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Die Indie-Szene in Halle gibt es noch (und wieder).

von | veröffentlicht am 17.03 2022

Beitragsbild: Leyas Crave

Die Indie-Szene in Halle gibt es noch (und wieder). Das zeigen Leyas Crave eindrücklich mit ihrer ersten EP „The Weight of the Soul“.




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Spätestens durch das überregionale Auftreten hallescher Bands wie Baby Universal, Annisokay oder Sorry3000 ist klar, dass die lokale Indieszene ihre Blüten treibt und immer wieder Bands hervorbringt, die sich in den Genres GarageRock, IndieRock oder Alternative pudelwohl fühlen. Insbesondere seit den 2010er Jahren treten in der Saalestadt und Umgebung verstärkt Bands auf, die IndieRock und Artverwandtes anscheinend in erster Linie als eine Alternative zu den musikalischen Richtungen, oder besser: Unrichtungen verstehen, die das Monopolgebilde aus Streaming-Plattformen und Major Labels vorgibt. In einer Zeit, in der sich Künstler*innen, Produzent*innen und Bands gegenseitig kreativ unterbieten im Bestreben, Songs kürzer, oberflächlicher und „more catchy“ zu machen, um für ein paar Cent-Bruchteile möglichst viele Streams pro Stunde zu ergattern, in der professionelle Songwriter-Teams Stücke auf Algorithmus-generierte Kund:innengeschmäcker trimmen, bieten Ambient oder PostRock anscheinend die Möglichkeit, sich der von der Musikindustrie diktierten Suche nach einem eigenen Stil zu entziehen. Genres werden nach Belieben miteinander verquickt, ohne an die Drei-Minuten-Länge oder die Refrain-Oh-Oh-Refrain-Struktur radiotauglicher Popsongs gebunden zu sein.

Einen der neuesten Würfe aus der Ecke Ambient macht die Band Leyas Crave aus Halle mit ihrer im Januar erschienenen ersten EP unter dem (vielleicht etwas esoterisch klingenden) Titel „The Weight of the Soul“. Schon das Line Up der Band lässt freudig aufmerken: Pianistin/Sängerin Dinah Moreira, Gitarrist Sven Schneider, Cellistin Annalena Buchholz und Schlagzeuger Claudius Förster zeigen, dass hier offenbar abseits bisweilen etwas ausgetrampelter Zwei-Gitarren-Bass-Schlagzeug-Indiepfade nach musikalischer Inspiration gesucht wird; auch, und, wie man doch zugeben muss, gerade wenn diesen Pfaden immer wieder sehr schöne Töne entlockt werden.
Was mir beim ersten Mal hören sofort ins Auge (beziehungsweise Ohr) sticht, ist die ausgefeilte Produktion, die mich sofort an Filmmusik-Level erinnert hat und das Ergebnis eines Crowdfunding-Projekts der Band ist. Instrumente und Stimmen sind perfekt aufeinander abgestimmt, der Bandsound wirkt aufwendig durcharrangiert, jede*r in der Gruppe spielt exakt das, was er oder sie soll. Die Sängerin Dinah glänzt mit einer distanzierten, sehr ausdrucksstarken Stimme, die gerade in ihrem Verzicht auf pathetische Koloraturen eine starke Kraft entfaltet. Eine gewisse Prise Rotzigkeit hätte dem Arrangement meiner Meinung nach dabei sicher nicht geschadet. Gitarren-Feedbacks, wildere Instrumentalteile, Tempowechsel oder Drumbreaks vermisst man, alles wirkt stimmig und aus einem Guss. Nur im Intro des Songs „The Room“ blitzt dieses Dissonante kurz ein wenig auf. Davon kann es zukünftig ruhig mehr geben – gerade in einem Stück, das den vielversprechenden Titel „Riot“ trägt. Wie schön wäre hier zum Ende hin ein ordentlicher Gitarrensturm gewesen. Gerade Größen des NoiseRock wie Sonic Youth oder The Jesus and Mary Chain drücken ja das musikalisch konkret aus, worum es thematisch in den Texten von Leyas Crave abstrakt immer wieder geht. Und das auf eine zerbrechliche Art und Weise, ohne dabei gleich den großen StadionRock-Hammer zu schwingen. Da hätten sich bestimmt einige weitere sehr produktive Überschneidungen ergeben können.

