Bildungsnotstand macht Schule

Der alljährliche Aufschrei um schlecht ausgestattete Schulen läuft mal wieder ins Leere

von | veröffentlicht am 11.09 2018

Beitragsbild: Transit

Es ist mittlerweile zum Ritual geworden, dass zum Schuljahresbeginn alle aufgeregt über die schlechte Ausstattung der Schulen in Deutschland berichten. Jedes Jahr erfolgt dies routinierter. Dabei besteht hier zunehmend ein ernstzunehmender gesellschaftlicher Schaden zu befürchten. Auch und gerade in Sachsen-Anhalt.




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Gerade als die Medien der großen Bildungsnation sich anschickten ausdauernder über einen flächendeckenden Bildungsnotstand in Deutschland zu berichten, da stürzte sich zunächst ein schwarz-rot-gold behuteter sächsischer LKA-Mitarbeiter ins Kreuzfeuer der Kamerascheinwerfer, bevor sich direkt im Anschluss eine ganze mittlere Großstadt ins Visier der bundesdeutschen und ganz schnell auch internationalen Aufmerksamkeit schob.

Nicht schnell genug reagiert

Für ein Land, in dem Schulbildung von der Verfassung verordnet wird, wohl auch mit dem Ziel deren Fortbestand zu unterstützen und gegen oben genannte Personen und deren Geistesbrüder zu schützen, ist das alljährliche Aufschrei-Ritual mit anschließendem Verschwinden aus dem Newsstream ein Armutszeugnis. Denn um eben jene Schulbildung, die vor allem Chancengleichheit in einem fragwürdigen Wettbewerb um gesellschaftliche Teilhabe garantieren soll, steht es immer schlechter. Und so ist es auf mittlere Sicht schade, dass hier ein schleichender Notstand – ein milderer Begriff trifft den Ernst der Lage nicht mehr – scheinbar schon wieder aus den Kurzzeitspeichern der Republik entfernt wurde, bevor er sich im Langzeitgedächtnis festsetzen konnte. Es wäre nicht der erste Schuljahresbeginn, zu dem dieses Phänomen zu beobachten ist. Weder in ganz Deutschland, noch in Sachsen-Anhalt.

Dabei durfte man zuvor noch das Gefühl bekommen, dass das Thema endlich an entscheidenden Stellen der Bundespolitik angekommen war, während die Kultusminister*innen aller Länder vereint darin waren, das Problem in der Öffentlichkeit als kontrollierbar darzustellen, und sich gleichzeitig nahezu verzweifelt gegenseitig die letzten freien Lehrköpfe abjagten. Kein geringerer als CDU-Unionsfraktionschef Volker Kauder nahm noch am 27. August, mittendrin im aufkeimenden Sachsen-Trend, den “Bildungsnotstand” höchstpersönlich in den Mund und äußerte sein Unverständnis, warum “trotz der steigenden Geburtenzahl nicht schnell genug reagiert” worden sei.

Eine berechtigte Frage. Und sicher ist die Antwort nicht ganz so einfach wie sie im Folgenden lauten wird: Der ansteigende Trend bei den Geburten fiel mit dem fatalen finanzpolitischen Trend der “Schwarzen Null” oder “Schuldenbremse” zusammen, der mit der weltweiten Bankenkrise 2008 seinen Anfang nahm. Statt sich über das vorher doch so herbeigeflehte Wachstum der jüngsten Altersgruppen in Deutschland zu freuen und sich darauf vorzubereiten, wurde auf Basis älterer, Schrumpfung verheißender Prognosen eine beispiellose Schrumpfung unter anderem des öffentlichen Dienstes verordnet, während zusätzlich dringend notwendige Investitionen in öffentliche Infrastruktur, egal ob Schulgebäude oder Straßenbrücken, ausblieben.

Dramatische Zahlen

Während die Zukunft also bereits fleißig im Kinderwagen über holprige Pflasterstraßen geschoben ward, wurde deren Zukunft vielleicht um ein paar Schulden auf dem Papier entlastet, dafür allerdings auch in Kauf genommen, dass deutlich greifbarere Schulden mittlerweile stärker Realität geworden sind, als sich sämtliche ehemalige Kultusminister_innen in ihren schlimmsten Alpträumen nicht hätten ausmalen können. Mittlerweile wird beim Schulbau von einem Investitionsstau in Höhe von 48 Milliarden Euro gesprochen. Zudem beklagt der Deutsche Lehrerverband, dass derzeit sage und schreibe 40.000 ausgebildete Lehrkräfte fehlen. 10.000 Lehrerpersonalstellen seien überhaupt nicht besetzt. Allein an den Grundschulen würden bis 2025 (!) 35.000 Lehrkräfte fehlen.

