Rationale Apokalyptik

Die Letzte Generation und die Kunst

von | veröffentlicht am 06.11 2022

Beitragsbild: Pixabay

Die Proteste von Akteur*innen der Letzten Generation hatten in den vergangenen Wochen viele Debatten sowohl in der Presse als auch auf Social Media zur Folge. Viele werfen den Aktivist*innen vor, auf fatale Art und Weise die Ziele der Klimabewegung zu untergraben. Andere wiederum äußern Verständnis, bezweifeln jedoch den Nutzen der Proteste. Konservative glauben sogar antidemokratische Tendenzen erkennen zu können, die man bekämpfen müsse. Doch welche Ideologien zeigen sich in den Reaktionen auf das Vorgehen der Aktivist*innen und welches Verständnis von Kunst wird hier eigentlich verhandelt? Ein Essay über die kulturpolitischen Kontexte von Klimaprotesten.




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In den letzten Wochen hatten vielfältige Aktionen des Bündnisses Letzte Generation für Aufsehen gesorgt. Die Aktivist*innen klebten sich an Straßen fest oder schütteten Suppe auf berühmte Gemälde. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Auf Twitter bezeichnete der Berliner FDP-Mann Sebastian Czaja die Aktivist*innen als „Klima-Kriminelle“, die „unser Land“ und „unsere Demokratie“ hassen. Der Journalist Reinhard Müller fabulierte in der FAZ gar von einem beginnenden „Terror“, den man aktiv „bekämpfen“ müsse, während der Ex-LINKE Fabio de Masi nicht davor zurückschreckt, die Aktivist*innen als gekaufte Interessenvertreter des Kapitals zu brandmarken: „Wäre ich ein Boss der Öl-Industrie, würde ich mir ein paar Oberschichten-Kids buchen, um destruktive Aktionen gegen den Klimawandel zu starten! Läuft …“. Zudem sei dies alles nur „mutwillige Zerstörung von Kunst zur Befriedigung von Eitelkeiten und dem Anliegen nicht angemessen“. Die linke Journalistin Ines Schwerdtner wiederum sieht bei der Letzten Generation narzisstische Selbstdarstellung am Werk, die der „Selbstinszenierung einiger erleuchteter Aktivistinnen und Aktivisten“ diene und darüber hinaus widerrechtlich militante Aktionen „indigene[r] Völker“ aneigne. Diese würden sich „gegen eine Öl-Pipeline mit dem Leben wehren“, während ein „Kunststudent“, der sich an „die A1 klebt“, nur eine „Geldstrafe befürchten muss“. Die Aktionen verschreckten zudem diejenigen, „die man eigentlich gewinnen will“. Es muss dazu an dieser Stelle erwähnt werden, dass mittlerweile Klimaaktivist*innen, die sich in den Niederlanden an das Gemälde „Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ geklebt und es mit Tomatensoße beschmiert hatte, für zwei Monate in Haft müssen. Zudem betonte zum Beispiel der Aktivist und Autor Maurice Conrad, dass „Sympathie oder Antipathie gegenüber denen, die sich das Thema Klimaschutz zu eigen machen, höchstwahrscheinlich keine signifikante Auswirkung auf die politischen Mehrheiten für die politischen Maßnahmen“ habe (siehe dazu auch den Thread bei Twitter von Sven Hillenkamp). Diese oben genannten Argumente transportieren eine gewisse Bagatellisierung der Klimakrise, deren Auswirkungen längst als bedrohlich erkannt worden sind und ja auch den „Kunststudent“ betreffen, wenn auch in anderer Weise als z.B. Akteur*innen des Globalen Südens. Und nicht zuletzt sind auch im Jacobin-Magazin, sowohl von Ines Schwerdtner selbst als auch anderen Autor*innen, angesichts mächtiger Gegner die Notwendigkeit gemeinsamer Kämpfe betont worden. Dies sollte auch im Hinblick auf die Klimakrise nicht unterschätzt werden.

