Regression und feministische Auflehnung

Bericht zur Demo „Für das Recht auf Selbstbestimmung – Schwangerschaftsabbrüche legalisieren!“ in Halle

von | veröffentlicht am 04.10 2022

Beitragsbild: Lukas Wanke | CC BY 2.0

Das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche wird in vielen Ländern äußerst restriktiv gehandhabt und ist innerhalb einer globalen politischen Regression scharfen Angriffen ausgesetzt. Trotz der Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen in Deutschland wird auch hierzulande massiv in die Selbstbestimmung von Schwangeren eingegriffen. Am 28. September fand hierzu eine Kundgebung auf dem Marktplatz in Halle statt.




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Erst vergangenen Sommer hatte der Oberste Gerichtshof der USA das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche gekippt und den Weg freigemacht zu einer restriktiven Antwort auf das Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren. Zwar untersagte das Gericht dem Bundesstaat Idaho bis zur endgültigen Klärung der Rechtslage eine weitere Verschärfung, dennoch ist hier noch nichts entschieden. Weitere Bundesstaaten wie Arkansas, Kentucky oder Louisiana verboten in der Folge ebenfalls Schwangerschaftsabbrüche. Das ursprünglich 1973 auf Bundesebene gewährte Recht auf Abtreibung bleibt nach dem Gerichtsurteil von 2022 verboten.

 

Die große Regression…

Auch in Deutschland steht das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nach wie vor unter starkem Beschuss. Erst Anfang 2022 ist erneut auf die unterirdische medizinische Versorgung von ungewollt Schwangeren hingewiesen worden. Zwar wurde der Paragraf 219a, der die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verboten hatte, diesen Sommer endlich gegen die Stimmen von Union und AfD gekippt. Der berüchtigte Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche mit teilweise mehreren Jahren Haft bestraft, ist aber immer noch in Kraft. Am 17. September fand in Berlin zudem der alljährliche „Marsch für das Leben“ statt, den etwa auch die Bischofskonferenz der deutschen katholischen Kirche und die CDU tatkräftig unterstützten. Der Marsch ist seit Jahren bekannt als Sammelbecken rechter Strömungen, die unter dem Deckmantel christlicher Werte das Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren attackieren. Die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei Heidi Reichinnek wurde im Plenum diesbezüglich von Beatrix von Storch sogar als „Kindermörder“ bezeichnet.

Mit Blick auf solche Gemengelagen ist es kaum erklärbar, warum immer noch so viele Linksliberale an ihrem Fortschrittsoptimismus festhalten. Die Ideologie der Liberalen einer stetigen Aufwärtsbewegung von Freiheit und Gleichheit, wie sie etwa die Historikerin Hedwig Richter in Bezug auf die Entstehung der deutschen Demokratie vertritt, war schon für das 20. Jahrhundert nicht in der Lage, die politischen Realitäten zu erkennen, und vertuscht auch im 21. Jahrhundert die Machtverhältnisse in der modernen Welt. Eine solche Sicht kann derart massive Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht etwa von Frauen nur als höchstens temporäre Rückfälle in vordemokratische Zeiten begreifen, die aber die vermeintlich sichere Entwicklung der Moderne als Ganzes nicht aufhalten können. Das von US-Historiker Francis Fukuyama 1989 ausgerufene „Ende der Geschichte“ als eines endgültigen Sieges der westlichen liberalen Demokratien gegenüber allen konkurrierenden Regierungssystemen bildet hier den ideologischen Rahmen.

Eine schwächer werdende Linke, die Unfähigkeit der vorherigen und aktuellen Regierung zu echten politischen Reformen, konservative Sparideologie, soziale Kälte und grassierender Rassismus sowie nicht zuletzt ein von mittlerweile vielen deutschen Intellektuellen gepflegter, kriegsbegeisterter Ton; zur Beschreibung der derzeitigen Lage, in der weltweit Schwangerschaftsabbrüche (re-)kriminalisiert werden, bietet sich wohl eher der Titel eines kürzlich erschienenen Sammelbandes an: „Die große Regression“. Rassismus und Antifeminismus sind eben nicht einem zeitweisen Rückfall ins Mittelalter geschuldet. Sie sind zentraler Teil der Ideologien von sich selbst dezidiert als modern verstehenden konservativen und rechten Parteien, die in Eingriffen in das Selbstbestimmungsrecht die wahre Essenz der Moderne zu sehen glauben: Das Projekt der Moderne in Form einer autoritären Regierungs- und Wirtschaftsform.

