Kein Vergeben. Kein Vergessen!

"Wir fordern das Durchbrechen des Schweigens"

von | veröffentlicht am 19.06 2019

Am 12. August diesen Jahres findet in Merseburg eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 40. Todestages von Delfin Guerra und Raúl García Paret statt. Mit einem Offenen Brief wendet sich die neugegründete „Initiative 12. August“ an den Oberbürgermeister Merseburgs mit der Forderung, einen öffentlichen Gedenkort in Form einer Gedenkplakette an der heutigen Neumarktbrücke, dem damaligen Tatort, zu errichten. Sie will damit das Schweigen in der Stadt brechen, die noch immer ausstehende Aufarbeitung der Fälle und damit einhergehend die juristische Belangung der Täter*innen erwirken.
Wir als NSU-Komplex auflösen Halle unterstützen diese Forderungen ausdrücklich und versuchen im Folgenden, die strukturelle Kontinuität rassistischer Gewalt sowie des staatlichen Versagens diesbezüglich von der DDR bis zum NSU-Komplex und darüber hinaus zu veranschaulichen.




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Vom Umgang mit Betroffenen und Angehörigen… 

Erst im Laufe der MDR- Recherchen der Journalisten Christian Bergmann und Tom Fugmann erfuhren die Angehörigen von Raúl García Paret und Delfin Guerra von den tatsächlichen Umständen der beiden Todesfälle. In den Berichten betrauern sie den Verlust ihres Sohnes und Bruders und fordern eindringlich Aufklärung und Gerechtigkeit! Diese Forderung wurde bis heute – 40 Jahre später – von den Ermittlungsbehörden nicht gehört. Im Jahr 2016 prüfte die Staatsanwaltschaft Halle als Reaktion auf die MDR-Dokumentationen die Wiederaufnahme der Ermittlungsverfahren. Sie stellte diese jedoch mit einer in sich widersprüchlichen Begründung wieder ein, da es keine hinreichenden Anhaltspunkte für Mord gäbe und sie mögliche Ermittlungen als „uferlos“ abwinkte.

Die unwürdige Haltung gegenüber Betroffenen zeigt sich aber nicht nur im Umgang mit den Angehörigen, sondern auch mit den Todesopfern selbst. Das in Merseburg weit verbreitete Narrativ, das auch in der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Halle verwendet wird, es sei bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen um Frauen gegangen und viel Alkohol im Spiel gewesen, dient zum einen der Legitimierung der grausamen Taten, verschleiert zum anderen aber auch das eigentliche, rassistische Tatmotiv. Durch diese unhinterfragte Reproduktion rassistischer Stereotype wird zudem eine Täter-Opfer-Umkehr vorgenommen und die Täter*innenperspektive gestärkt. Ebendiese Täter-Opfer-Umkehr führte dazu, dass einige kubanische Vertragsarbeiter nach den Todesfällen umgehend nach Kuba abgeschoben und ohne jeglichen Prozess inhaftiert wurden, die eigentlichen Täter*innen aber weiterhin auf freiem Fuß blieben, wie in den MDR-Recherchen berichtet wird.

Die Kontinuität dieses strukturellen Rassismus in deutschen Behörden bis heute, lässt sich besonders deutlich am Umgang mit den Opfern des NSU-Komplexes, die überwiegend ebenfalls als Gastarbeiter in die BRD kamen, erkennen. Auch hier wurden rassistische Stereotype zur Argumentationsgrundlage, um die Betroffenen und Angehörigen während der Ermittlungen als vermeintliche Täter*innen zu verleumden und den Opfern Verstrickungen in kriminelle Milieus zu unterstellen. Nur so konnten für eine viel zu lange Zeit die Stimmen der Betroffenen, die bereits 2006 das rassistische Tatmotiv erkannten und „Kein 10. Opfer!“ forderten (https://www.youtube.com/watch?v=ILTB-TPC7RY&t=110s), konsequent ignoriert und die Schuld bei den Betroffenen selbst gesucht werden.

… über den Schutz der (Mit)Täter*innen…

Die Lebensrealität der Vertragsarbeiter*innen in der DDR war geprägt durch eine anhaltende rassistische Stimmung, Ausgrenzung und Anfeindung. Auch Raúl García Paret und Delfin Guerra, die als kubanische Vertragsarbeiter in Merseburg lebten, waren  alltäglichen Erniedrigungen und Diskriminierung ausgesetzt, wie der Freund der beiden Marcelo Figueroa in den Dokus berichtet.

Am 12. August 1979 brach sich der Rassismus dann in einem massiven Ausmaß erneut Bahn, als die beiden Männer von einem gewalttätigen, rassistischen Mob durch die Stadt gejagt wurden und letztlich mit ihrem Leben bezahlen mussten. Der genaue Tathergang ist bis heute nicht vollumfänglich aufgeklärt, da die damaligen Ermittlungen eingestellt, seither nicht mehr aufgenommen und die Täter*innen bis heute nicht belangt wurden.