Trotz der abstrakten melancholischen Musik hat man das Gefühl, immer irgendwie ein stimmiges, konkretes Bild im Kopf suchen zu müssen, das der passende Gegenstand für diesen Soundtrack sein könnte: etwas Tristes in Grautönen, ein abgestorbener Wald z.B., wie es in den Lyric-Videos der Band auf YouTube zu sehen ist, deren Bilder man als Drucke erwerben kann. Auch textlich bleibt es weitgehend abstrakt, und, dem EP-Titel folgend, etwas esoterisch, aber nicht beliebig: Themen wie Identität, Suche nach Wahrheit und nach dem Selbst dominieren die Platte. Gerade abstrakte Texte haben ja den großen Vorteil, dass man nicht mit dem erhobenen Zeigefinger eine fertige politische oder musikalische Identität gereicht bekommt, die man dann nur noch reproduzieren oder konsumieren muss. Die Texte geben viel Raum für Interpretation, ohne sich dabei jeglicher Frontstellung zu enthalten: die allgemeine Schnelllebigkeit und das Sich-Verlieren in „endlosen Debatten“ („Silence“) werden angeprangert. Dem folgt eine Klage über die Oberflächlichkeit der Zeit, in der „jede*r in seinen eigenen Kreisen rennen muss“, wo man trotz oder gerade wegen angestrengten Umher-Reisens („Odysee“) nicht vom Fleck kommt; letzteres liefert ein treffendes Understatement zu der vermeintlichen Weltoffenheit derer, die „die ganze Welt“ gesehen zu haben behaupten. „Wo ist in all den Worten die Liebe“ wird sich mit verzweifeltem Unterton gefragt. Und natürlich das große Lob an die eigene Mutter mit der folgenden, etwas unfreiwillig komisch daherkommenden Mahnung, dass „nur die gedeihen können, die von der Sonne gewärmt werden“ („Distant“). Die Zeile wiederum, wonach alles seinen rechten Gang geht, wenn nur die Blinden ihrem „Guide“ folgen (Silence), fällt mir in diesem Zusammenhang eher negativ auf.

Gerade in diesen bedeutungsschweren Kontexten hätte ich mir etwas mehr Distanz zum eigenen Ich gewünscht. Es scheint so, als sei das lyrische Ich, trotz seiner eigenen ausdrücklichen Unsicherheit, immer wieder imstande, allgemeingültige Beobachtungen zu formulieren, die gleich den Zustand der ganzen Welt betreffen zu scheinen müssen: „Wir gehen unter, andere werden sich erheben, wir rennen die ganze Zeit im Kreis, aber eines Tages lernt jeder Vogel fliegen“. In diesen Zeilen scheint es, als sei die Welt nichts weiter als eine Art ewige Wiederkehr des immer Gleichen, in der man nur noch auf Hilfe von außen oder oben hoffen könne; in der eben die Blinden eines Führers bedürfen, um den richtigen Weg zu finden. Zustände der Unsicherheit und Überforderung werden beschworen – „die Füße verlieren Halt, wir treiben durch die Nacht, es fühlt sich an, als würde man in einer anderen Zeit leben“ („The room“); ein „Monster“, das von innen her gegen den Körper aufbegehrt („Riot“) – und vor allem als bedrohlich und angsteinflößend dargestellt. Aber gerade in diesen Momenten von Unsicherheit können ja auch Momente der Selbstermächtigung liegen, die man textlich (und auch musikalisch) noch zentraler verhandeln könnte, um der Melancholie der Stücke eine gewisse Schärfe und Dringlichkeit einzuflößen. Denn in diesem augenblicksartigen Aufblitzen von Momenten („Odyssee“) liegen, so denke ich, eben nicht nur die Flüchtigkeit und das Unbeständige, sondern, wie Michel Foucault sagt, auch die Chance zu einer „Kunst der freiwilligen Unknechtschaft“, in der das Ich sich nicht nur als in gesellschaftlichen oder psychischen Kontexten gefangen, sondern auch als aufbegehrend und widerständig wahrnehmen kann, ohne sich gleich völlig über die Umstände erheben zu können.

Die distanzierten Lyrics und die weiche Stimme der Sängerin fügen sich wiederum manchmal fast zu perfekt in das abstrakte Gesamtwerk ein. Auch hier fehlen mir gewisse Ecken und Kanten, an denen man sich textlich und vom Bandsound her ein wenig stoßen könnte. Gerade das melancholische, immer wieder beschworene „ich bin kaputt und will nicht länger kaputt sein“ gibt eine Richtung vor, mit der man, finde ich, auch durchaus mehr brechen könnte. Die Musik hat aber hierin auch etwas Zwingendes und Ernsthaftes, das man dieser Tage selten bekommt. Die geschliffenen Arrangements zeigen zudem die herausragende Musikalität der vier Bandmitglieder.

Fakt ist, dass Leyas Crave mit ihrer ersten EP ein wirkliches Gesamtkunstwerk gelungen ist. Thematisch offen, textlich auf hohem Niveau und weit jenseits von Plattitüden, musikalisch ausgereift präsentieren die vier Musiker*innen ein durchdachtes und stimmiges Konzept, das man sich gerne anhört und das mir als ausgesprochenem Fan aller möglicher IndieRock-Spielarten viel Freude macht. Ich bin sehr gespannt, was von dieser Band in Zukunft noch zu hören sein wird.

Hauke Heidenreich

ist Historiker, Mitglied der Transit-Redaktion und zudem seit mehreren Jahren in Halle als Hobbymusiker tätig, derzeit als Sänger/Bassist der Indierockband The Jammin‘ Crapulous

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.