Das Argument, dass die Aktionen potentielle Unterstützer*innen der Klimabewegungen verschrecken, hat übrigens noch weitere prominente Fürsprecher*innen: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) äußerte anlässlich eines Staatsbesuchs in Japan ebenfalls, er befürchte, „dass es die breite gesellschaftliche Unterstützung für mehr und entschiedeneren Klimaschutz eher infrage stellt beziehungsweise uns die Chance raubt, diese Unterstützung noch größer werden zu lassen.“. Und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sekundierte: „Diese Aktivisten stellen sich über das Gesetz und greifen zu Mitteln, die dem wichtigen Anliegen des Klimaschutzes nicht nutzen, sondern erheblich schaden.“ Gleichzeitig ermunterte die Ministerin die Polizei, die „Straftäter […] schnell und konsequent“ zu verfolgen und verurteilte „Übergriffe gegen demokratische Institutionen und Parteien“.

 

Klimapragmatismus von oben

Diese plötzliche Einigkeit einiger linker Stimmen, konservativer Akteur*innen und regierender Sozialdemokrat*innen bezüglich der Bewertung von Protestformen ist auffällig. Die Aktivist*innen werden als außerhalb der demokratischen Ordnung stehend diffamiert, sie werden als psychisch anormal, vom Kapital gekauft oder als Gewalttäter und Terroristen gebrandmarkt, die man mit Polizeigewalt bekämpfen müsse. Zudem wird die Verantwortung von Politiker*innen an den ungenügenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise weggeschoben. Gerade die Wortwahl vom „Terror“ und von außerhalb der Demokratie stehenden Klimabewegungen schafft einen extrem wirkmächtigen Diskurs, der zu gewalttätigem Vorgehen gegen die Aktivist*innen geradezu einlädt und offensichtlich auch der Selbstjustiz Tür und Tor öffnet. Die Diagnose psychischer Anomalie, etwa in dem gebetsmühlenartigen Gerede der BILD-Zeitung von „Klima-Chaoten“ oder „Klima-Hysterie“, erzeugt dazu passend das Bild von Menschen, mit denen man nicht mehr reden und die man daher nur noch einsperren, therapieren oder ausschließen könne. Angesichts der nur zögerlichen Maßnahmen derjenigen Regierung – die die jetzige Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) zu allem Überfluss auch noch als „letzte Regierung, die noch aktiv Einfluss auf die Klimakrise nehmen kann“ bezeichnet hatte – zur Bekämpfung der Klimakrise sind dies äußerst bedenkliche Einordnungen der Proteste. Denken wir daran, wie lange es gedauert hat, eine funktionierende Gaspreisbremse durchzusetzen oder in welcher „Erbsenzähler“-Mentalität etwa über die Fortsetzung des 9-Euro-Tickets gefeilscht wird. Wenn die Politik selbst sagt, wir seien die letzten, ist die apokalyptische Rhetorik der Aktivist*innen auch ein Effekt und eine Wiederholung dieses Teils des herrschenden politischen Diskurses, der sich derzeit krampfhaft um Abgrenzung bemüht.

Die apokalyptische Rhetorik stammt also nicht nur von den Aktivist*innen der Letzten Generation, sondern wird eben auch, wie oben gesehen, von Grünen-Politikerinnen in die Waagschale geworfen. Wenn die „letzte Regierung, die noch aktiv Einfluss auf die Klimakrise nehmen kann“, sich bei jeder Maßnahme zur Bekämpfung der Krise auffallend kompromissbereit mit regressiven politischen Kräften zeigt, was ist dann der Effekt dessen? Der Filmanalytiker Wolfgang M. Schmitt und der Soziologe Stefan Schulz stellten in ihrem Podcast „Die neuen Zwanziger“ fest, dass diese sich semantisch radikal und rigoros gebende Rhetorik der Grünen vor allem dazu diene, den eigentlich kompromissbereiten strukturellen Pragmatismus ihrer Politik zu übertünchen, Proteste etwa von Teilen der Klimabewegung für diese pragmatische Politik zu vereinnahmen, die dadurch progressiv erscheint. Und gleichzeitig werde eine Politik der nicht zu überschreitenden roten Linie gefahren, die sich von zu radikalen Forderungen distanziert und diesen dann unterstellt, sie torpedierten die grüne Klimapolitik. Das Ergebnis dieser Gemengelage wiederum sei, so die beiden Podcaster, paradoxerweise eine Art Zähmung der Klimabewegungen, der sich in politischen Kompromissen äußere, um den Rückhalt bei den Grünen nicht zu verlieren. Diesen angesprochenen Zähmungseffekt kann man zum Beispiel darin erkennen, dass die Aktivist*innen der Letzten Generation als Ziel ihrer Aktionen plötzlich formulieren, man wolle mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ins Gespräch kommen.