Wenn Heinz-Peter Meidinger, Präsident des “Deutschen Lehrerverbands”, angesichts dieser Zahlen befürchtet, dass nun im Grundschulbereich „in manchen Bundesländern eine ganze Schülergeneration Schaden nimmt“, dann ist das keine Panikmache, sondern nüchterne Realität. Neben Berlin, hier konnte zum neuen Schuljahr “nur jede siebte offene Stelle mit ausgebildeten Grundschullehrern” besetzt werden, und Sachsen, hier war bereits im März von dramatischen Zahlen die Rede, steht es vor allem auch um Sachsen-Anhalt ziemlich schlecht.

Aufgrund des drastischen Bevölkerungsrückgangs in den 90er- und Nullerjahren konnte sich die Bildungspolitik im Land an der Elbe und Saale lange Zeit den Luxus leisten, die Anzahl der wöchentlich erteilten Unterrichtsstunden hochzuschrauben – viele Schüler_innen + viele Lehrer_innen = mehr Unterricht – und bei der Anzahl der Neueinstellungen zu knausern. Als dann der auch hierzulande allmähliche Geburtenanstieg auf die absehbare Ruhestandswelle stieß, wurde diese sogenannte Stundentafel schließlich wieder heruntergeschraubt. Und als hierbei das Ende der Fahnenstange erreicht war, wurde zähneknirschend wieder verstärkt eingestellt.

Wer erinnert sich noch an die zum Teil öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen zwischen Kultusminister Dorgerloh und Finanzminister Bullerjahn (beide SPD!) um die notwendige Höhe der Neueinstellungen? Bullerjahn, immerhin zehn Jahre im Amt und in dieser Zeit ein knallharter Verfechter der Schuldenbremse, hatte bis zum Ende seiner Karriere die Zeichen der Zeit nicht erkannt und sich in allen Bereichen gegen Personaleinstellungen gewehrt. Im Gegenteil ließ er sich dafür feiern, den öffentlichen Dienst in Sachsen-Anhalt auf ein benchmark-gerechtes Maß zurechtgestutzt zu haben.

Das Ergebnis schlägt nun Jahr für Jahr härter zu: Ausgeschriebene Stellen können nicht mehr vollständig besetzt werden, selbst wenn die Einstellungskriterien mittlerweile deutlich gelockert wurden. Jedes Jahr gehen mehr Lehrkräfte in den Ruhestand als durch Neueinstellungen kompensiert werden können – und dies bei einer wachsenden Zahl an Schüler_innen. Allein für dieses Schuljahr wurden in Summe 100 bis 200 Lehrkräfte weniger im Unterricht erwartet als im Vorjahr und das bei einer ohnehin schon äußerst knappen Versorgungslage und einem hohen Altersschnitt der Kollegien in den über 800 Schulen des Landes.

Gesellschaftliche Spaltung

Was die Zahlen nicht mitteilen können, sind die Auswirkungen auf die Schulausbildung, wenn zu viele Lehrkräfte fehlen oder nicht als Lehrkräfte ausgebildete Menschen unterrichten. So schön ein Gebäude auch saniert sein kann: Letztlich kommt es für den Bildungserfolg von Schüler_innen auf die konkreten Personen an, die vor den Klassen stehen. Und diese haben in der Grundschule bspw. die unwahrscheinlich wertvolle wie komplexe Aufgabe, in der Regel mehr als 20 sehr verschiedenen Schüler_innen Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen und “nebenbei” noch etwas Kultur- und Wertevermittlung zu betreiben. Dabei sollen sie nicht nur auf das unterschiedliche Lerntempo der Kleinen Rücksicht nehmen, sondern auch Schüler_innen mit besonderen Förderbedarfen ebenso inkludieren, wie junge Zugewanderte, die zuvor noch kein Wort Deutsch sprechen konnten. Und dies während der Unterrichtszeit in der Regel ganz allein.

Respekt vor diesem Job bekommen (denn der fehlt hierzulande leider viel zu oft)? Es geht noch prekärer: Angesichts des Lehrkräftemangels fallen nun nämlich immer mehr Unterrichtsstunden aus, müssen vertreten werden, bei Schwangerschaft und Krankheit gibt es keine Vertretungsreserve. In einigen Schulen ist dies mittlerweile ein Dauerzustand, insbesondere in jenen, die eigentlich deutlich mehr personelle Ressourcen benötigen, als die Regel vorsieht. Ganz zu schweigen davon, dass der Lese-, Rechtschreib- und Matheunterricht perspektivisch immer öfter in den Händen von Menschen landet, die nie gelernt haben, so etwas zu vermitteln.

