„Vermeintliche Migrant*innenvertreter*innen“

Selbstgefällige Urteile in der Linken

Zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt wurde im Transit-Magazin der Artikel „Geht wählen!“ veröffentlicht, welcher Wahlmöglichkeiten aus linker Perspektive erörterte. Keywan Tonekaboni kritisiert, dass er einigen Migrant*innenselbstorganisationen absprach, legitime Interessenvertretungen von Migrant*innen zu sein. Ein Debattenbeitrag.

Kurz vor der Wahl erschien an dieser Stelle ein Gastkommentar, der „selbstgefälliges Stimmenverbrennen“ anprangerte, jedoch selbst in einer kaum zu überbietenden Selbstgefälligkeit daher kam.

Ich will gar nicht groß auf das zentrale Argument eingehen, man solle doch lieber pragmatisch die größere Partei (z.B. Grüne) wählen, statt idealistisch einer Kleinstpartei (z.B. Klimaliste, Piraten) die Stimme zu geben. Zwar hätten die Kleinstparteien radikalere Positionen, aber die aktuell im Landtag vertretenen Parteien würden reale Verbesserungen durchsetzen, so das uralte Argument. So aber wird die Entstehung jeglicher neuen politischen Kräfte im Keim erstickt. Dem Prinzip gefolgt, gäbe es heute die Grünen nicht. Anscheinend haben aber viele Wähler:innen das Gedankenspiel des Kommentars konsequent zu Ende gespielt und die CDU als die pragmatisch bessere antifaschistische Partei (oder wahlweise pragmatischere AfD) gewählt.

Mir ist vielmehr ein sprachliches Detail aufgestoßen, was viel Zündstoff enthält. Da wird von der Wahl der SPD abgeraten und ihr Symbolpolitik unterstellt, etwa wenn sie „sich mit vermeintlichen Migrant*innenvertreter*innen umgibt“.

Wer sind diese „vermeintlichen Migrant*innenvertreter*innen“?

Ist es vielleicht LAMSA? Das „Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA)“ entstand vor 13 Jahren und wurde 2014 zum eingetragenen Verein. Der heutige (und erste afrodeutsche) SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Karamba Diaby baute es mit auf. Was macht ein Netzwerk, dem mittlerweile über 80 ganz unterschiedliche Initiativen und Migrant:innenselbstorganisationen angehören – das über Jahre Vertrauen untereinander aufgebaut und Kämpfe gebündelt hat – was macht dieses Netzwerk und seine Mitglieder zu „vermeintlichen Migrant*innenvertrerer*innen“?

Oder ist gar Igor Matviyets gemeint, der als SPD-Kandidat unter anderem gegen Henriette Quade (Die LINKE) um ein Direktmandat in Halle kämpfte? Was würde Matviyets, der mit acht Jahren aus der Ukraine nach Deutschland kam, Mitglied in der jüdischen Gemeinde Halle ist und sich seit Jahren bei den Jusos und in der SPD unter anderem als Vorsitzender der AG Migration und Vielfalt engagiert, was würde ihn zum „vermeintlichen Migrantenvertreter“ machen?

Mein Interesse am Wohl und Wehe der SPD hält sich in Grenzen. Aber was bemächtigt die Kommentatorin zu entscheiden, wer tatsächlich und wer nur vermeintlich Vertreter:in von Migrant:innen ist? Natürlich kann man die Politik von Diaby, Matviyets oder die Positionen von Organisationen wie LAMSA kritisieren. Aber ihnen das Recht abzusprechen, ihre Interessen, die Interessen von Migrant:innen zu vertreten, trotz jahrelangen Engagements? Mit einem anmaßenden Federstrich, einem Adjektiv über das vielleicht kaum nachgedacht wurde, wird hier das politische Engagement delegitimiert.

Als Kronzeuge gelten indirekt „antirassistische und Geflüchtetenaktivist*innen“. Der Clou bei LAMSA, den Mitgliedsvereinen und vergleichbaren Organisationen: Es sind Migrant*innen-selbst-organisationen – mit Betonung auf „selbst“. Sie grenzen sich in ihrem Selbstverständnis auch von wohlmeinenden Gruppen und Initiativen der Mehrheitsgesellschaft ab, die zuweilen als paternalistisch erlebt werden. Sie wollen für sich selbst sprechen und sich selbst organisieren.

Es mag im linken Selbstverständnis etwas schwer fallen, wenn man „Hoch die Internationale Solidarität!“ auf Demos skandiert und vermeintlich weiß, was das Beste ist: Aber migrantische Menschen sind vielfältig und haben unterschiedliche Interessen, Vorstellungen und Lösungswege. Diese sind oft nicht deckungsgleich mit jenen von Aktivist:innen. Letztere verlieren manchmal aus dem Blick, dass nicht alle BIPoC Migrant:innen und die wenigsten Migrant:innen Geflüchtete sind. Sie alle haben teilweise unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen, untereinander und auch innerhalb dieser Kategorien.

Als nur einen Monat nach dem Anschlag auf die jüdische Gemeinde in Halle die LAMSA Landeskonferenz der Migrantenorganisationen stattfand, konnte ich bis auf Thomas Lippmann (Die LINKE) keine Politiker*innen entdecken, auch keine antirassistischen Aktivist*innen ohne Verbindung zu LAMSA. Auf dieser Veranstaltung sprachen ganz unterschiedliche Migrant:innen über ihre Erlebnisse in den Wendejahren 1989/1990 und danach. Beispielsweise schilderten ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter:innen oder damalige senegalesische Studierende, welche Erfahrungen sie im Schwarz-Rot-Goldenen-Einheitstaumel mit Rassismus und Bedrohungen gemacht haben und wie zaghaft der erste Kontakt untereinander entstand. Und gemeinsam mit heutigen Geflüchteten berichteten sie von der aktuellen Situation. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, diesen reichhaltigen Berichten zuzuhören. Mich haben diese Schilderungen und die gegenseitige Solidarität nachhaltig beeindruckt.

Diese Erfahrungen anzuerkennen gehört ebenso zu Gleichberechtigung, Teilhabe und Begegnung auf Augenhöhe, wie eine missliebige politische Positionen als eigenständig zu akzeptieren. Das schließt keineswegs die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Positionen aus – auch das Streiten gehört dazu. Aber es ist ein qualitativer Unterschied, über Inhalte zu streiten oder einem das „Mandat“ abzusprechen, für die eigenen Interessen einzustehen.

Also streitet mit uns Migrant*innenvertreter:innen politisch und inhaltlich, aber degradiert uns nicht als „vermeintliche“ Akteur:innen.

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