Ob die Aktivist*innen nun vereinnahmt oder aus dem demokratischen Diskurs ausgeschieden werden: immer passiert dies zugunsten einer strukturell pragmatischen Politik, die festlegt, was die Grenzen des Möglichen sind und zur Stabilisierung dessen vor allem immer wieder reflexartig auf bisher Erreichtes verweist. Akteur*innen, die dieses Erreichte kritisieren, werden zu Psychopathen oder Terroristinnen erklärt, die man mit einer paternalistischen Pädagogik oder mit polizeilichen Maßnahmen zur Räson bringen müsse. Ihnen wird ein demokratiefeindliches Gebaren unterstellt, das mit der Behauptung eines respektlosen Verhaltens gegenüber der Hochkultur moralisch abgesichert wird. Gerade diese Diskursstrategie wirft das Licht noch auf ein anderes Problem.

 

„Unsere Kunst“ und „deren Schuld“

Denn die abwertende Rhetorik zur Verunglimpfung oder Vereinnahmung bestimmter politischer Protestformen ist nicht alles, was in diesem Kontext verhandelt wird. In den Debatten offenbart sich ein bestimmtes Kunstverständnis, das Kunst zentral mit Zugehörigkeit verknüpft. In einem Artikel der Mitteldeutschen Zeitung etwa wird der sachsen-anhaltische Kulturstaatsminister Rainer Robra (CDU) mit der Meinung zitiert, die Aktionen seien „vorsätzliche Angriffe“ und eine „Gefahr für den Schutz unserer Kulturgüter“. Man werde bessere Sicherheitsvorkehrungen prüfen. Der Deutsche Verband für Kunst­geschichte insistiert auf dem „Wert der Bewahrung einer lebenswerten Welt, deren Verteidigung es legitimiert, sich der gesellschaftlich anerkannten Werthaltigkeit von Kunstwerken zu bedienen“. Der Verband wolle diese Werte bewahren, nicht aus Selbstzweck, sondern „weil die Erhaltung, Erforschung, Präsentation und Vermittlung von Kunstwerken als Zeugnissen des kulturellen Erbes künftigen Generationen dienlich sein soll“. Und der Verband der Restauratoren (VDR) fügte an, dass „die Schönheit unserer Welt […] nicht zu bewahren [sei], indem schöne Kunstwerke angegriffen werden. Das geht auf Kosten unseres Kulturgutes, das ebenso schützenswert ist wie unsere Umwelt“. Immerhin sei der Verband im Katastrophenfall mit der Rettung „unseres gebauten Kulturerbes, unserer Geschichtszeugnisse und weiterer identitätsstiftender Kulturgüter betraut“.

Auffällig ist hieran zweierlei: erstens die offensichtliche Heuchelei des Vorwurfs der Respektlosigkeit und des fehlenden ästhetischen Sinns. Denn in den letzten Jahren gehören regelmäßige finanzielle Kürzungen, oder deren Androhung, im Kulturbereich zum guten politischen Ton: sei es der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), das Goethe-Institut, die Uni oder die Oper in Halle und nicht zuletzt die freie Szene der Stadt. Einher geht diese sprichwörtliche Abwertung der Kultur und Kunst mit regelmäßigen Wertschätzungen ehrenamtlicher Arbeit, also mit Kultur, deren Unterhalt die Politik praktisch nichts kostet. Den Aktivist*innen fehlenden Kunstsinn zu unterstellen, während man im selbsternannten Land der Dichter und Denker ständig Mittel kürzt oder, wie in der Coronazeit, nur für einen gewissen Zeitraum zur Verfügung stellt, ist also eine reine Ablenkungsstrategie.

