„Wir brauchen Platz“

Freiraumprojekte in Halle und ihre Bedeutung

von | veröffentlicht am 06.11 2017

Beitragsbild: per.spectre

2017 scheint das Jahr der Freiräume in Halle zu sein. Ausgelöst von den Existenzkämpfen des sozialen Zentrums “Hasi” in der Hafenstraße 7 oder der erneut ohne Bleibe dastehenden Rockstation wurde viel diskutiert und solidarisiert. Im Sommer fand eine Demo für Freiräume statt. Im Rahmen der ersten Kritischen Einführungswochen an der Uni Halle – selbst ein ganz neuer Freiraum in der Stadt – lud die Interventionistische Linke (IL) Halle vier hallesche Freiraumprojekte zur Diskussion ein.




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Ganz hierarchiefrei sollte es sein: Eine Podiumsdiskussion ohne Podium. Die Gäste aus der Hasi, der Freiraumgalerie, vom Lila Drachen und von Radio Corax inmitten ihrer Zuhörer*innen, die gekommen waren, um sich über aktuell laufende Freiraumprojekte in Halle zu informieren. Und darüber zu diskutieren: Was sind Freiräume eigentlich und wozu brauchen wir sie?


Freiräume sind Räume im wörtlichen Sinne: zur Erprobung von Praxis. Stützpunkte zur Erreichung einer herrschaftsfreien Gesellschaft.


Freiräume: offene, freundliche Orte, möglichst hierarchie- und diskriminierungsfrei und unkommerziell bzw. wenigstens kommerzkritisch. Sie bauen Hürden ab und bieten eine Plattform, damit Menschen, in einem geschützten Rahmen, etwas Neues entstehen lassen können. Sie bilden keine abgeschottete Blase, sondern wirken in die Nachbarschaft hinein, stoßen gesellschaftliche Veränderungsprozesse an. In selbstverwalteten und selbstorganisierten Kollektiven werden emanzipatorische Visionen abgebildet. Freiräume sind Räume im wörtlichen Sinne: zur Erprobung von Praxis. Stützpunkte zur Erreichung einer herrschaftsfreien Gesellschaft.

„Hasi“

Hasi steht für Hafenstraße 7 – die Hausnummer der ehemaligen ersten halleschen Gasanstalt. Dort befindet sich seit Januar 2016 ein Hausprojekt, das sich zum sozialen Zentrum in dem Gebiet zwischen Alt- und Neustadt entwickelt.

Die Hasi ist grundsätzlich offen für alle und bietet Räume für Initiativen und Projekte und freut sich über Mitarbeit im Haus und im Garten.

Unterschiedliche Ansprüche

Diese Utopie von Freiräumen stand zumindest im Raum, den die vier Projekte mit ihren Vorstellungen füllen sollten: Die Hasi als vielfältige Gruppe von Menschen, die Anfang 2016 das Gelände einer ehemaligen Gasanstalt besetzt hatten, aus dem sich nach überraschend schneller Legalisierung nun ein soziales Zentrum entwickelt. Der “Lila Drache”, ein frisch gegründetes Bar-Projekt in der soziokulturell noch kaum erschlossenen Südlichen Innenstadt, will Raum für Veranstaltungen und Ausstellungen werden. Die schon fest in der Stadt verankerte Freiraumgalerie, die nicht mehr nur mit Wandbildern ganze Stadtteile aufwertet, sondern urbane Forschung betreibt und in Zusammenarbeit mit der Stadt aktiv die Sicherung von Freiräumen vorantreibt. Und Radio Corax: Eines der wohl bedeutendsten freien, nichtkommerziellen Radios in Deutschland.

Während die beiden jüngeren Projekte sichtlich darum bemüht waren, ihre eigene Vorstellung davon zu vermitteln, inwiefern sie ein Freiraum sind und welche Ansprüche sie daran stellen, hatten die Freiraumgalerie und Radio Corax als “alte Hasen” bereits einen festen Standpunkt – auch als es darum ging zu begründen, dass Freiräume nicht einfach nur “Wohlfühlblasen” sind: So sei das Radio allein durch seinen medialen Charakter ein sehr wirksames Mittel, wobei bei Corax durch seine basisdemokratische Organisationsweise alles mitunter auch mühsam ausgehandelt werden müsse. Und auch die Freiraumgalerie war von Beginn an nach außen orientiert mit ihrem Anspruch, dass der öffentliche Raum viel freier gestaltbar sein sollte. Vom ursprünglichen Kerngeschäft der Wandgestaltung in Halles Osten sei das Team mittlerweile auch weggekommen: jetzt heiße es Freiräume aufzuzeigen, zu bespielen und langfristig für die Menschen, die dort leben, zu sichern.

