„Und wir können das nie vergessen.“

Drei Jahre nach dem Anschlag in Halle

Drei Jahre nach dem antisemitischen, rassistischen und frauenfeindlichen Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019, bei dem ein rechtsextremer Attentäter zwei Menschen tötete, erscheint nun ein Sammelband über Verlauf und Hintergründe des Gerichtsprozesses.

Zuerst veröffentlicht in der Radio Corax Programmzeitung von Oktober/November 2022

„Die Richterin hatte Mitgefühl“, sagt Aftax Ibrahim im März im Interview auf Radio CORAX. „Aber wenn Sie sagt: ‚Tut mir leid, das kann eben passieren‘, dann hilft mir dieses Mitgefühl nicht. Mitgefühl ist etwas, das man äußern und fühlen kann, aber es ändert nichts an diesem unfairen Urteil. İsmet und ich, wir sind beide Ausländer und der Täter ist Deutscher. Wäre der Täter Ausländer gewesen und die Opfer Deutsche, wäre das Urteil anders ausgefallen. Jetzt ist es so, dass İsmet und ich uns als Ausländer fühlen, die hier keine Rechte haben. Wir haben viel erlebt, er wollte uns töten, das war mehr als ein Straßenverkehrsvergehen. Und wir können das nie vergessen. Wäre ich Deutscher, hätte ich mein Recht bekommen.“

Info

Das Interview mit Aftax Ibrahim ist mit weiteren 13 Beiträgen, u.a. von Kristin Pietrzyk, Klaus Theweleit, Rebecca Blady und Reem A. Teil des Sammelbandes „Der Halle-Prozess: Hintergründe und Perspektiven“, der im November 2022 im Leipziger Spector Books Verlag erscheint und von Christina Brinkmann, Nils Krüger und Jakob Schreiter herausgegeben wird.

Aftax Ibrahim überlebte, wie İsmet Tekin, den antisemitischen, rassistischen und frauenfeindlichen Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019. İsmet Tekin konnte sich an diesem Tag vor Schüssen des Täters schützen. Er war auf dem Weg zu seinem Bruder Rifat Tekin, der im Kiez Döner, dem zweiten Anschlagsort, arbeitete. Aftax Ibrahim wurde auf der Magdeburger Straße verletzt, als der Täter auf seiner Flucht zielgerichtet auf ihn zusteuerte. Aftax Ibrahim und İsmet Tekin waren zwei von 43 Überlebenden und Betroffenen, die sich als am Prozess gegen den Täter im Jahr 2020 beteiligten. Beide forderten, dass die Taten gegen sie als rassistische Tötungsversuche gewertet wurden. Dem kam das Gericht nicht nach. Auch das von beiden Nebenklägern angestrebte Revisionsverfahren wurde im März dieses Jahres vom Bundesgerichtshof abgelehnt. Aftax Ibrahim verweist wenige Wochen zuvor im Gespräch mit CORAX auf diese Differenz: zwar war die Richterin im Prozess oft zugewandt, dass Betroffene zu Wort kommen, schien ihr ein Anliegen zu sein. Dies ist eine klare Verbesserung im Vergleich mit dem Handeln von Richter_innen  in bisherigen Rechtsterrorismus-Prozessen. Auch zeigte sich scheinbar ein stärkeres Bewusstsein für die rechte Ideologie der Tat, den Antisemitismus und Rassismus des Täters. Doch schnell wurde im Laufe des Prozesses deutlich, dass es bei oberflächlichen Benennungen blieb. Es fehlten sowohl eine Analyse der Ideologie und ihrer gesellschaftlichen Verankerungen, als auch, wie von Aftax Ibrahim angesprochen, juristische Konsequenzen: Aftax Ibrahim und İsmet Tekin bekamen ihr Recht nicht. Zur staatlichen Verantwortung sagte Aftax Ibrahim im Interview: „Ich habe keine großen Hoffnungen, dass hier irgendetwas passiert, weil ich nicht glaube, dass Regierung und Staat irgendwas ändern wollen. Eher behindern sie Veränderungen und Solidarität, und das ist das Problem.“

„Wer gegen die Nazis kämpft, der kann sich auf diesen Staat nicht verlassen“, wird Esther Bejerano, Antifaschistin und Überlebende von Auschwitz und Ravensbrück, in Nachrufen zitiert, nachdem sie im letzten Jahr verstarb. Im Sinne der Äußerungen Aftax Ibrahims und Esther Bejeranos braucht es eine Auseinandersetzung mit dem Anschlag in Halle vor drei Jahren, die nicht bei staatlichen Formen der Rechtsprechung und des Gedenkens verbleibt, die keinen Schlussstrich zieht, sobald das Urteil gegen den Täter gesprochen ist. Viele kommunale und staatliche Stellen haben versagt. Das zeigt sich auch in Bezug auf die Unterstützung von Betroffenen. İsmet und Rifat Tekin mussten ihr türkisches Frühstückscafé Tekiez, das sie gemeinsam mit solidarischen Menschen aufgebaut hatten, in diesem Jahr schließen. Damit droht der Verlust eines Ortes der Erinnerung und Solidarität in Halle. Die Erinnerung an den Anschlag, an Jana L. und Kevin S., die an diesem Tag ermordet wurden, hat mit wenigen Ausnahmen keinen Raum in dieser Stadt.

Eine „politische Durcharbeitung der Vergangenheit“ [1] forderten Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 in Bezug auf die NS-Zeit. Es gelte, entgegen einer kollektiven Verleugnung, „die Katastrophen der Vergangenheit in unseren Erfahrungsschatz einzubeziehen, und zwar nicht nur als Warnung, sondern als die spezifisch an unsere nationale Gesellschaft ergehende Herausforderung, mit ihren darin offenbar gewordenen brutal-aggressiven Tendenzen fertig zu werden“. Der Anschlag von Halle war kein kollektiv verübter Genozid, aber er stellte sich in dessen Tradition. Auf andere Weisen hat aber auch diese Tat mit unserer Gesellschaft im Ganzen zu tun, denn sie ging aus ihr hervor. Die mörderische rechte Gewalt eines Mannes in dieser Stadt vor drei Jahren hat zu verschiedenen Traumatisierungen geführt. Diese Tatsachen und diese Wunden nicht wahrzunehmen, heißt nicht, zum „Normalzustand“ zurückzukehren, sondern heißt, sie zu verdrängen und Fragen nach den Ursachen rechter Gewalt zu unterbinden. Wir sollten es besser wissen und uns verbünden, damit der Anschlag von Halle nicht nur dann Thema wird, wenn der Ministerpräsident eine jährliche Gedenkzeremonie veranstaltet.

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[1] Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967, S. 23.

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