Während sich die leistungsstärkeren Schüler_innen vielleicht schon irgendwie durchboxen werden, dürften vor allem die Leistungsschwächeren auf der Strecke bleiben – jene, die von Anfang an eine intensivere Förderung benötigen oder während ihrer Schulzeit aus ganz unterschiedlichen Gründen in Schwierigkeiten geraten. Schon vor Jahren war die Schulabbrecherquote in Sachsen-Anhalt besonders hoch. Ein Anstieg in den kommenden Jahren könnte unmittelbare Folge der jetzigen Misere sein. Und wenn der Abschluss nicht gefährdet ist, so sind es vielleicht im Anschluss der Ausbildungs- oder Studienplatz bzw. der Ausbildungs- oder Studienabschluss, weil während der Schulzeit wichtige Grundlagen nicht erworben werden konnten. Von Begabungsförderung und Chancen auf nationale wie internationale Spitzenförderung mal ganz zu schweigen.

Nun kann man Wettbewerb im Bildungswesen grundsätzlich ablehnen und für moralisch verwerflich erklären – das hilft allerdings jenen nicht, die bereits im System unterwegs sind und nicht den Luxus genießen, sich sagen zu können: “das tue ich mir nicht an”. Insbesondere die schwächeren Schüler_innen in Deutschland kommen überproportional häufig aus den gesellschaftlich benachteiligten bis abgehängten Milieus. Gerade für sie wird der oben genannte Grundsatz der Chancengerechtigkeit im leider stattfindenden Kampf um gesellschaftliche Teilhabe künftig vor allem in den Ländern mit starkem und andauerndem Lehrkräftemangel noch deutlicher verfehlt, als bislang ohnehin schon.

Was das für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeutet, der mit Blick auf Chemnitz, Köthen und Co. derzeit wieder viel beschworen wird, ist nicht sonderlich schwer zu erahnen: Er wird weiter leiden, weil die Schere zwischen gesellschaftlichen “Gewinner*innen” und “Verlierer*innen” weiter auseinandergehen wird – ebenso gefühlt wie statistisch. Mit allen unschönen Konsequenzen, die das für eine Gesellschaft haben kann. Der aktuelle Bildungsbericht 2018, der von einer unabhängigen Forschungsgruppe immerhin im Auftrag von Ländern und Bund erarbeitet wird, zeigt schon jetzt “eine verfestigte Spaltung zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern an den oberen und unteren Rändern”.

Nun bringt es nicht mehr allzu viel, nach Schuldigen zu fahnden, auch wenn das immer noch groß in Mode ist. Schließlich lässt sich die Zeit damit nicht zurück drehen. Was es braucht, sind konstruktive und kreative Lösungen jenseits des sich jährlich wiederholenden Schreiens nach mehr Lehrkräften, die es physisch nun mal nicht mehr gibt – zumindest noch nicht, wenn es die Hochschulen schaffen, ihre schwerfälligen Lehrerbildungsmaschinerien wieder hochtouriger laufen zu lassen. Lösungen, wie eine qualitativ hochwertige Qualifizierung von Quer- und Seiteneinsteigern, die auch im fortgeschrittenen Berufsleben noch auf Lehrkraft umschulen wollen. Oder vielversprechende Ansätze, Unterricht nicht mehr wie im 19. und 20. Jahrhundert zu organisieren. Oder auch einfach nur eine verlässlichere Schulverwaltung, die den Schulen jene Arbeit vom Halse hält, die nicht primär pädagogisch ist. Die Flexibilität, die von Kollegien und Schulleitungen seit Jahren immer stärker eingefordert wurde, sucht man in den Schulbehörden nämlich immer noch allzu oft vergeblich.

Bund und Länder sind sich ja offenbar dabei einig, dass Bildung sich “für jeden Einzelnen und die Gesellschaft” lohnt. Man dürfte in Deutschland kein Schulgesetz finden, in dem nicht irgendwie steht, dass Schule allen Schüler_innen individuell gerecht werden soll. Dabei versagt sie allerdings gerade flächendeckend – mit dem Ergebnis, dass sich die soziale Spaltung in Zukunft weiter verschärfen wird, dass wieder ein wenig mehr Immunisierung gegen einfache Versprechungen von Rechts und den Reiz der Zugehörigkeit zu einer sich gegenüber Minderheiten mächtig fühlenden Gruppe verloren geht. Ein doppelter Schaden: für viele individuelle Lebensläufen wie für den weiteren gesellschaftlichen Fortschritt.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.