Zweitens ist mehr als auffällig, dass im Kontext der Aktionen der Letzten Generation so eindeutig ein „Wir“ beschworen wird. Diesem „Wir“ gehört sozusagen die Kunst, es darf über die Kunst als Eigentum verfügen und hat vor allem die Deutungsmacht darüber, was die Kunst „ist“,  was sie aussagt und wie mit ihr umzugehen sei. Außerdem ist der Zugang zu diesem „Wir“ streng begrenzt, wie man teilweise schon am Namen ablesen kann: Stiftung Preußischer Kulturbesitz etwa, deren Präsident Hermann Parzinger sich angesichts einer Aktion in der Alten Nationalgalerie „erschüttert über diesen weiteren sinnlosen Angriff auf die Kunst“ zeigte. Dem „Wir“ wird eine wahrhaft königliche Geschichte eingeschrieben, die den Besitz der Kunst historisch legitimiert und ihn gleichzeitig sozialen Gruppen abspricht, die „sinnlos“ oder „mutwillig“ handeln und dementsprechend nicht Teil des kunstbesitzenden und daher -wertschätzenden „Wir“ sein dürfen oder sich den Eintritt in ein Museum schlicht nicht leisten können; und das, obwohl die Ausstellung der meisten der mit Soße begossenen Gemälde von öffentlichen Geldern finanziert wird. Es ist alles andere als ein Zufall, dass Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) im Kontext von Tomatensoßen und Kartoffelbrei ausgerechnet in der Beschädigung fremden Eigentums den wahren Angriff dieser „Aktionen“ gegenüber „unersetzlichen Kulturgütern“ erkannt haben will. Wer „unsere“ Kunst angreift, verstößt in dieser Logik in erster Linie gegen das Eigentumsrecht. Nun fragt sich an dieser Stelle dann, wie dieses „Wir“ eigentlich charakterisiert ist, das sich hier im Besitz der Kunst wähnt? Und vor allem, wie ist es in den Besitz der Kunst gekommen?

 

Die Rückkehr des kolonialen Besitzstandes

Der Verweis auf Hermann Parzinger und seinen preußischen Kulturbesitz führt nämlich noch auf eine andere Form von Gewalt, die dieses besitzende „Wir“ konstitutiv begleitet. Denn seit den Forschungen etwa der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und des Ökonomen Felwine Sarr oder des Historikers Götz Aly über in der Kolonialzeit geraubte Kunstschätze ist ans Licht gekommen, auf welche Art und Weise die preußische Kultur in den Besitz ihres Eigentums kam. Wie die Autor*innen feststellten, spielte die oben erwähnte Rettungsmetapher, die heute auf die Klimaaktivist*innen angewandt wird, eine wichtige Rolle für die Legitimierung des kolonialen Kunstraubs. Die Deutschen behaupteten einfach, dass die ursprünglichen Eigentümer*innen nicht in der Lage gewesen seien, für den Schutz und die angemessene Aufbewahrung der Kunstobjekte einzutreten und dass man deswegen die Bewahrung der Schätze in kompetente, das heißt europäische Hände habe geben müssen: the white man’s burden. Eine bedeutende Rolle spielten dabei so genannte Strafexpeditionen der damaligen deutschen Marine, in der Kriegsschiffe bei ihren Kriegszügen gleichzeitig im Auftrag von Sammlern und Wissenschaftlern nach Kunstschätzen fahndeten. Die Rede von der Rettung diente dazu, die Kultur- und Alltagsgegenstände kolonialisierter Menschen kostengünstig in seinen Besitz zu bringen und als kostbare Kuriositäten in den eigens gegründeten volkskundlichen Sammlungen und Museen auszustellen. Die Debatten um das Humboldt-Forum zeigen die bis heute anhaltende Verfügungsgewalt europäischer Kulturpolitik über die geraubte Kunst, die erst in jüngster Zeit allmählich und nach zähen Kämpfen hinterfragt wird.