Das Desinteresse der DDR-Behörden, diesen Fall aufzuklären und die Täter*innen zu verurteilen, steht wohl klar im Zusammenhang mit einem staatlich auferlegten Antifaschismus, der schlichtweg die Existenz von Rassismus und Faschismus in der sozialistischen Gesellschaft verneinte und somit auch keine Handlungsstrategien gegen diese Erscheinungsformen besaß, obwohl sie alltäglich waren. Dieser Widerspruch wird im Umgang mit den Täter*innen in Merseburg deutlich sichtbar, da diese sich schon damals mit ihren Taten brüsten konnten, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen. Eine Frau, die in ihrer damaligen Vernehmung beispielsweise zugab, mit einer Flasche eine im Wasser schwimmende Person getroffen zu haben und sie dadurch unter Wasser geriet, musste für dieses implizite Schuldeingeständnis bis heute keinerlei Konsequenzen tragen. Die beharrliche Verleugnung eines Mordverdachts durch die Staatsanwaltschaft Halle zeigt, dass die Täter*innen auch heute noch durch  die Sicherheitsbehörden geschützt werden. Staatsanwaltschaft und Politik scheinen nicht willens zu sein, Aufklärung zu leisten. Gerade die Staatsanwaltschaft Halle, die zurecht wiederholt für ihren Umgang mit rassistisch und rechtsextrem motivierten Straftaten in der Kritik steht, macht sich mit den Täter*innen gemein und scheint als Schwester im Geiste zu fungieren.

Hier reiht sich ebenfalls die fehlende Bereitschaft von Politiker*innen ein, eine angemessene Erinnerungskultur zu etablieren, öffentliche Gedenkorte für Betroffene zu schaffen und so das Bewusstsein für die Auswirkungen rechter und rassistischer Gewalttaten zu stärken. So teilte der OB Merseburgs Jens Bühlingen der MZ mit, er werde der Bitte der Initiative 12. August, eine Gedenkplakette anbringen zu lassen, nicht nachkommen, da es zu viele Unklarheiten bezüglich der Todesfälle gäbe. Auch die „Initiative 6. April“ in Kassel kämpft seit Jahren vergebens darum, die Hollandstraße in Halit-Straße umbenennen zu lassen, und so ein öffentliches Gedenken an Halit Yozgat – eines der NSU-Opfer – zu ermöglichen.

… bis hin zu den heutigen Auswirkungen.

Menschen, die als Vertragsarbeiter*innen in die DDR bzw. als Gastarbeiter*innen in die BRD kamen, stellten für weite Teile der mehrheitsweißen Gesellschaft etwas Fremdes und häufig Unerwünschtes dar. Die fehlende Aufarbeitung von Rassismus hat bis heute weitreichende Folgen; das zeigen nicht nur die zahlreichen gewalttätigen Übergriffe, pogromartigen Hetzjagden und rassistisch motivierten Todesfälle in beiden Teilen Deutschlands vor 1990, die darauffolgenden massiven Gewaltausschreitungen in den 90er Jahren und die Anschlags- und Mordserie des NSU, sondern auch das gesellschaftliche Schweigen zu bestehenden rechtsextremen Netzwerken wie der Terrorgruppe „Revolution Chemnitz“, dem in polizeilichen Kreisen entstandenen „NSU 2.0“, sowie des rechtsextremen Vereins Uniter um den Bundeswehrsoldaten „Hannibal“. Gerade bei den beiden Letzteren zeigen sich die Verstrickungen mit staatlichen Strukturen in erschreckendem Ausmaß.

Durch die Alternative für Deutschland (AfD) wird diese Menschenfeindlichkeit nicht nur wieder salonfähig gemacht und in die Mitte der Gesellschaft getragen, sondern sie funktionieren gleichzeitig als verlängerter Arm, um die Ideologien ebendieser gewaltbereiten und lebensgefährlichen Rassist*innen und Rechtsextremen in Parlamenten zu festigen. Dass die Partei ihre mit Abstand größten Erfolge in den neuen Bundesländern feiert, kann in Teilen als Erbe des verfehlten Antifaschismus‘ und des tolerierten Rassismus‘ in der DDR gelesen werden.

Rassistisch und rechtsextrem motivierte Gewaltausschreitungen und Morde sind keine Einzelfälle, sondern letztlich logische Konsequenz des Zusammenwirkens der Täter*innen, der fehlenden Aufklärung, des strukturellen Rassismus der deutschen Behörden sowie der schweigenden Öffentlichkeit. Das Fortbestehen strukturellen Rassismus‘ in der Gesellschaft und den Behörden von DDR bis heute zeigt sich bereits in den hier lediglich skizzierten Parallelen erschreckend deutlich auf.

 

Wir sehen es als unsere Aufgabe, den Betroffenen zu zuhören und ihren Worten Taten folgen zu lassen.

Wir fordern deshalb gesellschaftliche Solidarität mit Betroffenen rassistischer und rechtsextremer Gewalt.

Wir fordern ein angemessenes Gedenken und die Errichtung öffentlicher Gedenkorte für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt.

Wir fordern umfängliche juristische Aufklärung der noch immer nicht ausreichend ermittelten Todesfälle.

Wir fordern das Ende des Täter*innenschutzes durch deutsche Behörden.

 

Wir fordern das Durchbrechen des Schweigens!

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.