Lücken im Boden

Gestohlene Stolpersteine in Zeitz

Zeitz, 28. November 2024

Über die zehn gestohlenen Stolpersteine in der sachsen-anhaltischen Kleinstadt Zeitz, leere Stellen im Pflaster, 3D-gedruckte Repliken aus Kunststoff – und das zögerliche Sprechen über organisierte rechte Gewalt.

Ich hieve mein Fahrrad in den RE, biege links ab ins Zugabteil, lehne es an die Reling, steuere auf eine leere Vierersitzgruppe zu und setze mich an den kleinen Tisch am Fenster. Meine Finger sind rau und steif und kalt vom Radfahren. Ich balle meine Hände zu Fäusten, entspanne sie wieder und schiebe sie kurz unter meinen Wollschal, um sie an meinem Nacken zu wärmen.

Dann streife ich meinen Rucksack von den Schultern, platziere ihn auf den Nebensitz und öffne die Pressemitteilung der Stadt Zeitz auf meinem Handy. Sogleich springt mir ein Bild ins Auge: zwei grauhaarige Politiker, der linke in grünem Tweedjackett und beiger Hose, der rechte im blauen Anzug und weißem Hemd hocken auf dem Kopfsteinpflaster und blicken mit gerunzelter Stirn und ernstem Blick durch ihre Brillen direkt in die Kamera. Sie posieren mit den drei weiß leuchtenden Stolpersteinrepliken, die vor ihnen auf dem Bürgersteig eingelassen sind. Landrat Götz Ulrich und CDU Oberbürgermeister Christian Thieme, teilt mir die Pressemitteilung mit, die ich sogleich wieder schließe, weil ich schlechte Laune bekomme. Weil ich spät dran bin, weil das einzige Buch, das ich dabeihabe, eine „Einführung ins »Dritte Reich«“ ist und weil ich nicht weiß, was mich in Zeitz erwartet.

Das Brummen unter meinen Füßen wird lauter und ich lasse mich in den Sitz schieben, als der Zug sich träge und mechanisch in Bewegung setzt. Durch die Fenster fließt mattes, helles Grau und ich setze die Brille ab, platziere sie auf dem halbkreisförmigen Holztisch und warte, bis die Gläser nicht mehr beschlagen. Die dunkelblauen kleinen Quadrate des Pixelmusters auf dem Sitz gegenüber versinken in dem signalblauen, aufgerauten Stoffüberzug.

Die Gedenkveranstaltung in Zeitz hatte um 10:00 begonnen, jetzt ist es 11:13, und ich brauche mindestens noch eine Stunde, bis ich in der Innenstadt ankomme. Heute werden in der Stadt Zeitz an fünf verschiedenen Orten insgesamt zehn neue Stolpersteine verlegt. Ich möchte nach Mittag an einer Verlegung am Marktplatz teilnehmen und mir die 3D-gedruckten Stolpersteinrepliken anschauen, die heute wieder aus dem Boden genommen werden, und durch die bekannten Messingsteine ersetzt. Ich hoffe auch, Gunter Demnig zu treffen, den Konzept- und Aktionskünstler, der vor ungefähr 30 Jahren das Konzept der Stolpersteine entwickelte und als Graswurzelbewegung initiierte. Den ersten Stolperstein verlegte er ohne Genehmigung der Stadt am 16. Dezember 1992 vor dem historischen Rathaus in Köln anlässlich des 50. Jahrestags des Deportationsbefehls von Heinrich Himmler für Sinti und Roma. Er zeigt einen Ausschnitt aus den Ausführungsbestimmungen des Auschwitz-Erlasses und taucht immer wieder unentdeckt auf Hochzeitsfotos auf, die vor dem Rathaus gemacht werden.

Eine Stunde später bin ich in Zeitz und schiebe mein Fahrrad den Hügel hoch in Richtung Altstadt, weil ich gegen den kalten Wind, die Steigung und das grobe Kopfsteinpflaster nicht ankomme. Nach einigen Minuten erreiche in den Marktplatz. Keine Menschen, nur ein paar Autos stehen still auf der Parkfläche. Auch die Ladenfronten der Geschäfte und der beiden Cafés sind abgedunkelt. Ich schließe mein Fahrrad an eine Laterne und mache einen kleinen Spaziergang, weil ich noch Zeit habe bis zur Verlegung.

