn
und sprechen dürfen – ohne Zensur.
Ein einziges Mal, eine Stunde nur.
›Hetzen‹ – und Haß und Feuer säen.
Laßt einmal mich am Geräte stehn.
Und nur einen Tag aus meinem Leben
wahrhaft und nüchtern zum Besten geben.
Nichts weiter. Es würde ein Wunder geschehn.
Ich möchte die wütenden Fratzen sehn,
wenn’s hieße: Achtung! ›Deutsche Welle‹!
Eine Arbeiterin spricht. Thema: Die Hölle. «

Der Geschichte der Arbeiter*innen-Radio-Bewegung und Piratenradios sowie der Frage nach »Gegenöffentlichkeit« gehen wir anlässlich einer baldigen Tagung über Freie Radios nach. Und wie immer gibt es auch viel Info zu Radioprogramm und diversen Veranstaltungen

Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in der Ausgabe 426 (Juni 2019) der Zeitschrift „ILA – Das Lateinamerikamagazin“ www.ila-web.de und erschien anschließend in einer gekürzten Fassung in der Radio Corax Programmzeitung Ausgabe August/ September 2019.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.