Wenn also die Moderne nicht ein von christlich inspirierten Liberalen erkannter, sich selbst beschreitender Gelber Backsteinweg zur Erlösung ist, dann müssen progressive Forderungen erkämpft und deren Erfolg abgesichert werden. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist keine organische Höherentwicklung, sondern eben eine Geschichte von Klassenkämpfen. Wie bereits in einem anderen Artikel erwähnt, führen diese sozialen Kämpfe auch nicht automatisch zum Erfolg. Sie sind mit Rückschlägen verbunden und ihr positiver Ausgang zementiert keineswegs unumstößliche Tatsachen. Das Ergebnis eines Kampfes kann wiederum von regressiven Machtkonstellationen herausgefordert werden. Immer sind die progressiven Ergebnisse solcher Kämpfe prekär und müssen neu eingefordert, die Praktiken zu ihrer Erhaltung immer wieder aktualisiert werden.

Die Philosophin Eva von Redecker hatte zur Beschreibung dieser Phänomene bereits vor einiger Zeit von der Existenz einer Eigentumsideologie gesprochen, die trotz progressiver politischer Entscheidungen in der Vergangenheit bisher nicht abgeschafft wurde und in der Frauen immer noch als „Phantombesitz“ der patriarchalen Gesellschaft gelten. In dieser neoliberalen Ideologie nehme sich die Gesellschaft, trotz mittlerweile gewährter Grundrechte, in bestimmten Fällen wie dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch immer noch die Befugnis heraus, über Frauen zu verfügen, ihnen gewährte Grundrechte teilweise wieder abzusprechen und wahrhafte Selbstbestimmung zu verunmöglichen.

 

… und die Auflehnung dagegen

Um den regressiven sozialen Tendenzen entgegenzutreten und für Selbstbestimmung von Schwangeren zu demonstrieren, fand am 28. September auf dem Marktplatz von Halle eine Kundgebung statt. Aufgerufen hatten die Gruppe Sintoma, die Medical Students For Choice, die Linke Hochschulgruppe SDS sowie die Grüne und die Juso-Hochschulgruppe, die Linksjugend, die Grüne Jugend, die Jusos und der Fachschaftsrat der Philosophischen Fakultät I der MLU. Im Aufruf forderten die Organisator*innen, dass das Universitätsklinikum Halle (Saale) Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsregel durchführt und die medizinische Fakultät das Thema verpflichtend in den Lehrplan aufnimmt. Zudem müsse der bereits genannte Paragraf 218 abgeschafft werden. Abbrüche sollten weiterhin auch in kirchlichen Krankenhäusern wie dem Elisabethkrankenhaus durchgeführt werden, zudem müsse an nicht-kirchlichen Kliniken die Möglichkeit bestehen, notfalls gegen den Willen der Chefetage Abtreibungen durchzuführen.

Mina von Sintoma, der kritischen Mediziner*innengruppe an der Uni Halle, kritisierte vor allem die fehlende Ausbildung zum Thema Schwangerschaftsabbrüche während des Medizinstudiums. Die Ärzt*innen, die etwa in der DDR das Thema noch im Studium hatten, gehen langsam in Rente, so dass heutzutage Schwangerschaftsabbrüche v.a. von ungeschultem medizinischem Personal durchgeführt werden, was enorme Risiken für die Patient*innen mit sich bringe. Mina berichtete, dass sie selbst nur durch einen Workshop der Medical Students for Choice, eine außeruniversitäre Gruppe von Studierenden, die Grundlagen erlernt habe. Zudem diagnostizierte die Rednerin einen hohen Anteil an FLINTA*-Personen v.a. bei den Praxiskursen, was die Frage aufwerfe, „ob sich selbst in unserem progressiven Kreis von Medizinstudierenden nur diejenigen für Schwangerschaftsabbrüche interessieren, die es auch selbst potenziell betrifft“, wobei doch eigentlich „immer zwei Menschen“ zur Schwangerschaft gehörten.