Demgegenüber bäckt der Lila Drache noch kleine Brötchen: Natürlich gehe es auch ums Wohlfühlen und um Gemütlichkeit, wenn auch nicht ohne den Anspruch, vor Ort auch etwas bzw. jemanden zu erreichen. Die Richtung sei allerdings noch unklar. Doch dafür ist das Projekt wohl noch zu jung. Und auch der Anspruch der Hasi scheint noch nicht so klar umrissen zu sein, trotzdem schon anderthalb schwere Jahre Arbeit in das Hausprojekt geflossen sind: Stützpunkt wolle man sein und vor allem über Bildungsarbeit Wirkung entfalten.

Freiraumgalerie

Die Freiraumgalerie ist eine Kunst- und Kulturplattform in Halle, die ursprünglich im Stadtteil Halle-Ost mit Workshop- und Kulturprogrammen sowie der öffentlichkeitswirksamen Gestaltung von Häuser-Fassaden startete. Die Initiative will vielfältige Möglichkeitsräume in der Stadt für alle eröffnen, die sich kreativ entfalten wollen.

Mittlerweile hat eine Expansion des Projekts in andere Stadtteile stattgefunden. Zudem bemüht sich die Initiative aktiv um den Erhalt von urbanen Freiräumen für die ansässige Bevölkerung.

Grenzen von Freiräumen

Wo sich die vier Projekte in der Diskussion nicht unterschieden war ihr Realismus, dass sich gesellschaftliche Veränderungen über Freiraumprojekte allein nicht erzielen lassen, dass sie bestenfalls einen Beitrag dazu leisten, dass Veränderungen angestoßen werden, wenn auch im Kleinen. Während sich künstlerische Freiheit gut organisieren lasse, so die Erfahrung der Freiraumgalerie, sei der zentrale Knackpunkt – auch da waren sich alle einig – die Eigentumsfrage. Wer Freiräume langfristig sichern wolle, brauche Geld bzw. Eigentum. Die Freiraumgalerie versucht bspw. über Projektmittel Flächen für die öffentliche Nutzung zu sichern. So soll auf einer alten Brache in Halle-Ost ein Bürger*innenpark entstehen. Radio Corax ist existenziell auf Projektmittel der öffentlichen Hand angewiesen und braucht derzeit eigentlich mehr Platz. Der Lila Drache muss irgendwie das Geld für seine Miete zusammen bekommen und ist zudem auf die Gunst des Vermieters angewiesen. Letzteres hat auch der Hasi in den letzten Monaten, in denen die Verlängerung ihres Nutzungsvertrages mit der Halleschen Wohnungsgesellschaft HWG unklar war, viel Kopfzerbrechen bereitet.

Einigkeit bestand auch über den zweiten Knackpunkt: Die Ressource Zeit. Jedes Projekt erfordere Menschen, die sich motiviert dahinter klemmen und selbst die Gestaltung übernehmen, statt die Projektergebnisse nur zu konsumieren. Die Basis: Freiwilligkeit und vorhandene Freizeit. Gerade in den Zeiten von Hartz IV und Bologna, in denen die Freizeit von Menschen immer stärker zugunsten ihrer Verwertbarkeit eingeschränkt werde, sei dies für selbstorganisierte Projekte ein zunehmendes Problem. Dreh- und Angelpunkt seien in diesem Zusammenhang Empowerment – also Leute dazu zu bewegen, etwas mitzugestalten und dafür gleichzeitig die Hürden zu senken. Doch auch das braucht Menschen, die genau dafür Zeit haben. Immerhin könne Radio Corax auf über 200 Sendemacher*innen zurückgreifen. Und die Hasi zeigt sich optimistisch, dass sich ihre “studentische Blase” derzeit in die Nachbarschaft öffne.