Vor über einem Monat wurden in Zeitz in der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober alle zehn Stolpersteine aus dem Boden gerissen und gestohlen. Bei einer kurzen Internetrecherche finde ich heraus, dass so etwas erst einmal passiert ist, 2012 in Greifswald, wo in der Nacht des 9. Novembers alle elf Stolpersteine ebenfalls herausgerissen und gestohlen wurden.

Der aktuelle Diebstahl in Zeitz sorgte bundesweit für Schlagzeilen: In wenigen Wochen wurden für die Finanzierung der neuen Stolpersteine über 50.000 Euro Spenden gesammelt, und parallel hatte eine Zeitzer Gymnasialklasse im Geschichtsunterricht mit einem 3D-Drucker Repliken aus weißem Kunststoff angefertigt, welche die Schüler*innen eigenständig an mehreren Tagen im Oktober verlegten.

Ich laufe zur Kramerstraße, wo um 10 Uhr die Gedenkveranstaltung stattgefunden hat. In der Straße stehen ein Pult und Lautsprecher und ich treffe dort eine Reporterin, die ihre Mikrofone in einen Koffer packt und nebenbei immer wieder etwas in einen aufgeklappten Laptop tippt. Ich frage sie nach der Veranstaltung und sie erklärt mir kurz angebunden von der Erstverlegung: „Ja, es waren einige da“, sie bückt sich, um ein Kabel vom Boden aufzuheben, „nicht viele, also, es war jetzt nichts Großes. “ Dann lächelt sie. Der Bürgermeister hatte eine kleine Rede gehalten. Ihr Handy klingelt und sie entschuldigt sich. Zu ihrer Linken liegen weiße Rosen auf dem kleinen grauen Pflaster vor einem Kaufhaus, zwischen dem weiß-grün glänzen drei kleine quadratische Messingplaketten, die an die Familie Mendelsohn erinnern.

Um kurz vor eins stehe ich an der Ecke am Neumarkt, vor dem 3D-Stolperstein für Auguste Levy. Vor mir schiebt eine ältere Frau mit grauweißen kurzen Haaren und einer fliederfarbenen Daunenjacke trotzig ihre ratternde Gehhilfe über das Kopfsteinpflaster. Ich knie mich hin, um den weißen Würfel zu berühren, fühle die leichten Rillen des 3D-Objekts und die Gravuren der Schrift, die gut zu lesen ist, weil sie sich durch den Dreck, der sich darin versammelt, dunkel von dem Weiß abhebt.

Neben mir taucht ein Polizist auf, wortlos tritt er einige Meter von mir entfernt auf der Stelle. Nun erkenne ich eine kleine Truppe von Menschen auf dem sonst leeren Marktplatz. Ein älterer Mann blickt mich freundlich an. Ich frage mich, ob das Gunter Demnig ist und bewege mich auf die Gruppe zu. Ich unterhalte mich mit den drei jüngeren Anwesenden, ein studentisches Filmteam aus Halle, die für ihr Masterprojekt eine Doku drehen. Dazu stoßen zwei in orange gekleidete, mit Schaufeln und Werkzeug ausgestattete Jungs von der Stadt. Wir laufen zum Stolperstein, der ältere Mann wendet sich mir zu und sagt dann in die Runde, er freue sich, dass jemand von außerhalb teilnimmt, dass ich heute Mittag die Einzige zu sein scheine.

Während der Boden aufgemacht wird, der 3D-Stein ausgegraben und alles akribisch von zwei aus dem Filmteam dokumentiert, spreche ich mit der dritten Person aus dem Team. Ich frage sie leise, ob der Mensch, der den Stein mitverlegt, Gunter Demnig ist. „Wer?“ fragt sie. „Der Künstler und Initiator des Projekts“ antworte ich gedämpft. Dann grinst sie „Nee!“ und erklärt, dass es sich bei dem älteren Mann um einen Zeitzer handelt, Herrn B., der sich ehrenamtlich für die Verlegungen engagiert. Die Studentin erzählt weiter, dass sie ihn bereits interviewt hätten und dass er vermutet, dass hinter dem Raub rechte Strukturen stecken, Mitglieder von den Jungen Nationalisten oder einige von den nazistischen Siedlern aus dem Umland.