Es ist in diesem Zusammenhang von einer gewissen Ironie, dass sich Aktivist*innen der Letzten Generation ausgerechnet an die Haltestangen eines Dinosaurierskeletts im Berliner Naturkunde-Museum klebten, dessen Knochen in der Kolonialzeit nach Deutschland gebracht wurden. Natürlich kam die Polizei, um das Treiben zu beenden. Denn an dieser Schnittstelle zeigt sich die enge Verwobenheit des immer wieder verdrängten kolonialen Diskurses um die geraubten Ausstellungsstücke in europäischen Museen einerseits und des gleichzeitigen Beharrens auf einem europäischen Besitz der Kunst, wenn es um radikale Klimaproteste geht, andererseits. Während man in bestimmten Bereichen zähneknirschend dazu übergeht, Restitutionen von Kunstschätzen an afrikanische Länder zuzulassen oder zumindest zu erwägen (O-Ton Hermann Parzinger, März 2022: „Wir haben gesagt, […] dass es eine vollständige Eigentumsrückübertragung gibt, denn der Unrechtskontext ist klar […].“), wird im Klimadiskurs plötzlich wieder mit polizeilichen Mitteln der koloniale Besitzstand verteidigt. Klimaaktivist*innen greifen jetzt wieder unrechtmäßig das an, was plötzlich wieder „unsere“ Kunst ist. Der Einwurf von Ines Schwerdtner, dass weiße Jugendliche unrechtmäßig indigene Protestpraktiken kopierten und entwerteten, beschreibt das Phänomen, so könnte man sagen, genau falsch herum: nicht die Klimaaktivist*innen reaktivieren koloniale Muster, sondern die deutschen Verteidiger des Kunstbesitzes tun es, um die Aktionen der Aktivist*innen moralisch zu entwerten. Und sie werfen dazu ihre ökonomische und politische Macht in den Diskurs. So werden nebenbei auch antirassistische und Klimabewegung über einen paternalistischen Kunstbegriff, der ein europäisches Eigentum schützt, gegeneinander ausgespielt. Die Kunst als Eigentum herrschender Interessen dient dazu, die Klimabewegung in Botmäßigkeit zu halten und radikale Praktiken zur Durchsetzung von Forderungen nach einer Bewältigung der Klimakrise zu delegitimieren. Dazu wird stillschweigend der koloniale Diskurs von einem europäischen Besitzrecht an Kunstschätzen herangezogen.

 

Rationale Apokalyptik

Es scheint so, dass die Kombination aus einem Diskurs der politischen Eskalation (Terror, psychische Anomalie, Polizeigewalt), einem Diskurs der politischen Beschwichtigung und Vereinnahmung (rigorose Rhetorik, pragmatische Politik) und einem verdeckten kolonialen Diskurs eine wirkmächtige Allianz bildet, radikale Forderungen der Klimabewegungen, etwa nach Überwindung des Kapitalismus oder sozialer Umverteilung, zu delegitimieren. Der Anspruch der Klimabewegung, die Bewältigung der Klimakrise mit der Etablierung einer gerechteren Gesellschaft zu verbinden, wird untergraben dadurch, dass man gewisse Praktiken eines Teils der Klimabewegung als unnormal klassifiziert und auf die gesamte Bewegung überträgt. Nicht anders ist zu erklären, warum Luisa Neubauer als Vertreterin der Fridays for Future im ZDF plötzlich um eine Stellungnahme zur Letzten Generation gebeten wird. Die Klimabewegung wird zum kollektiven Klima-Chaoten, die BILD-Zeitung und die Mächtigen in der Kulturpolitik scheinen gewonnen zu haben.

Doch, was ist der Effekt der Proteste der Letzten Generation? Welche Ergebnisse liefert die Tomatensoße? Egal, wie man das Vorgehen der Letzten Generation auch letztlich bewerten mag: Die Praktiken der Aktivist*innen offenbarten in den Reaktionen, die sie heraufbeschworen haben, die nach wie vor ungebrochene politische Macht kolonialer Diskurse im Umgang mit der Rolle von Kunst im Kontext der Klimakrise, die in den aktuellen Restitutionsdebatten als beginnende Vergangenheitsbewältigung verkauft werden. Insofern haben die Proteste entscheidend dazu beigetragen, diese kolonialen Verwobenheiten ans Licht zu bringen. Sie leisten, gerade mit ihrer apokalyptischen Rhetorik, insofern diesen wichtigen Beitrag zum Umgang mit der Klimakrise, als hier die Bewältigung der Klimakrise mit einer Logik der Überwindung kolonialer Denkmuster verbunden wird. Die Aktionen der Letzten Generation sind in diesem Zusammenhang eine wahrhaft rationale Apokalyptik und alles andere als sinnloses Geplänkel.

 

Hauke Heidenreich

… ist Mitglied der Transit-Redaktion und arbeitet als Historiker am Grünen Band Sachsen-Anhalt.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.