Der Beitrag der Linken Hochschulgruppe SDS machte deutlich, dass mit dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch die volle Selbstbestimmung von Schwangeren bedroht sei, auch hier in Halle, wo die Protagonist*innen dieses Verbots nur selten mit offen fundamentalistischem Gedankengut auftreten. Das katholisch betriebene Elisabethkrankenhaus führe Abbrüche nicht mal dann aus, wenn die schwangere Person erwiesenermaßen gesundheitlich gefährdet ist oder Opfer einer Vergewaltigung war. Radikale Abtreibungsgegner*innen gebe es aber „nicht nur im Vatikan, in islamistischen oder christlich-evangelikal dominierten Landstrichen […] sondern auch in unserem Universitätsklinikum“. Das Recht auf Selbstbestimmung werde Schwangeren dort vorenthalten durch die Entscheidung einer einzelnen Person, nämlich des Chefarztes der Gynäkologie, der die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen verweigert: „Ein einzelner Mann entscheidet also über die Versorgungslage des südlichen Sachsen-Anhalts. Über das, was gelehrt werden kann. Über das, was Schwangere an Versorgung bekommen. Oder eben nicht. Das ist ein Skandal.“

Die Kampagne #ukhmachtnix machte in ihrem Beitrag darauf aufmerksam, dass im gegenwärtigen kapitalistischen, auf Profite ausgelegten Gesundheitssystem [woran übrigens der jetzige Bundesgesundheitsminister tatkräftig mithalf] Schwangerschaften und Geburten immer höheren Risiken ausgesetzt seien, da Geburtsstationen materiell und personell immer schlechter ausgestattet seien. Zudem würden die selbsternannten Lebensschützer*innen nicht die Bedingungen unserer Gesellschaft reflektieren, in der eine große Zahl Kinder in Armut aufwachse (allein in Halle jedes dritte Kind) und besonders arme Menschen häufig krank würden: „Wer also gegen Schwangerschaftsabbrüche mobilisiert, tut exakt nichts für die Lebenden. Vielmehr ist er oder sie ein Feind des Lebens. Denn das Verbot von Abtreibungen verhindert, dass es eine ordentliche medizinische Behandlung gibt. Es führt dazu, dass immer wieder Schwangere sterben, die sonst noch heute gesund und am Leben gewesen wären.“

Insbesondere der Beitrag von Safe Abortion Day stellte das antisemitische und sozialdarwinistische Vokabular der Abtreibungsgegner*innen ins Zentrum, die Schwangerschaftsabbruch als „Mord“ oder „pränatale Selektion“ denunzieren und mit dem Holocaust vergleichen. Auch wird die Existenz angeblicher physischer Post Abortion Syndrome behauptet. Zudem sprachen die Aktivist*innen die globale Dimension in Bezug auf die Kriminalisierung von Abtreibungen an. Nicht nur die USA und Deutschland rühmten sich restriktiver Abtreibungsgesetze, sondern auch etwa Polen und Ungarn. Man werde darüber hinaus auch die Entwicklung jetzt nach der Wahl in Italien genau beobachten müssen.

Die Beiträge machten allesamt deutlich, dass die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen einen eklatanten Eingriff in die Selbstbestimmung von Schwangeren darstellt und den Betroffenen keine Entscheidungsgewalt über ihr eigenes Leben überlassen wird. Ob angebliche „Lebensschützer“ oder neoliberales Gesundheitssystem: sie alle verhindern die volle Selbstbestimmung von Frauen; ein eindrückliches Beispiel dafür, wie gut Fundamentalist*innen und Neoliberale auch außerhalb der AfD zusammenarbeiten.