Vor der Kamera wolle er darüber nicht reden, er wolle keine falschen Informationen verbreiten, weil offiziell Anzeige gegen Unbekannt bestünde. Ich sage, dass es absurd sei, wie zurückhaltend in den Medien über organisierte rechtsextreme Gruppen und die klaren antisemitischen und geschichtsrevisionistischen Motive gesprochen wird. Sie entgegnet mir prompt, dass der Bürgermeister bei seinem Interview hinsichtlich der Frage nach zukünftigen Präventionsmaßnahmen gegen antisemitische Gewalt zur Antwort gab, dass es in Zeitz kein Antisemitismusproblem gäbe.

Die Stadtarbeiter verlegen den neuen Messingstein und ich nehme den 3D-Druck in die Hand. Er ist so leicht wie eine leere Pappschachtel. Herr B. erzählt, dass die Kunststoffsteine ins Leipziger Stadtarchiv kommen. Ich frage ihn, was er glaubt, was mit den gestohlenen Stolpersteinen passiert ist und er erwidert knapp, dass alle das gerne wissen würden. Ich erzähle ihm nicht von meinen Fantasien, wie die Stolpersteine in eine große sackige Sporttasche geschmissen werden und gegeneinanderstoßen, wie mit ihnen Fenster von verlassenen Häusern eingeschlagen werden, wie sie langsam in einem Flussbett versinken oder als Trophäen in einem dunklen feuchten Keller liegen.

Die beiden Stadtarbeiter verschließen die Lücken im Boden mit Kiesel. Das Filmteam interviewt Herrn B. ein weiteres Mal. Jetzt wollen sie auch mich interviewen, sie bräuchten noch jemanden außer ihn im Film, Herr B. bejaht mit Nachdruck, also stimme ich zu. Dann fragt Herr B. wieder in die Runde, wie es sein könne, dass über 50‘000 Euro Spenden für die neuen Steine gesammelt wurden und trotzdem kaum jemand zu den Verlegungen erscheint, dabei bleibt sein Blick freundlich und unfixiert in der Luft hängen.

Vor der Kamera entfallen mir die Worte. Ich sage etwas über die Systematik hinter dem Raub, dass das „einfach krass“ sei, aber „vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Lage“ nicht überraschend. Welche Lage? Während ich rede, ertappe ich mich dabei, dass ich die Worte Antisemitismus, rechte Gewalt oder Rechtsextremismus meide. Die Studentin stellt mir immer mehr Fragen, ich merke, dass sie nach den klaren Formulierungen sucht, die ich in unserem privaten Gespräch verwendet hatte, aber sie entgleiten mir. Während ich rede, macht sich eine Fassungslosigkeit in mir breit, eine Art Unglaube darüber, dass ich eigentlich gar nichts sage.

Der Student hinter der Kamera nickt meiner Interviewpartnerin zu und wir beenden das Gespräch.

Herr B. verabschiedet sich, er bräuchte eine Pause bis zur nächsten Verlegung. Auch das Filmteam packt zusammen und belädt den silbernen PKW mit seinem Equipment. Ich suche mir die nächste Bahn heraus und fahre zurück nach Halle.

Dort fallen mir, während ich in den folgenden Tagen durch die Straßen spaziere, überall Lücken im Pflaster auf. Alle paar Meter fehlen kleine Pflastersteine, mal nur einer, dort sehe ich ein kleines quadratisches dunkles Loch im Boden. Mal sind die Stellen größer, mehrere Steine fehlen, und der Boden ist aufgewühlt und sandig.

Auch in Halle wurden im gleichen Zeitraum fünf Stolpersteine im Gedenken an die Familie Brilling aus der Landsbergerstraße gestohlen. Die Familie wurde nach Auschwitz deportiert und vier von ihnen dort ermordet. Der Verein „Zeitgeschichte(n) e. V.“ hatte Anzeige erstattet, den Fall aber nicht publik gemacht, um potenzielle Nachahmung zu verhindern und die Angehörigen der Familie zu schützen.
Bis die gestohlenen Stolpersteine ersetzt wurden, versiegelte die Stadt den Boden über einen Monat lang mit gewöhnlichen Pflastersteinen. Während meiner gesamten Recherche ließ mich dieses Sinnbild für den öffentlichen Umgang mit rechtsextremer Gewalt nicht los: Der Boden wird geebnet, die Lücke gefüllt, alles versiegelt und unsichtbar gemacht – damit niemand wirklich stolpert.
Bis der neue, glänzende Messingstein als Symbol gelungener Erinnerungskultur wieder vor das Haus gesetzt wird.

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