Kein Traum

Bevor alles begann und nachdem auch der Letzte aufgehört hatte die vereinzelten Tropfen zu zählen, setzt leiser Regen ein. Die Welt ist grau. Wir nehmen es wahr.
Wie ein tiefer Atemzug, der sich vor der Schönheit eines Moments zu ergeben bereit ist, rauscht Wasser beständig über die Straßen. Es ist kalt. Wir nehmen es wahr.
Absätze hatschen über die Pflaster und Platten. Autos hupen, Taschen platzen. Wir nehmen es wahr.
Unter dem Dach sammeln sich geknickte Schirme, nasse Kleider, hängende Gesichter und ein Hund. Ein Mann lässt die Luft aus seinen Backen. Ein kleines Mädchen patscht in einer Pfütze von ihren Fersen auf ihre Hacken. Sie alle dicht an dicht in einem dunklen Viereck. Der Hund ganz vorn. Er hechelt zufrieden. Wir nehmen es wahr.
Eine junge Frau eilt herbei und rettet sich unter die schmale Kante der Werbetafel. Sie trocknet hastig eine Hand an einer ihrer Kniekehlen, dann das Display ihres Handys mit der Anderen. Sie zieht sich die Kapuze ins Gesicht und greift in ihren Mantel. Wir nehmen es wahr.
Die junge Frau legt das Skript auf den Küchentisch und zapft sich ein Glas Leitungswasser. Sie lässt die Holzdielen knarksen, während sie langsam durch die Wohnung schleift. Im Flur schlüpft sie in ein Paar weiche Hausschuhe und stellt das Glas in ein Bücherregal. Autoren stehen dort neben abgegriffenen Prospekten. Sie blättert in der letzten Briefpost. Die Teekanne pfeift. Wir nehmen es wahr.
Auf dem Weg ins Bad zieht sie ihre Bluse aus. Der Frühling beginnt. Ihr Blick trübt sich ein. Der Raum füllt sich langsam mit heißem Dampf. Wir nehmen es wahr.
Der Mann mit den aufgepusteten Backen aus dem dunklen Viereck streckt seinen Kopf ins Nass. Er weist die junge Frau auf einen freien Platz hinter ihm hin und zieht den Reißverschluss seiner Jacke ganz nach oben. Wir nehmen es wahr.
Der Mann neben ihm im Anzug spitzt kurz und formell die Lippen und fasst dabei den Henkel seines Aktenkoffers nach. Die Mutter des kleinen Mädchens hat nun zusehends Mühe ihre Tochter im Zaum zu halten. Sie zieht erst an ihrer Hand und dann etwas fester an ihrem Ranzen. Der Hund ist nass und hechelt zufrieden. Wir nehmen es wahr.
Die junge Frau pausiert eine Sprachnachricht und legt ihr Handy zurück auf den Wäschekorb. Sie schlägt sich ein großes Handtuch um ihre Hüften und schaut angestrengt. Mit einem Stift notiert sie „Kein Traum“ auf die Stirn ihres Spiegelbilds und beginnt zu hauchen bis der Spiegel beschlägt. Danach sitzt sie mit einem Tee und einer Zigarette auf einer Matte im Flur. Es ist still. Wir nehmen es wahr.
Ein Bus biegt ein und kommt vor dem dunklen Viereck zum stehen. Sie trampeln hinein. Der Hund schüttelt sich aus. Das Mädchen lacht. Wir nehmen es wahr.
Das Skript liegt auf ihrer Matte. Die junge Frau daneben. Das Handtuch ist jetzt auf ihren Kopf gebunden. Sie beginnt die nächsten Zeilen im Kopf zu sprechen. Einer der Sätze bleibt seltsam kleben. Ihre Brust wird etwas schwer. Sie versucht mit einem Mal sehr viel ruhiger zu atmen. Die Autoren wirken nun seltsam bedrohlich. Alles drängt sich plötzlich auf. Wir nehmen es wahr.
Die Dielen sind morsch, die Rahmen sind schief. Der Spaziergang am Morgen auf einmal furchtbar kurz, das Gespräch mit ihrer Mutter nur undankbar, das Skript nun fremd. Wir nehmen es wahr.
Ihre Handflächen werden nass. Die Frau legt das Heft zur Seite. Ihre Blicke hasten. Sie schließt ihre Augen. Ihr Atmen wird flacher. Ihre Gedanken verschwimmen. Ihr Herz schlägt schnell. Wir nehmen es wahr.
Die junge Frau beginnt nun sanft ihren Nacken zu streicheln. Ihre Augen öffnen sich. Sie atmet tief. Sie legt sich flach auf ihre Matte. Sie atmet wieder. Bald krümmen sich ihre Zehen. Sie atmet wieder. Sie atmet wieder. Wir nehmen es wahr.
Als sich ihre Knie nun berühren, schiebt sie das Skript ganz von sich weg. Ihre Hände ballen sich zur Faust. Sie atmet wieder. Sie atmet wieder. Wir nehmen es wahr.
Ihr Atmen hört auf. Ihre Hände verkrampfen. Alle steigen sie aus. Der Bus fährt los. Der Hund hechelt noch einmal zufrieden. Der Regen hört auf. Wir nehmen es wahr.