 

Die Befreiung der Gesellschaft

Wenn soziale Kämpfe nur jeweils prekäre Ergebnisse erzielen, was dann? Lohnen sich soziale Kämpfe, wenn sie nicht etwas befestigen können, das dauerhaft ist? Eva von Redecker hat in ihrem Buch „Revolution für das Leben“ der Fiktion einer alles auf einmal umwerfenden Revolution eine klare Absage erteilt. Stattdessen geht sie davon aus, dass eine Gesellschaft der stetigen Revolutionen bedarf, die auf dem Prinzip der Wiederholung basieren und die keine befriedete Gesellschaft zum Ziel haben, sondern progressive Inhalte und Themen immer wieder auf die Agenda setzen und in die Öffentlichkeit ziehen. Selbst die progressivste Gesellschaftsform hat Bereiche, in denen Rechte und Freiheiten nicht komplett durchgesetzt sind. Jede Gesellschaft ist, wie z.B. auch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe klarmachen, durch innere Differenzen strukturiert. In jeder Gesellschaft werden soziale Interessen verhandelt, die verschieden sind und sich daher nicht völlig miteinander ins Gespräch bringen lassen. Ein Interesse verstößt gegen ein anderes, eine vollständig versöhnte Gesellschaft könnte nur durch einen politisch erzwungenen Konsens erreicht werden, der aber auch wieder herausgefordert werden könnte. Auch eine klassenlose Gesellschaft bräuchte daher eine permanente Selbstkritik.

Konsens ist nach Umberto Ecos „vier moralischen Schriften“ vor allem als die Signatur einer autoritären Gesellschaftsform zu deuten. Das Wesen von Demokratie sei dagegen der Dissens, in dem politische Interessen aufeinanderprallen, die dann ausgehandelt werden müssen. Mit anderen Worten ist die versöhnte Gesellschaft letztlich die Fiktion derer, die entweder der Meinung sind, das Ende der Geschichte sei erreicht und soziale Kämpfe daher unnötig bzw. sogar der einmal erreichten Ordnung gefährlich, oder derer, die das Ende der Geschichte autoritär festlegen wollen. Beide regressiven Positionen treffen sich in der Frontstellung gegen jede Art von Befreiungskampf: erstere bemühen oft das Argument, dass Frauen im Vergleich zu früheren Zeiten doch bereits viele Rechte hätten, zweitere beharren auf einer naturgegebenen Unterordnung von Frauen unter Männer, meist unter Verweis auf eine starre binäre Geschlechterordnung.

Regression ist demzufolge eben nicht etwas, das mit einem politischen Akt überwunden werden kann, dies zeigen die Debatten um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Wenn Frauen nicht über ihre eigenen Körper verfügen können, ist die Gerechtigkeit unvollständig. Eine politische Ideologie, die beschwichtigend auf das schon Erreichte verweist und damit die Gesellschaft beruhigen und versöhnen will, verstetigt die Ungerechtigkeit. In einer unversöhnten Gesellschaft aber ist die Möglichkeit zu solidarischen Aktionen gegeben, ja sie gehören mit zur zentralen Bedingung einer solchen Gesellschaft. Feministische Kämpfe können das erreichen, was kein naives Gottvertrauen auf eine automatische Entwicklung je erreichen könnte: sie können die gesamte Gesellschaft freier machen. Antifeminismus gehört zu den Zentraldogmen rechter Ideologie, ein feministischer Kampf ist daher grundsätzlich immer gegen rechte Strukturen gerichtet, die viele Teile der Gesellschaft bedrohen, nicht nur FLINTA* und PoC, sondern z.B. auch Arbeitslose, Wohnungslose und behinderte Menschen. Daher ist der feministische Kampf um Selbstbestimmung letztlich für alle gut. Feministische Kämpfe schaffen keine vollendeten Tatsachen und keine befriedete Gesellschaft. Sie schaffen etwas viel besseres: die Grundlage für weitere Kämpfe und letztlich die Möglichkeit einer wirklich gerechten Gesellschaftsform, die auf jede vorschnelle Fixierung und Konfliktunterdrückung verzichtet.

Hauke Heidenreich

… ist Mitglied der Transit-Redaktion und arbeitet als Historiker am Grünen Band Sachsen-Anhalt

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.