Radio Corax

Radio Corax ist ein freies, nichtkommerzielles Radio in Halle und Umgebung und ist seit 2000 auf 95.9 MHz auf Sendung sowie im Stream empfangbar. Das Programm wird von circa 300 Menschen ehrenamtlich erstellt.

Das Radio hat einen emanzipatorischen Anspruch im Sinne gesellschaftlicher Gleichheit und individueller Freiheit und hat zum Ziel, allen Menschen in diesem Sinne den Zugang zum Rundfunk zu ermöglichen. Corax arbeitet aktiv am Abbau von Diskriminierungen und ist basisdemokratisch verfasst.

Wirkung in und für die Stadt

Doch wem bringen solche und andere Projekte eigentlich etwas im urbanen Raum? Machen sie die Stadt tatsächlich nachhaltig lebenswerter für die dort ansässigen Menschen, oder tragen sie nur zu ihrer besseren Verwertung bei? Wirken sie gar an der Gentrifizierung mit? Und übernehmen sie nicht Aufgaben, die eigentlich klassisch staatlich sind? Gerade der Freiraumgalerie wird immer wieder vorgehalten, dass sie die Erschließung des halleschen Ostens für Investitionen in Sanierung und damit schlimmstenfalls auch für die mittelfristige Verdrängung der derzeit ansässigen Bevölkerung beflügelt hätte.


Ist es nicht auch eine Chance, Aufgaben, die der Staat nicht (mehr) besetzt, selbst in die Hände zu nehmen und damit Gestaltungshoheit zu gewinnen?


Doch dass sich die Freiraumgalerie mit dieser Problematik beschäftigt hat und Lösungen sucht, zeigt gerade ihre aktuelle Ausrichtung: die aktive Sicherung von Freiräumen wie im Falle des angedachten Bürger*innenparks oder durch die Vernetzung der Anwohner*innen in Halle-Ost über einen Verein. Zudem seien die Künstler*innen und Kreativen selbst nicht schuld daran, dass der Effekt von Freiraumprojekten ausgenutzt werde. Auch Corax bezieht hier deutlich Position: Solche Projekte dienten eben gerade einer lebenswerten Stadt und keinesfalls einer investitionsfreundlichen Stadt. Es geht also auch um das Motiv – und darum, inwiefern sich Freiraumgestalter*innen ihre Projekte aus der Hand nehmen lassen. Corax, das sich von der “Medienstadt Halle” selbst eher stiefmütterlich behandelt sieht, sehe sich als Störsignal, statt als Standortfaktor. Und auch der Hasi lässt sich schlecht vorwerfen, zur Gentrifizierung im Stadtteil beizutragen. Im Falle des Hausprojektes war diese in Gestalt einer neu entstehenden Wohnsiedlung am benachbarten Hafen schon längst im Gange.

Und gar nichts machen, weil der Kapitalismus so totalitär ist, dass er selbst gegen ihn gerichtete Freiräume zu verwerten vermag? Das könne es ja auch nicht sein, so eine Stimme aus dem Kreis der Anwesenden. Und was scheinbar klassische staatliche Aufgaben angeht: Ist es nicht auch eine Chance, Aufgaben, die der Staat nicht (mehr) besetzt, selbst in die Hände zu nehmen und damit Gestaltungshoheit zu gewinnen? Sich Freiräume zu erschließen, sie sich gegebenenfalls zu nehmen und im Anschluss zu behaupten, das muss sich jemand auch trauen, wie der Fall der Hasi zeigt. Corax und die Freiraumgalerie zeigen seit Jahren, was sich langfristig damit gewinnen lässt. Die Hasi scheint auf einem guten Weg zu sein, hieran anschließen zu können, sofern der Standort auch 2018 erhalten bleibt. Und für den Lila Drachen, das Küken unter den halleschen Projekten, gibt es genügend Anregungen, selbst ein wirkungsvoller Freiraum jenseits studentischer Wohlfühloasen werden zu können.

„Lila Drache“

Beim „Lila Drache“ handelt es sich um eine bunte Gruppe von Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Kulturangebot in der südlichen Innenstadt von Halle auszubauen.

Unter dem Dach des Kunst- und Kulturvereins Südliche Innenstadt soll im Stadtgebiet eine Plattform geschaffen werden, in der Künstler*innen ihre Werke ausstellen können, Musiker*innen offene Ohren finden, und Lesungen und Vorträge ein breites Publikum erreichen.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.